Tag der Deutschen Einheit: Wir brauchen wieder das Herzblut des Wendejahres
Neue Ideen sind gefragt: Der Tag der Deutschen Einheit ist kein Tag der Herzen. Aber von den Erfahrungen der Ostdeutschen können alle lernen. Ein Kommentar.
Nun ja, der 3. Oktober. Ein historischer Tag, der sich nicht historisch anfühlt. Weil das Datum 1990 den Verwaltungsakt markierte, als die revolutionäre DDR ganz unrevolutionär der Bundesrepublik beitrat (kurz vorm 41. DDR-Geburtstag). Ein Feiertag, der Jahr für Jahr vor aller Augen führt, dass Deutschland noch nicht einig ist – wirtschaftlich nicht, politisch nicht, gefühlt sowieso nicht. Ein Tag, der diesmal offiziell in Kiel begangen wird mit einer Art Hafenfete, deren Werbung anmutet, als werde die Einheit von Schleswig und Holstein gefeiert.
Der Tag der Deutschen Einheit ist kein Tag der Herzen. Aber heute, auch morgen können wir uns daran erinnern, wie viel Herzblut in der Einheit steckt. Und wie viel Deutschland von mutigen Menschen insbesondere im Ostteil des Landes und seiner Hauptstadt lernen kann. Von denen, die sich Risiken ausgesetzt haben: wirtschaftlichen, politischen, gefühlten. Gerade im politisch aufgeladenen Mauerfall-Gedenkjahr schauen viele Augen wieder öfter ostwärts. So treffen sich Blicke.
Klar, viele Regionen zwischen Ostsee und Erzgebirge kämpfen noch mit der Massenabwanderung vor und nach der Maueröffnung in Richtung Westen; ebenso mit dem rasenden Abbau der Industrie nach 1990 und daraus resultierenden Angstgefühlen. Diese schlagen bis heute durch, da die AfD die Geschlagenen der Einheit populistisch einzusammeln trachtet. Wenn in der Lausitz die letzten Kohlebagger ins Industriemuseum geschaufelt werden, erwachsen aus alten Ängsten neue.
Folge der Verwerfungen ist eine zerklüftete politische Landschaft: In Thüringen müssen Wechselwähler dem linken Ministerpräsidenten ihre Stimme geben, wenn sie die hier besonders rechtsextrem geprägte AfD als stärkste Partei verhindern wollen. Wer hätte das gedacht: Die Linke, Nach-Nach-Nach-Nachfolgerin der DDR-Staatspartei SED, ist Teil des ostdeutschen Establishments. Sie galt im Wahlkampf in Brandenburg sogar der CDU als koalitionsfähig, die ihr einst plakativ die roten Socken überstülpte. Aktuell wird in Sachsen und Brandenburg an neuen Kenia-Bündnissen aus SPD, CDU und Grünen gebastelt. Improvisation ist Alltag in Ostdeutschland – wie ständig seit dem Umbruch. Das ist beispielgebend für alle. Denn der nächste Umbruch ist längst da.
Wenn bald Roboter viele Arbeiten ausführen, die jetzt noch Menschen erledigen, wenn Algorithmen noch stärker die Kommunikation bestimmen, wenn das Klima sich auch gesellschaftlich erhitzt, wandeln sich Regionen aller Himmelsrichtungen. Selbst tief im Westen fühlt sich mancher als Verlierer. In der Autoindustrie, einst Zündschlüssel des Wirtschaftswunders, fallen in den nächsten Jahren wohl 100.000 Jobs weg.
Politik muss helfen: mit Ermutigung zum Mutigsein
Neue Ideen müssen her, die Unterhalt sichern und Zusammenhalt. Im Osten wurde viel Erfahrung gesammelt: Rufbusse ersetzen den kaputtgesparten Zugverkehr, Teleärzte die geschlossenen Polikliniken. Wirtschaft und demokratische Gesellschaft suchen sich kleine Cluster, um zu wachsen. Und Politik muss helfen: mit digitaler Infrastruktur, mit sozialer Unterstützung, mit Ermutigung zum Mutigsein. Nur so bleibt eine zersplitternde Gesellschaft beieinander.
Improvisieren haben die Ostdeutschen schon in der DDR lernen müssen. Nach der Zeitenwende haben sie über Nacht ihr Leben neu geordnet. Dem ganzen Land steht das Gleiche bevor. Es hat etwas mehr Zeit. Und einen riesigen Erfahrungsschatz. Ihn endlich zu heben, wäre gelebte deutsche Einheit. Ein Gewinn für uns alle.