Debatte um Grundeinkommen: Jede Menge Arbeit
Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde das Land völlig verändern. Sind die Pläne umsetzbar?
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat ein „solidarisches Grundeinkommen“ für gemeinnützige Tätigkeiten von Langzeitarbeitslosen vorgeschlagen. Begrifflich lehnt er sich dabei am „bedingungslosen Grundeinkommen“ an – formuliert aber eine Alternative, die Arbeit weiter zur Bedingung von Einkommen macht.
Was ist die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens?
Alle Bürger erhalten einen festen monatlichen Betrag zu ihrer Verfügung und können zusätzlich arbeiten – oder eben auch nicht. Die Höhe müsste gesellschaftlich und politisch ausgehandelt werden; oft wird plakativ von 1000 Euro monatlich gesprochen. Während die staatlich garantierte Grundsicherung heute grundsätzlich bedarfsorientiert und bedürftigkeitsgeprüft ist, soll das Grundeinkommen nicht an Bedingungen geknüpft sein. Es würde bestimmte staatliche Leistungen wie etwa das ALG II, Bafög, Elterngeld, Fortbildungszuschüsse oder die Finanzierung eines freiwilligen sozialen Jahrs, aber auch Steuerfreibeträge ersetzen und zusammenfassen – und an alle Bürger ausgezahlt werden. Letztlich sind viele dieser Leistungen Vorbilder und Vorstufen eines Grundeinkommens: gesicherte Einkünfte in Lebensphasen, in denen man wenig verdient, aber sich beruflich, familiär oder gesellschaftlich engagiert und entwickelt. Dahinter steht die Idee eines vorsorgenden Staates, der seine Bürger lebenslang unterstützt, aktiviert und fördert – und nicht nur in Notsituationen. Menschen in besonderen, zum Beispiel gesundheitlichen Notlagen blieben aber auf zusätzliche Hilfen angewiesen.
Wer sind die Befürworter, wer die Gegner?
Beide finden sich quer durch alle politischen Parteien – wobei die Befürworter in keiner Partei bisher eine Mehrheit für eine klare Forderung nach der Erprobung oder Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens gefunden haben. Die Grünen zum Beispiel streiten schon seit mehr als zehn Jahren immer wieder über die Idee. Der ehemalige CDU-Politiker Dieter Althaus plädierte schon als thüringischer Ministerpräsident vor zwölf Jahren für ein „partielles bedingungsloses Grundeinkommen“ als Kombination aus Grundrente, pauschaler Krankenversicherung und einer negativen Einkommensteuer.
SPD, Linke und Grüne diskutieren inzwischen, die Hartz-IV-Gesetze sanktionsfrei zu machen – quasi ein „bedingungsloses Hartz IV“, etwa ohne die Pflicht zu regelmäßigen Bewerbungen und Beratungen, ohne die Anrechnung von Immobilienbesitz oder Erbschaften. Andererseits kritisieren viele Arbeitsmarktpolitiker und Gewerkschafter an der Idee des Grundeinkommens, dass dann gerade langzeitarbeitslose Menschen für den Staat nicht mehr erreichbar sein könnten.
In der Wirtschaft gibt es neben dem anthroposophischen Unternehmer Götz W. Werner und dem Ökonomen Thomas Straubhaar viele Befürworter vor allem in der Digitalisierungs-Industrie – in Deutschland etwa Telekom-Chef Timotheus Höttges und Siemens-Chef Joe Kaeser. Neben der notwendigen ständigen Fort- und Weiterbildung scheinen für die Wirtschaft vor allem auch erhoffte positive Effekte für die Gesundheit und die Lebensarbeitszeit der Arbeitnehmer lukrativ, die in staatliche und gesellschaftliche Verantwortung delegiert werden könnten.
49 Prozent der deutschen Bevölkerung plädieren laut einer Erhebung des Sozio-ökonomischen Panels für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für eine Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens; 54 Prozent sind für eine Erprobung. 89 Prozent der Befragten erklärten in dieser Umfrage, dass sie weiter arbeiten würden, wenn ihnen ein Grundeinkommen garantiert würde.
Welche Erfahrungen gibt es schon?
Gesamtstaatliche Erfahrungen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen als Grundlage des Sozialsystems gibt es nicht – weil soziale und volkswirtschaftliche Folgen äußerst schwierig abzuschätzen sind, dürfte es auch eher zu einer sukzessiven Einführung über verschiedene Formen der Grundsicherung einerseits und der Bedingungslosigkeit andererseits kommen, die nach und nach zusammengeführt werden und irgendwann ein Grundeinkommen für alle Bürger bedeuten könnten.
In Finnland werden gerade in einem von Wissenschaftlern begleiteten Experiment 2000 zufällig ausgewählten Bürgern im Alter von 25 bis 58 Jahren für zwei Jahre monatlich 560 Euro ohne Bedingungen ausgezahlt – Arbeitslohn wird nicht auf die Grundleistung angerechnet. Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern soll damit der Weg in die bezahlte Arbeit erleichtert werden. In der kanadischen Stadt Ontario erhalten Menschen zwischen 18 und 65, die unterhalb der Armutsgrenze leben, für drei Jahre umgerechnet knapp 850 Euro. Streng genommen sind beide Experimente nicht wirklich „bedingungslos“ – weil die Bedürftigkeit der Teilnehmer und ihre Arbeitslosigkeit hier entscheidende Bedingungen sind; sie betreffen also nur eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Zu diesen Experimenten liegen noch keine Ergebnisse vor. Einzelne Teilnehmer berichten aber von großer Erleichterung und Befreiung auch bei der Jobsuche – nur wenige verzichten offenbar auf Arbeit.
Schon in den 60er und 70er Jahren haben einzelne Städte und Kommunen weltweit Grundeinkommen erprobt. 1974 erklärte sich die kanadische Stadt Dauphin zur „Stadt ohne Armut“ und gab 10000 Einwohnern ohne Bedürftigkeitsprüfung monatlich 100 Dollar, die mit weiteren Einnahmen normal versteuert werden mussten. Erst nach Jahrzehnten wurden die Forschungen dazu ausgewertet – ebenfalls mit dem Ergebnis, dass Gesundheitskosten gesenkt, das seelische und körperliche Wohlbefinden gestärkt werden konnte. Außerdem dehnten manche Bezieher ihre Familien- oder Ausbildungszeiten aus. Als „Labor der Menschheit“ gründete sich schon vor 50 Jahren die südindische Kleinstadt Auroville in Südindien – ohne Hierarchien und mit Grundeinkommen für alle. Sie funktioniert, im kleinen Rahmen, bis heute.
Unternehmen experimentieren mit einheitlichen Gehältern für alle ihre Arbeitnehmer oder auch mit selbstbestimmten Arbeits-, Frei- und Urlaubszeiten. Diese basieren, sofern sie nicht explizit als soziale und wirtschaftliche Experimente eines Konzerns angelegt und entsprechend abgesichert sind, vor allem in kleineren Betrieben meistens auf hoher Transparenz, Vertrauen – und einer entsprechend intensiven sozialen Kontrolle aller Beteiligten untereinander.
Wäre ein Grundeinkommen für jeden Bürger überhaupt finanzierbar?
Das ist die große Frage. Klar ist: Jeder größere Schritt in Richtung eines einheitlichen Grundeinkommens wäre kaum zu revidieren – anders als zahlreiche Einzelmaßnahmen, die politisch und gesetzlich immer wieder verändert, gesteuert oder auch zurückgenommen werden könnten. Sind die Sozialsysteme aber erst einmal grundlegend umgekrempelt, führt so schnell kein Weg zurück. Grundsätzlich soll zur Finanzierung eine Konzentration auf Konsum- und Kapitalsteuern dienen: also eine höhere Mehrwertsteuer bei möglicherweise niedrigeren Einkommensteuern, dazu könnten Finanztransaktionssteuern, Steuern auf Maschinenarbeit oder auf Datenhandel kommen. Grundeinkommens-Befürworter sprechen in diesem Zusammenhang gerne von „Sozialabgaben nicht nur auf menschliche Arbeit“. Das Grundeinkommen könnte ab einer bestimmten Höhe des Gesamteinkommens mit der Einkommensteuer verrechnet werden. Ökonomen gehen davon aus, dass der Konsum durch ein bedingungsloses Grundeinkommen deutlich anziehen würde – weil alle Menschen eine garantierte Sicherheit hätten und weil vor allem die unteren Einkommensgruppen und alle, die bisher keine Einkünfte haben, mehr Geld zur Verfügung hätten. Zudem wird argumentiert, dass erhebliche Bürokratiekosten (und -jobs) wegfielen und anders genutzt werden könnten, die heute durch die Beantragung, Bewilligung, Berechnung, Kontrolle und Sanktionierung verschiedenster Sozialleistungen gebunden sind.
Was hieße das für den Arbeitsmarkt?
Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre kein explizit arbeitsmarktpolitisches Instrument. Manche Grundeinkommens-Modelle gehen davon aus, dass im Zuge der Digitalisierung und der Maschinisierung immer weniger von Menschen gearbeitet werden muss. Andererseits liefern sie mit immer mehr persönlichen Daten den wichtigsten Rohstoff der Wirtschaft; bis heute fast kostenlos. Sicher ist, dass die Arbeit sich verändert und dass lebenslange Weiterbildung eine immer wichtigere Rolle spielen wird.
Über die gewährte finanzielle Grundlage hinaus kann und soll auch mit einem Grundeinkommen jeder arbeiten und zusätzlich verdienen, was er kann, will und schafft. Für alle, die genug verdienen, würde ein Grundeinkommen wie ein Steuerfreibetrag wirken. Kritiker fürchten, dass zu wenige Menschen noch arbeiten wollen, wenn sie erst eine finanzielle Grundlage haben.
Grundeinkommens-Befürworter wollen einerseits Zwang zur Arbeit vermeiden – auf der anderen Seite fassen sie den Arbeitsbegriff viel weiter: Neben der klassischen Erwerbsarbeit in Unternehmen und Behörden gehören gemeinwohlorientierte Aufgaben dazu, also gesellschaftliche Leistungen in der Familie, in der Nachbarschaft, für die Umwelt, soziale oder kulturelle Tätigkeiten. Durch gesicherte Mindesteinkommen sollen Menschen motiviert werden, sich gesellschaftlich zu beteiligen – sowohl nach heutigem Verständnis „Arbeitslose“ als auch Menschen, die etwa wegen Arbeitsüberlastung keine „ehrenamtlichen“ Tätigkeiten schaffen.
Wie bewegen sich die Parteien?
In der CDU wird Wert darauf gelegt, dass Sozialleistungen „aktivierend“ bleiben, also nicht zum Nichtstun verführen könnten. Uwe Schummer, Vorsitzender der Unions-Arbeitnehmergruppe im Bundestag, begrüßt Diskussionen über Grundeinkommen: „Die Hartz-IV-Gesetze sind Geschichte“, sagte er der „B.Z.“: „Wir brauchen eine neue beschäftigungs- und bildungszentrierte Arbeitsmarktpolitik.“ Die FDP will alle steuerfinanzierten Sozialleistungen zu einem „Bürgergeld“ zusammenfassen – weiterhin an die Bedingung der Bedürftigkeit gebunden. Vor diesem Hintergrund fürchtet Andrea Nahles (SPD) das Grundeinkommen letztlich als „Sozialabbauvariante“. Von Linken und Grünen, auch von Teilen der SPD, wird dagegen zunächst eine deutliche Erhöhung der Regelsätze zur Grundsicherung gefordert, außerdem wollen sie eine Kindergrundsicherung einführen – als festen Betrag pro Kind, der deutlich über dem Kindergeld läge und der Ungerechtigkeit begegnet, dass Gutverdiener über Kinderfreibeträge bei der Steuer mehr sparen, als Normalverdiener an Kindergeld bekommen.
Die SPD setzt auf weitere einzelne Maßnahmen. Neben Müllers Vorschlägen für beispielsweise zusätzliche Schulhausmeister und -sekretärinnen, Aufräumdienste, ÖPNV-Begleiter, Senioren- und Kinderbetreuung hat Nahles ein Bürger- oder Erwerbstätigenkonto vorgeschlagen, auf dem lebenslang jedem ein steuerfinanziertes Startguthaben von 15000 oder 20000 Euro für Familienzeiten, ehrenamtliches Engagement oder berufliche Neuorientierung zur Verfügung stünde. Auch das von der SPD geforderte Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit soll einer individuellen Nutzung der eigenen Lebenszeit zugunsten der Familie entgegenkommen. „Es ist absolut wichtig und richtig, dass wir endlich eine Debatte über die Zukunft der Arbeit führen“, sagt Yannick Haan, Sprecher des Forums Netzpolitik der Berliner SPD, „unsere Sicherungssysteme hängen im 20. Jahrhundert fest.“ Müllers „solidarisches Grundeinkommen“ geht ihm aber „nicht weit genug, weil es an der zentralen Frage stehen bleibt: Was bedeutet Arbeit und Teilhabe in der digitalen Gesellschaft?“
Was könnten nächste Schritte sein?
Die Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP in Schleswig-Holstein hat vereinbart, ein bedingungsloses Grundeinkommen zumindest miteinander zu diskutieren. Ziel sind dort aber wohl eher Bundesratsinitiativen, um überhaupt Modellversuche regional oder für bestimmte Bevölkerungsgruppen in Deutschland zu ermöglichen – oder auch eine Enquete- Kommission im Bundestag, die die Chancen und möglichen Folgen der Idee erforschen könnte.