50 Jahre Kanzler Willy Brandt: Er gründete die Bundesrepublik ein zweites Mal
Genau 50 Jahre ist es her, dass Willy Brandt Kanzler wurde – eine Zäsur für die Bundesrepublik: Sein Mut leitete eine weltpolitische Wende ein. Ein Kommentar.
Es war ein historischer Moment. Die ihn erlebten, konnten das damals nicht ermessen. Heute wissen wir: Mit Willy Brandts erster Regierungserklärung im Bundestag am 28. Oktober 1969 begann eine neue Ära für die Bundesrepublik und am Ende sogar für ganz Deutschland.
Eine Woche vor dieser Rede, am 21. Oktober, am Montag vor 50 Jahren, wurde er zum ersten sozialdemokratischen Kanzler gewählt. Wenn man sich alte Fernsehaufnahmen dieser Rede anschaut, spürt man, wie sehr Brandts Worte, seine Diktion, sein Anspruch, die bis dahin dominierenden politischen Kräfte, die CDU und die CSU, erschütterten.
Mehr Demokratie wagen – das klang wie die schiere Provokation, wie der massive Vorwurf, bis dahin, in den zwanzig Jahren Bundesrepublik seit 1949, habe eben nicht genug Demokratie geherrscht.
Und noch mehr der Satz „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an“ brachte konservative Politiker wie Franz Josef Strauß und Rainer Barzel zur Weißglut.
Rhetorisch mag diese Regierungserklärung kein Meisterstück gewesen sein. Zu viel musste da erwähnt, gefordert, versprochen werden. Aber den Geist des Aufbruchs, den entschiedenen Willen zum Neubeginn, den spürte man damals, und den empfindet man heute noch.
Wie NS-belastet der Beamtenapparat war, wurde erst im Lauf der Zeit deutlich
Seit dem 8. Mai 1945 waren 24 Jahre vergangen. Der Krieg hatte mit der bedingungslosen Kapitulation, aber nicht etwa mit der Ablösung der alten Eliten geendet.
Natürlich waren es überzeugte Demokraten, die ab 1949 die Regierungsgeschäfte führten. Aber wie NS-belastet der Beamtenapparat war, wurde erst im Lauf der Zeit deutlich, zum Beispiel bei der Aufarbeitung der Personalunterlagen des Justizministeriums.
Der Bundeskanzler, Kurt-Georg Kiesinger, war NSDAP-Mitglied gewesen – aus heutiger Sicht unvorstellbar.
Und dass die deutsche Wehrmacht nicht so untadelig, wie damals behauptet wurde, aus dem Krieg zurückkam, das erfuhren wir Nachgeborenen erst durch die Ausstellungen über die Kriegsverbrechen der Wehrmacht in den Neunziger Jahren. Nun war ein Mann Kanzler, der die NS-Zeit im skandinavischen Exil verbracht hatte. Das adelte ihn nicht etwa wegen seiner demokratischen Gesinnung. Das wurde ihm zum Vorwurf gemacht. Auch dies heute: unvorstellbar.
Vielleicht musste ein solcher Politiker kommen, um die europa-politische und welthistorische Wendung einzuleiten, die Willy Brandt – und sein Außenminister Walter Scheel – mit der Ostpolitik begannen.
Die Westbindung hatte Konrad Adenauer durchgesetzt, gegen vielfältige Versuche, eine Wiedervereinigung um den Preis der Neutralisierung zu erlangen. Nun kam der Teil der Realpolitik, der viel Mut und Standhaftigkeit gegen bestehende Machtstrukturen erforderte.
Heute wissen wir: Ohne Brandts Politik keine Wiedervereinigung
Das war die Anerkennung der durch den Krieg und die deutsche Niederlage entstandene Neuordnung Ost-Mittel-Europas. Das war der deutsche Verzicht auf jene Gebiete, die nun zu Polen oder zur Tschechoslowakei gehörten. Es war vor allem das Schuldeingeständnis, das Willy Brandt durch den Kniefall in Warschau so hochemotional dokumentierte.
Im Rückblick ist es unvorstellbar, dass bis in die frühen Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts maßgebliche Politiker in der Bundesrepublik den Eindruck verbreiteten, eine Revision der bestehenden Grenzen sei möglich.
Heute wissen wir, dass der ganze KSZE-Prozess, die Umwälzungen im früheren Machtbereich der Sowjetunion und die deutsche Wiedervereinigung nicht ohne jene außenpolitischen Voraussetzungen möglich gewesen wären, die durch die Brandt/Scheelsche Ostpolitik geschaffen wurden. Einen Neustart Deutschlands hätte es ohne den Machtwechsel des Jahres 1969 nicht gegeben. Dass die Westdeutschen diese neue Zeit wollten, zeigten die vorgezogenen Wahlen 1972, nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Brandt: Bei einer nie wieder erreichten Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent kam die SPD auf ihr bestes Ergebnis überhaupt.