Ökonom Dennis Snower: „Umverteilung bringt einfach zu wenig“
Dennis Snower ist einer der bekanntesten Ökonomen des Landes – und einer der bestanalysierten Männer, dank seiner Frau, einer Psychologin. Warum er nichts vom Sozialstaat hält. Und was er stattdessen vorschlägt.
Herr Snower, Sie haben in Ihrem Berufsleben viele hochrangige Politiker beraten: Tony Blair, Bill Clinton, Angela Merkel, José Manuel Barroso von der EU-Kommission. Wie gehen Sie vor – schreiben Sie Konzepte oder instruieren Sie Ministerialbeamte?
Nein, damit Beratung fruchtet, muss man mit den Politikern persönlich sprechen. Ich erlebe die meisten als sehr zugänglich. Man muss nur darauf gefasst sein, dass sie die Ratschläge nicht umsetzen. Sie tun das, wovon sie glauben, damit die nächsten Wahlen zu gewinnen. So ist die Politik. Zum Beispiel habe ich mit Gerhard Schröder, als er noch Kanzler war, lange über Reformen des deutschen Sozialstaats gesprochen. Er war wirklich interessiert an meinen Ideen. Letztlich meinte er, das Ganze sei für ihn komplett irrelevant, weil es nicht kommunizierbar sei. Damals begriff ich: Statt zu erklären, wie es funktioniert, hätte ich ihm erklären sollen, wie man es kommuniziert. Heute beherzige ich das.
Welcher Politiker war besonders offen für Ihren wissenschaftlichen Rat?
Kann ich so nicht sagen. Moment, da fällt mir eine Szene ein. Ich hielt bei einem Dinner in Amsterdam eine Rede, anschließend setzte sich ein Mann zu mir. Er sagte, er habe eine Frage zu einem zwei Jahre alten Papier von mir: Ob ich ihm helfen könne, die Gleichung auf Seite 14 herzuleiten. Wir beugten uns zusammen darüber. Nach 20 Minuten fragte ich ihn, wer er sei. Er sagte, er sei der Finanzminister. Ich war sprachlos. Nie wieder bin ich in der Politik einem begegnet, der so sehr in meiner Welt zu Hause war
Eine Welt der Zahlen.
Seiten voller Gleichungen. Total unleserlich! Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich verlange von keinem Politiker, dass er das nachrechnet.
Ihr Institut für Weltwirtschaft in Kiel erstellt für die Bundesregierung als eines von fünf Wirtschaftsforschungsinstituten die halbjährliche Konjunkturprognose, die eigentlich nie stimmt. Warum wird so ein Aufwand getrieben, wenn man sich sowieso nicht danach richten kann?
Das Wachstum, das ein Land zusätzlich erreichen kann, hängt zu 80 Prozent von Innovationen ab – und die sind nicht vorhersehbar. Aber ein Land, das Steuern erhebt, hohe Ausgaben hat, kann nicht einfach blind für wirtschaftliche Entwicklungen durch die Gegend taumeln. Und es gibt durchaus Regelmäßigkeiten, auf die man sich in den Prognosen stützen kann. Beispielsweise, dass sich ein Rückgang der Konjunktur in den USA nach gewisser Zeit auf Deutschland auswirkt.
Ihr Spezialgebiet ist Arbeitsmarktpolitik, die gerade viel debattiert wird. Berlins Bürgermeister Müller fordert ein solidarisches Grundeinkommen: 1500 Euro für jeden, der sich gemeinnützig engagiert, zum Beispiel Babys von Alleinerziehenden sittet oder Fußballtraining gibt. Halten Sie das für sinnvoll?
Das Problem ist, dass jemand, der etwas ehrenamtlich tut, von einem anderen Motiv angetrieben ist als jemand, der mehr oder weniger dazu gezwungen wird, um eine Grundsicherung zu bekommen. Motive sind sehr wichtig.
Also besser ein Grundeinkommen ohne Gegenleistung – den Babys zuliebe?
Auch schwierig. Wird ein bedingungsloses Grundeinkommen langfristig ausgezahlt, ist es nichts anderes als Unterstützung für Langzeitarbeitslose. Und das sind nicht diejenigen, die denken, okay, meine Grundbedürfnisse sind befriedigt, jetzt lese ich Philosophiebücher. Die meisten haben das Gefühl, dass sie das eigene Schicksal nicht mehr gestalten können, und das führt zu schweren Krisen.
Die „Zeit“ schrieb, dass Ihre Frau Sie darauf brachte, neue Größen in Ihre volkswirtschaftlichen Modelle einzubeziehen.
Beim ersten Date unterhielten wir uns lange. Ich erklärte ihr, was ich so mache als Ökonom. Damals nahm ich an, dass der Mensch davon getrieben ist, seinen Nutzen zu maximieren. Ich versuchte ihr anhand von bestimmten Modellen zu erklären, wieso manche Menschen lange in der Arbeitslosigkeit bleiben, obwohl dadurch weder der eigene materielle Nutzen noch der ihrer Arbeitgeber maximiert wird. Meine Frau war damals Krankenschwester, sie hörte mir die ganze Zeit brav zu, am Ende sagte sie: „Was für ein Unsinn!“
Als Krankenschwester arbeitete sie nicht, um ihren materiellen Nutzen zu maximieren.
Nicht in erster Linie. Später ist sie auf Psychologie umgestiegen. Anfangs musste ich mit einem gewissen Unbehagen ringen: In kürzester Zeit war ich wahrscheinlich einer der bestanalysierten Männer Europas. Es gab zwei Möglichkeiten: entweder darauf zu bestehen, dass sie ihr Wissen nur noch auf andere anwendet. Oder alles, was sie studierte, mitzustudieren. Ich entschied mich für das Zweite.
"Es soll Boni geben, aber auch Mali"
Seitdem fließt Psychologie in Ihre Arbeit ein?
Das hat noch lange gedauert, meine Frau sagt, zweieinhalb Jahrzehnte, in denen ich mich über sie lustig machte. Ihre Psychologie sei eine weiche Wissenschaft und meine Ökonomie eine harte.
Was an der Psychologie ist von Interesse für die Ökonomie?
Zum Beispiel, dass wir Menschen von verschiedenen Motiven getrieben sind: Fürsorge, Wut, Furcht, Leistungsdrang. In der Wirtschaft wird der Statuskampf überbetont. Wer ist der berühmteste Wissenschaftler, wer der CEO mit dem höchsten Bonus? Ein internationaler Wettstreit, in dem Benachteiligten nur die Rolle des ewigen Verlierers bleibt. Populisten machen sich das zunutze. In diesen Bewegungen sind alle Mitglieder der Gruppe weitgehend gleich: „Everyone is an American.“ Wer einem Populisten folgt, kann sich wohlfühlen als Gleicher unter Gleichen und nimmt dabei sogar in Kauf, dass sein Wohlstand leidet.
Klingt abstrakt. Was folgt für Sie daraus?
Dass wir uns Gedanken machen sollten, wie wir unser Umfeld so gestalten, dass nicht Konkurrenz und Konflikt begünstigt wird, sondern Kooperation. Ich arbeite mit Tania Singer zusammen …
... sie ist die Direktorin für Soziale Neurowissenschaft am Max-Planck-Institut …
… sie erforscht: Wie können wir das menschliche Gehirn so, ja, trainieren, dass es uns zur Zusammenarbeit bewegt? Der Homo sapiens ist nur so erfolgreich in der Evolution, weil er die Fähigkeit hat, mit vielen Menschen zu kooperieren. Bei den Affen klappt das in Verbänden von bis zu 50 Tieren. Werden es mehr, spalten sich Gruppen ab. Beim Menschen kann es Millionen geben, die zusammenhängen – vereint nur durch eine Flagge.
Singer untersucht auf dem Charité Campus Mitte anhand von Versuchspersonen den Einfluss von Meditation aufs Gehirn. Meditieren Sie mit und lassen sich anschließend in den Hirnscanner schieben?
Meditation ist ihr Ding, nicht meines. Mir geht es darum, beispielsweise neue Prozesse für internationale Verhandlungen zu entwickeln. Dass jedes Land seine Klimaziele bereits beschlossen hat, die beim Gipfeltreffen auf den Tisch kommen, wie es zurzeit praktiziert wird, ist schon mal ganz schlecht. Tania Singer und ich teilen den Grundgedanken, dass sich unsere Präferenzen nicht unveränderbar im Gehirn befinden wie Hardware in einem Computer, sondern im sozialen Umgang erst entstehen. Ein wichtiger Begriff dabei ist Compassion, Mitgefühl, das wir ausbilden sollten.
Sie sind beim Weltwirtschaftsforum in Davos anzutreffen, haben Aufsichtsratsmandate, sind im Beirat der Allianz. Die Gruppe, die die Wirtschaft antreibt, ist dem Menschenbild, das Ihnen vorschwebt, fern. Manche klagen Boni oder Abfindungen sogar ein, auch wenn sie erfolglos agieren.
Menschen sind vielseitig, und eine Seite ist der Egoismus. Ich bin der Ansicht, dass es Boni geben soll, aber auch Mali. Beides sollte eingezahlt werden auf ein Konto, das man erst nach zehn bis 15 Jahren auflösen kann. Oft bekomme ich darauf die eigennützige Antwort zu hören: Schön gedacht, Herr Professor, aber wir leben in einer Welt, in der andere Länder nur Boni zahlen. Wer kommt dann noch zu uns? Ich sage: Machen wir es trotzdem! Diejenigen, die nur Boni verdienen wollen, auch wenn sie ihnen nicht gebühren, wollen wir gar nicht haben. Das sind die, die Wirtschaftskrisen verursachen.
Oft studieren Menschen Wirtschaft, die eine materialistische Ader haben. Wie war es bei Ihnen?
Als Schüler wollte ich dasselbe tun wie meine Eltern: Kleider verkaufen auf der Mariahilfer Straße in Wien. Sie führten ein Modehaus für „Damen im gehobenen Mittelstand“. Ich fragte mich, welches Studienfach am relevantesten für meinen späteren Beruf wäre, und kam auf die Ökonomie. Ich ging nach Oxford, dort gab es Wirtschaft nur in der Kombination mit Philosophie und Politik. Es stellte sich heraus: Ich liebte die Philosophie und hasste die Ökonomie. Meine Eltern sagten, als Philosoph sei man wahrscheinlich nicht besonders gut im Kleiderverkaufen, als Politologe auch nicht. Sehen Sie, wie sehr das Umfeld einen steuert! So ging ich an die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät nach Princeton, um einen Doktor zu machen.
"Mein Vorschlag: Führen wir Sozialkonten ein"
Als Präsident der Initiative „Global Solutions“ planen Sie für Ende Mai in Berlin ein großes Symposium zu den Zukunftsfragen Klima, Digitalisierung, die multilaterale Weltordnung …
... unser Ziel ist es, in Berlin eine alljährliche Begleitkonferenz zum G-20-Gipfel zu etablieren, ein bisschen wie die Münchner Sicherheitskonferenz, nur für wirtschaftspolitische Themen. Ein Treffpunkt, um kluge Ideen auszutauschen in einer Welt voller grenzübergreifender Probleme. Nobelpreisträger wie George Akerlof haben schon zugesagt, Bundeskanzlerin Merkel, Finanzminister Scholz und Arundhathi Bhattacharya, die eine der größten Banken Indiens leitete. Die G 20 sind unser Adressat, weil sie sich um die Themen kümmern, die Kooperationen zwischen Ländern erfordern.
G 20 gilt vielen als globales Machtkartell, deswegen gab es in Hamburg auch solche Proteste.
Die Proteste gibt es regelmäßig, unter anderem, weil man damit leicht in die Schlagzeilen kommt und die Randalierer sich in einer großen Menschenmasse sicher fühlen. Aus unserer Sicht ist eine nachhaltige Strategie für die G 20, den sozialen wieder an den wirtschaftlichen Wohlstand zu koppeln.
Der naheliegende Weg dorthin ist, linke Parteien zu wählen, die Reichtum umverteilen.
Umverteilung bringt einfach zu wenig. In den meisten europäischen Ländern fließen nur zwischen 20 und 25 Prozent der Staatseinnahmen wirklich von den Reichen zu den Armen. Der Rest geht aus der rechten Tasche der Mittelschicht heraus und kommt in die linke Tasche der Mittelschicht wieder hinein. Zum Beispiel werden mit den Steuern der Mittelschicht Universitäten unterhalten, die vor allem die Kinder der Mittelschicht besuchen. Und wenn tatsächlich irgendwo mal nennenswerte Summen umverteilt werden, schadet das häufig der Wirtschaft, weil dadurch Anreize geschaffen werden, die produktivem Handeln entgegenstehen. Stattdessen müssen Benachteiligte mehr Möglichkeiten bekommen, Kompetenzen zu erwerben, um wieder Arbeit zu finden.
Im Hartz-IV-System, das zurzeit diskutiert wird, empfinden Betroffene insbesondere die Weiterbildungsmaßnahmen als entwürdigend. Beispielsweise Bewerbungstrainings mit Stilberatung. Wie schafft man es, dass die riesige Arbeitsmarktbürokratie weniger dieser Unsinnigkeiten erzeugt?
Ganz einfach: indem wir den Sozialstaat in heutiger Form längerfristig abschaffen. Mein Vorschlag: Führen wir stattdessen Sozialkonten ein. Jeder bekommt ein Beschäftigungskonto, ein Ausbildungskonto, ein Gesundheitskonto, ein Rentenkonto. Die Abgaben bleiben, wie sie sind. Doch jeder Euro, den ich für die Arbeitslosenversicherung zahle, geht künftig auf mein Beschäftigungskonto. Wenn ich Arbeitslosenhilfe beziehe, sind das in meinem System Auszahlungen von dem Konto.
Also ein gläserner Sozialstaat.
Nein, mehr als das, denn ich kann Geld von einem Konto auf ein anderes übertragen. Wenn ich arbeitslos werde, kann ich mir einen Beschäftigungsgutschein kaufen. Noch ein wichtiger Baustein meines Systems. Damit wird meine Arbeit subventioniert. Je länger ich arbeitslos bin, desto höher fällt diese Subvention aus. Ich werde als Arbeitskraft für den, der mich einstellt, immer billiger. Oder aber ich kann Geld von meinem Ausbildungskonto nehmen und mich weiterbilden. Auch hier gilt das Prinzip: Je länger eine Person arbeitslos ist, desto höher wird die Ausbildung vom Staat subventioniert. Jeder Mensch ist anders. Jeder weiß selbst am besten, wo seine Potenziale liegen.
Viele Konzerne aus dem Silicon Valley schreiben sich Weltverbesserung auf die Fahnen und letztlich geht es ihnen doch vor allem ums Geldverdienen, das zeigte der Datenskandal um Facebook. Sie, Herr Snower, wollen mit Unternehmen kooperieren. Sind das die richtigen Partner?
Facebook wäre nicht unser Partner. Abgesehen davon sagt die Wirtschaft zu Recht: Ich bin darauf ausgerichtet, Shareholder value zu maximieren. So sind die Regeln der Marktwirtschaft.
Wie wollen Sie Wirtschaftsführer für Ihre Ideen gewinnen? Deren Welt scheint weniger bestimmt von sozialem Gewissen als von Statusfragen.
Statusmerkmale ändern sich. Viele Sklaven zu haben, war mal ein echtes Statussymbol. Stellen in der Bibel wurden herangezogen, um das zu rechtfertigen. Dann kam das Menschenbild der Aufklärung. Auf einmal war Sklaverei ein Verbrechen.