Grips-Chef Volker Ludwig wird 80: "Sie nannten mich Stalinist, Maoist und Kinderschänder"
Grips-Chef Volker Ludwig hat sich mit "Linie 1" einen Welterfolg ausgedacht. Heute wird er 80 Jahre alt. Ein Gespräch über Latrinenlyrik, ironiefreie Lehrer und Wilmersdorfer Witwen in Korea.
Herr Ludwig, es soll tatsächlich Leute geben, die nie in „Linie 1“ waren.
Ja, es ist ulkig. Die genieren sich dann fürchterlich, das zu gestehen.
Mehr als 620.000 Zuschauer haben Ihr Jugendstück allein in Berlin gesehen, in 1723 Aufführungen. Ende April feiert es seinen 30. Geburtstag. Damals, als Sie „Linie 1“ schrieben, haben Sie da gemerkt, das wird ein Knaller?
Nein. Während des Schreibens schon gar nicht. Später, im Lauf der Proben, kriegte ich so ein Gefühl, dass das gar nicht schiefgehen kann, bei 150 Pointen. Die Schauspieler waren sehr unsicher. Eine halbfertige musikalische Revue mit 100 Kostümen war ihnen unheimlich. Einigen war es zu klamottig, anderen zu seicht, vielen zu chaotisch. Und dem Komponisten Birger Heymann war sein eigenes Lied peinlich. Zu kitschig. Dieses „Hey Du“, das viel später von den Beatsteaks und Sido gecovert wurde.
In den 90er Jahren sind Sie mit „Linie 1“ zum meistgespielten Autor nach Molière, Brecht und Shakespeare geworden.
Dabei dauerte es ein Jahr, bis sich ein Theater traute, uns nachzuspielen. Von Großkritikern wurde „Linie 1“ als „Boulevard“ niedergemacht, als reines Jugendtheater denunziert, Schauspieler wurden als halbprofessionell bezeichnet. All das hat auch dafür gesorgt, dass wir nicht zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden.
Dafür zum Mülheimer Dramatikerpreis.
Die Jury, die uns einstimmig krönte, wurde von der „Frankfurter Rundschau“ beschimpft, weil das Stück „Publikumsbedürfnisse bedient“ – als wäre das was Schlimmes. Die Laudatio hielt Ivan Nagel, der als Intendant in Stuttgart als Erster den Mut hatte, es nachzuspielen. In den folgenden Wochen haben gleich 15 andere Theater nachgezogen. Zehn Jahre später hatten es allein 150 deutschsprachige Bühnen inszeniert. „Linie 1“ hat dazu beigetragen, dass die Staatstheater in ihren Spielplänen etwas lockerer wurden.
Typisch deutsch, diese Trennung zwischen E und U. In anderen Ländern hatten Sie keine Probleme. „Linie 1“ wurde in 20 Ländern adaptiert, weltweit haben mehr als drei Millionen Menschen zugeschaut.
Am Tollsten war es in Korea, da wurde es das nationale Musical. Geschrieben vom koreanischen Bob Dylan, Kim Min-ki. Seoul hat ja auch eine Linie 1, die endet im Rotlichtviertel.
Dabei ist das Stück irre berlinerisch. Ihre Entdeckung, die berühmten Wilmersdorfer Witwen, diese Szene mit den erzreaktionären Frauen, die Hitler nachtrauern, ist doch nicht übertragbar!
In Korea wurden Diktatorenwitwen draus. In Vilnius haben sie aus der U-Bahn O-Busse gemacht, und aus den Wilmersdorfer Witwen frömmelnde Altstalinistinnen. Ich lernte schon bei den ersten Gastspielen in Dublin und London: Ich habe ein typisches Großstadtpanoptikum entworfen, das man in allen Metropolen der Welt wiedererkennt.
Seit der Uraufführung 1986 sind Systeme zerbrochen, die Mauer ist gefallen. „Linie 1“ bleibt ausverkauft. Es altert einfach nicht. Wie ist das möglich?
Das hat uns auch gewundert. Wir haben das Stück aktualisiert, haben aus „haste mal ne Mark?“ gemacht: „Haste mal nen Euro?“ und die Mauer rausgeschmissen. Die Schauspieler haben neue Gags dazu erfunden, es wurde immer länger und stimmte immer weniger. Inzwischen spielen wir wieder das Original von 86. Die ganzen Figuren gibt es heute noch. Sie stimmen nach wie vor.
Obwohl wir jetzt ganz anders kommunizieren. Das Mädchen im Stück hätte ihren Johnnyboy längst über Facebook gefunden.
Das stört keinen. Für unser Theater ist es wichtig, dass die Leute sich mit den Typen auf der Bühne identifizieren. Es gibt immer Mädchen, die von Zuhause abhauen und ihrem Lover hinterherreisen. Sie bleibt dann in der U-Bahn hängen und lernt so viele Menschen und Schicksale kennen, dass das ihr Leben verändert.
„Linie 1“ ist ein Klassiker. Liegt das auch an diesem Ort: der U-Bahn, die wir alle kennen, wo die Leute unausweichlich miteinander verbunden sind?
Einer im Stück sagt: „... dass alle die Menschen um uns rum um ihr Leben beschissen werden, und zwar von Leuten, die du nie in der U-Bahn triffst“. Das bezeichnet ein Lebensgefühl. Deutlich wird das in der Szene, in der die Kontrollettis kommen. Einer weigert sich, seinen Fahrschein zu zeigen, und das ganze Abteil, das sich vorher noch gestritten hat, übt den Aufstand. Nach einer Vorstellung soll das wirklich passiert sein, dass das Publikum auf der Heimfahrt die Kontrollettis verjagt hat.
Sie haben gut 30 Stücke geschrieben, zu 20 weiteren die Songs. Wie lange brauchen Sie für eines?
Ich bin eigentlich ein fauler Mensch und brauche immer einen unheimlichen Druck. Tagsüber habe ich das Theater am Hals, und am Abend, da gucke ich erst noch Fernsehen, lese Zeitungen, puzzle rum. Frühestens um elf fange ich endlich an. Ich bin da sehr unrationell. Mein Vater war ein ganz disziplinierter Schreiber: Der saß jeden Morgen um neun am Schreibtisch. Ich knautsch mich immer so auf dem Sofa zusammen und schreibe alles mit dem Kugelschreiber.
Was gehört in jedes Volker-Ludwig-Stück?
Das Aufdecken von Widersprüchen. Eine Münchner Theaterprofessorin sagte mir, mein typischstes Lied sei: „Himmel, Erde, Luft und Meer/sind ganz laut und stinken sehr.“ Poetisch, aber nie ohne die schmuddelige Realität. Latrinenlyrik.
Haben Sie nie Lust gehabt, mal das große Erwachsenenmusical zu schreiben?
Nie. „Cats“ – ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen. Schreiben ist so anstrengend, dass es wenigstens einen Sinn haben muss. Ich komme vom Kabarett, ich will den Menschen was sagen. Ich wollte ja Pfarrer werden...
...und sind es auf gewisse Weise geworden. Nur ohne die Religion.
Sicher, von dem Moment an, wo ich politisch engagiert war. Ich hatte nach der Schulzeit viel Handwerk gelernt, auch Schlager geschrieben, das hat mir unheimlich geholfen, politische Songs so zu schreiben, dass sie Ohrwürmer werden. Ich habe neun Semester studiert – Germanistik, Kunstgeschichte und mehr. Alles möglichst inkompatibel, damit ich nicht aus Versehen Lehrer werde. Aber ich merkte, ein Wissenschaftler wird nicht aus mir.
Dann wollte ich gucken, ein Jahr lang, ob man vom Schreiben leben kann. Ich hatte viel für Hänschen Rosenthals „Rückblende“ geschrieben, eine monatliche Sendung mit Sketchen und Chansons. Ich war Anfang 20 und sein Wunderkind. Auch für die „Stachelschweine“ hatte ich geschrieben.
"Jede Oma hatte einen Kennedy auf der Kommode"
Wie sind Sie nach Berlin gekommen?
Ich bin in Ludwigshafen geboren, was mir sehr peinlich ist. Dann in Thüringen aufgewachsen. Als ich zehn war, zog meine Mutter mit ihren drei Söhnen nach Hamburg, wo mein Vater, aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen, seine Karriere als Kabarett-Texter begann. Als seine Entdeckung Wolfgang Neuss mit einer ganzen Bande Kabarettisten nach Berlin wechselte, zog er 1953 nach.
Die Ankunft im Möbelwagen über die Avus war der glücklichste Moment meines Lebens: der Funkturm, die S-Bahn, „es war in Schöneberg im Monat Mai“ – ich hatte lauter Déjà-vus, auch weil ich Kästner gelesen hatte. Alles was ich mit dem Schreiben geschafft habe, kann ich mir nur in Berlin vorstellen. Das fängt mit dem lakonischen Sprachwitz an, der damals viel prägnanter war. Wir wohnten in Lichterfelde West, ich bin aufs humanistische Gymnasium Steglitz gegangen.
Nicht gerade ein Ort, um politisiert zu werden.
Das Gymnasium Steglitz war stockreaktionär, wir haben die Lehrer nicht für voll genommen. Viele träumten noch vom Ersten Weltkrieg, die feierten Langemarck. Ich habe mit einem Minimum an Arbeitsaufwand mein Abitur hingekriegt, drei Tage davor meinen Führerschein gemacht, nur um denen zu zeigen, wie ich sie verachte. Beinahe wär ich durchgefallen. Wir waren noch keine Linken, aber meine Brüder und ich sind stolz darauf, meinen Vater von der CDU weg gehievt zu haben bis hin zur SPD-Wählerinitiative. Weiter ging’s nicht.
Als ich später ein Kabarettprogramm über den amerikanischen Imperialismus schrieb, bekam ich von meinem Vater einen netten Brief: Er wünsche mir weiterhin alles Gute, für ihn sei Kabarett Symptomkritik, und was ich mache, sei Systemkritik. Da trennten sich unsere Wege.
Und da haben Sie Ihren Namen gewechselt?
Schon lange vorher. Mein Vater und ich hießen beide genau gleich, Eckart Hachfeld, da gab es dauernd Verwechslungen. Außerdem wollte ich keine Protektion.
Wie ist aus Volker Ludwig ein Linker geworden?
Mit Unterhaltung war ich sehr erfolgreich. Aber das Metier war von Idioten beherrscht, und ich war unglücklich. Schreiben war für mich eine Qual. Das änderte sich erst, als ich Leute vom SDS kennen lernte. Ich selber bin nie beim SDS gewesen.
Sie haben die SDSler jedoch gekannt, auch Rudi Dutschke?
Das Einmalige an den linken Studenten war, dass die Humor hatten. Nicht nur die Kommune 1. Ich teilte die Empörung über den Vietnamkrieg, verschlang Enzensbergers „Kursbuch“ Nr. 11 über die weltweiten Verbrechen der USA. Darüber habe ich meine Kabarettprogramme geschrieben.
Sie haben doch auch für den braven Didi Hallervorden gearbeitet?
1964 hatte ich tatsächlich für die „Wühlmäuse“ geschrieben, weil man mir sagte, der Hallervorden ist gar nicht rechts, der nimmt, was er kriegt. Das habe ich dann mal mit vier richtig harten Nummern ausprobiert: Die hat er auch gespielt, jedoch jede mit der nächsten Nummer wieder aufgeweicht. Bald danach kam der Geschäftsführer von den „Wühlmäusen“ und sagte: Wir hauen alle ab, der ist uns zu unpolitisch! Werd’ du unser künstlerischer Leiter, wir machen ein neues Kabarett auf.
So gründeten wir 1965 das „Reichskabarett“, haben unsere Sparbücher geleert und die „Rodeo Bar“ in der Ludwigkirchstraße gekauft. Es ging uns finanziell schlecht. Aber da war ich zum ersten Mal glücklich. Weil ich endlich wusste, warum ich arbeite und schreibe und mir die Nächte um die Ohren schlage.
Beliebt machten Sie sich damit nicht.
Das zweite Programm 1966 hieß „Bombenstimmung“, ein Vietnam-Programm. Wir sind schwer verrissen worden: „Nach zehn Minuten bläst schon Ostwind“ war die Überschrift in der „Mottenpost“. Berlin war die einzige Stadt der Welt, wo die Amerikaner geliebt wurden. Jede Oma hatte Kennedy auf der Kommode, und wir waren die Nestbeschmutzer. Die waren so was von wütend. Pegida ist nix dagegen. Dieser Hass war unglaublich.
Dann schon lieber Kindertheater.
Das war eine politische Entscheidung. Wir waren inzwischen geradezu Kult und hatten das gleichgesinnte Kabarettpublikum satt. Als Sozialisten wollten wir alle Schichten erreichen. Doch der Arbeiter ging nun mal nicht ins Theater. Wir standen immer auf der Seite der Unterdrückten. Das waren damals die Kinder. Im Geschäft kamen sie als letzte dran, das war das Hinterletzte! Von der Prügelstrafe ganz zu schweigen.
Heute sind die Kinder die Prinzessinnen und Prinzen vom Prenzlauer Berg.
Das war damals unvorstellbar. Ziel unserer ersten antiautoritären Stücke war vor allem, das Selbstwertgefühl der Kinder zu stärken.
„Den neuen Menschen schaffen“ wollten damals die 68er. Heute ist 68 ein Schimpfwort.
Reine Dummheit. Ich frage die Leute immer: Was kam denn nach 68? Deutschland ist durch die Studentenbewegung ein anderes Land geworden, ein liberales Land. Einer der wichtigsten Sätze überhaupt ist der von Fritz Teufel, als er vor Gericht aufstehen sollte und sagte: „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient.“ Das hieß: Was macht Sinn und was keinen? Früher hatte man einfach zu gehorchen. Das gibt es seitdem nicht mehr.
Sie haben sich schließlich vom Reichskabarett getrennt und das erste moderne Kindertheater der Welt gegründet: das Grips.
1972 zogen wir an den Kudamm, die Verhältnisse waren leider unerträglich. Dann sagten wir dem Senat: entweder ein eigenes Theater, oder wir hören auf. Das schöne Bellevue-Kino am Hansaplatz stand leer, da war schon Aldi dran. Ich musste den Zehn-Jahresvertrag von Aldi übernehmen, alle meine Autorentexte bis 70 Jahre nach meinem Tod verpfänden.
Ich hatte lange gehofft, das geht schief. Wenn ich dieses Haus nehme, dann werde ich mein Leben lang Kinderstücke schreiben müssen. Dabei wollte ich doch wieder Kabarett machen. Dann überlegte ich, du musst dieses Theater so gestalten, dass das eben nicht nur ein Kindertheater ist, wo man nicht mit Ironie arbeiten kann, sondern auch Jugendtheater mit Stücken für Erwachsene.
Kinder verstehen keine Ironie?
Die verstehen nicht, wenn man das Gegenteil von dem meint, was man sagt. Sie haben einen Sinn für Wortwitz, können sich scheckig lachen. Nur Ironie geht gar nicht. Die funktioniert übrigens auch bei Lehrern oft nicht.
"Jetzt höre ich auf mit meinem Gutmenschsein"
Mit dem Umzug an den Hansaplatz begann ein endloser Kampf. Erst kürzlich haben Sie in einem Brief an den Senat gedroht, das Grips zu schließen, wenn keine ausreichende finanzielle Unterstützung käme.
Ich war ziemlich verzweifelt, es ging um 100.000 Euro. Nicht mal die Grünen haben uns geholfen.
Da mussten Sie auf Ihre alten Tage noch betteln.
Das musste ich mein Leben lang. Jetzt tat ich mir auf einmal selber leid. Wenn sie uns diese Mäuse nicht geben, ist es eben politischer Wille, dass man uns killt. Aus. Dann wurden uns plötzlich nachträglich 150.000 Euro Erhöhung bewilligt. Ein wahres Wunder. Davon können wir existieren.
Wie viel verdient ein Grips-Schauspieler?
Die fangen mit 1800 brutto an, an den Staatstheatern ist es nicht mehr. Bei uns kriegen die mit jedem Jahr 150 Euro mehr. Allerdings nur, wenn das Geld da ist. Die Alten verdienen dann über 3000.
Die Stars werden weggekauft, wie beim Fußball.
Klar, die schwirren dann irgendwann ab. Das ist der Lauf der Welt. Axel Prahl ist immerhin sechs Jahre bei uns geblieben.
Am Ende hat sogar die CDU zu Ihren Unterstützern gehört.
Früher war das allerdings anders. Ab 1975 fuhr die CDU eine Anti-Grips-Kampagne. Drei Jahre lang hat sie unter Fraktionszwang dafür gestimmt, dass Grips kein Geld mehr kriegt und keine Schulklassen zu uns dürfen. Damals nannten sie mich Stalinist, Maoist und Kinderschänder. Ich zerstöre die Seelen der Kinder, schrieb die Springer-Presse.
Das ging so lange, bis 1981 ein CDU-Mann Bürgermeister wurde, Weizsäcker. Dem war das enorm peinlich. „Wir lassen uns an Liberalität von niemandem überbieten“, ließ er mir übermitteln. Und alles war vorbei wie ein Spuk. Nur finanziell ging es uns weiter schlecht. „Linie 1“ war ein Stück gewesen, das wir uns überhaupt nicht leisten konnten. Wir hatten ja nur zehn Schauspieler ...
... die in 90 Rollen schlüpfen.
Wir hatten den Kostümetat von zwei Jahren verbraten. Die Schlangen standen zwar bis hinaus zur Bartningallee. Trotzdem hatten wir am Ende des Jahres 200.000 Mark Miese.
Wir dachten immer, das wäre die Cashcow gewesen.
In der Talkshow „Leute“ erzählte ich: Mir fehlen 200.000 Mark, wir müssen dichtmachen. Da saß auch CDU-Generalsekretär Landowsky. Der sagte auf einmal: Es gibt nur zwei wichtige Theater in Berlin, Schaubühne und Grips. Ich bin glatt vom Hocker gefallen. Landowsky war immer ein schlauer Typ. Vorher der schärfste Hund. In Zehlendorf, seinem Bezirk, kriegten die Lehrer es in ihre Personalakte eingetragen, wenn sie zu uns kamen.
Aber jetzt dachte er sich wohl, ehe er sich lächerlich macht, setzt er sich lieber an die Spitze der Avantgarde. Er hat später sogar einen alten Antrag von uns rausgefischt, den wir vor Jahren gestellt hatten, es ging um eine Beleuchterbrücke. So haben wir eine perfekte begehbare Anlage bekommen, die heißt bei uns immer noch „Landowsky-Brücke“.
Hatten Sie bei all den Kämpfen nie die Schnauze voll?
Es gab ja nicht nur externe, sondern auch hausinterne Kämpfe. Die absurdeste Zeit war zwischen ’75 und ’77, da hatten wir ein paar RAF-Sympathisanten im Haus, außerdem die Revis, also die Moskautreuen, und dann noch die Maoisten. Die haben sich alle gegenseitig bekämpft. Wir hatten ja totale Demokratie, das heißt, alles fand in Vollversammlungen statt. Die Putzfrau hatte genau so viel zu sagen wie ich. Die Beschlüsse wurden immer ideologischer. Das war so furchtbar, dass ich irgendwann gesagt habe: Jetzt höre ich auf mit meinem Gutmenschsein. Ich habe zwei Schauspielerinnen rausgeschmissen, die die Schlimmsten waren.
Da haben Sie sich unmöglich gemacht!
Siehe da, es passierte keine Revolution, alle waren erleichtert. Seitdem haben wir ein Delegationssystem: Die Schauspieler wählen ihre Delegierten in ein Besetzungsgremium, das alle wichtigen künstlerischen Entscheidungen trifft. Da verliere ich auch schon mal. Es gab zwei Stücke, die ich nicht durchgekriegt habe. Andererseits wurde ein Stück gespielt, obwohl ich es grauenvoll fand.
Gibt es heute noch Glücksmomente, wenn Sie „Linie 1“ sehen?
Wenn es mir mal richtig schlecht geht, schau ich mir die letzte Szene an. Dann geht es mir wieder gut. Christine Nöstlinger hat mich darum sehr beneidet: „Sie haben’s gut, ich weiß ja nie, ob jemand meine Bücher wirklich liest und dabei zu Tränen gerührt ist.“ Ich erlebe das!
Die Leute weinen?
Aber sicher! Erwachsene wie Kinder. Jugendliche schreiben mir Briefe, nachdem sie meine Lieblingsfigur, den Herrmann, erlebt haben. Das ist dieser uralte gebrechliche Rentner, der singt: „Es ist herrlich zu leben in Berlin.“ Das imponiert Jugendlichen ungeheuer.
Muss man Kinder mit einem Happy End nach Hause gehen lassen?
Wir sagen nicht Happy End. Wir nennen es „konkrete Utopie“. Diese Schlüsse sind real möglich, aber nicht die Regel. Das ist ja das Schwere: die Kinder mit einer Hoffnung gehen zu lassen, ohne sie zu belügen. Die Stücke sollen ihre soziale Fantasie beflügeln. Unsere wichtigste Botschaft: Die Welt ist veränderbar.
Eine linke Idee. In den vergangenen Jahren sind die Kategorien links und rechts verschwommen. Verschwimmt dadurch auch das Grips-Anliegen?
Links ist eher eine bestimmte Haltung. Sensibilität für Ungerechtigkeit. In der Hinsicht hat sich nichts geändert. Eine linke Haltung verlangt auch aktives Eingreifen. Seit 25 Jahren kümmern wir uns um die Integration von Ausländern.
Eine ultimative Flüchtlingsrevue haben Sie nicht geschrieben. Obwohl doch derzeit Familien streiten, Freundschaften an dieser Frage zerbrechen.
Das Thema behandeln wir doch seit Jahren! Es gab in letzter Zeit kaum ein Stück, in dem es keine Rolle spielt. Immer wieder ging es zum Beispiel um illegal hier lebende Kinder. Auch unser Anton in „Pünktchen trifft Anton“ ist ein solches Kind aus Weißrussland.
Sie sind jetzt 79 Jahre alt. Wie oft in der Woche sind Sie noch im Grips?
Leider täglich. Ich hatte vor fünf Jahren einen Nachfolger bestimmt, dem ich nach und nach alles übergeben wollte. Das ging schief. Jetzt mache ich mit Philipp Harpain, der im Sommer die künstlerische Leitung übernimmt, einen neuen Versuch. Er ist das politische Gewissen des Theaters, seit 13 Jahren am Grips und interessiert sich sehr für die wirtschaftlichen Probleme, der hat mehr Angst um die Gelder als ich. An ihn kann ich die Geschäftsführung abgeben.
Mal ehrlich: Sie müssen reich geworden sein mit „Linie 1“?
Solange „Linie 1“ an Staatstheatern nachgespielt wurde, ging es mir richtig gut. Meine Wohnung zum Beispiel habe ich mir von den Erlösen kaufen können. Als Autor habe ich nie zu klagen gehabt. Das Theater selbst war immer arm. Als Theaterleiter allein könnte ich kaum leben. Ich war immer der schlechtestbezahlte Intendant Berlins. Da ich meine Stücke hatte, konnte ich mir das leisten.
Dieses Interview erschien erstmals am 28.04.2016.
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