Regierender Bürgermeister Weizsäcker: Ruhe und Richtung für Berlin
Nur knapp drei Jahre lang war Richard von Weizsäcker Regierender Bürgermeister von Berlin, doch spricht man zu Recht von der "Ära Weizsäcker". In kurzer Zeit gab er der außer Rand und Band geratenen Stadt Richtung und Ruhe.
Schon zur Abgeordnetenhaus-Wahl 1979 war Richard von Weizsäcker Spitzenkandidat der CDU, damals in Berlin noch ziemlich unbekannt. Doch einmal blieb es noch in der traditionell sozialdemokratisch geprägten Stadt bei der sozial-liberalen Koalition unter Dietrich Stobbe, obwohl sie von Flügelkämpfen der SPD wie FDP und Senatsquerelen geprägt war. Weizsäcker nutzte die Zeit, auch als Bundestagsvizepräsident von Bonn aus sehr genau zu beobachten, wie es in Berlin gärte, und die CDU der Stadt unauffällig auf Kurs zu bringen. Die Hausbesetzer-Szene und denkwürdige Affäre um den Architekten und Bau-Unternehmer Dietrich Garski brachten das Fass dann zum Überlaufen.
Stobbe stürzte schließlich am 15. Januar 1981 über die gescheiterte Senatsumbildung, seine SPD-Kandidaten fielen durch. Bonn schickte den Bundesminister Hans-Jochen Vogel als Nachfolger, der auch strengstens aufzuräumen begann, aber zu spät, er konnte es nicht schaffen, die SPD hatte ausgespielt und war erschöpft. Die erst 1978 gegründete Alternative Liste als Vorläufer der Grünen und die CDU starteten ein Volksbegehren zur Auflösung des Abgeordnetenhauses und Neuwahlen. In Scharen gaben die Berliner ihre Unterschrift, Weizsäcker unterschrieb auch gleich bei der AL. Und als am Palmsonntag bei Krawallen die Schaufenster am Kurfürstendamm zu Bruch gingen, war Vogel klar, dass er verloren hatte.
Nur von Weizsäcker war die Ruhe selbst
Die Wahl am 10. Mai brachte der Berliner CDU mit stolzen 48 Prozent ihr bestes Nachkriegsergebnis. Mit der AL zog erstmals eine vierte Fraktion mit gleich 7,2 Prozent der Stimmen in das Parlament ein, eine unruhige, aufmüpfige, ungeliebte Fraktion. Es war eine Sensation. Nur zwei Stimmen fehlten Richard von Weizsäcker zur absoluten Mehrheit. Doch die Regierungsbildung erwies sich als schwierig, denn die zerrissene FDP lehnte die Koalition mit der CDU ab, auch der FDP-Bundesspitze passte ein Koalitionswechsel in Berlin nicht in den Kram, noch nicht.
Nur der stets gegenüber jedermann liebenswürdige Weizsäcker war die Ruhe selbst. Er bildete mit psychologischem Geschick und kühlem politischen Kalkül einen CDU-Minderheitssenat, den einige FDP-Abgeordnete gern tolerierten. In der CDU hatte Weizsäcker wie selbstverständlich freie Hand. Neue Senatoren von außerhalb der Stadt wie Norbert Blüm und Hanna-Renate Laurien saßen nun neben alt gedienten Berlinern wie Heinrich Lummer, liberal gefärbte neben stramm konservativen. Erst nachdem in Bonn die sozialliberale Koalition von Helmut Schmidt zu Bruch gegangen war, konnte Weizsäcker auch im Rathaus Schöneberg eine CDU/FDP-Koalition bilden.
"Häuptling Silberlocke" nannten ihn die Jungen in der CDU
Eigentlich war er ein Stadtpräsident. Er regierte mit freundlicher Autorität in schwieriger Situation. „Mit seltner Kunst fügst du der Götter Rat und deine Wünsche klug in eins zusammen“, zitierte er gern aus Goethes Iphigenie mit verhaltenem Lachen. „Häuptling Silberlocke“ nannten ihn die Jungen in der CDU, oder „Sir Richard“. Manche sprachen ein bisschen schnodderig nur von „Richie“. Ein Machtpolitiker war er schon, aber den kehrte er nicht heraus. Eine Aura des Respekts umgab ihn, eine bei allem Witz und sogar volkstümlichen Humor gewisse Unnahbarkeit. Wenn ihm jemand zu nahe trat, bekam er „schwarze Augen“, das reichte.
Bis zum Tabubruch ging der Meister-Diplomat
Die Befriedung der Hausbesetzer-Szene war das erste, was zu tun war, doch dabei ging es zunächst hoch her. Als sich Innensenator Heinrich Lummer bei der Räumung besetzter Häuser „wie Napoleon“ auf einem Balkon zeigte und ein Demonstrant zu Tode kam, weil er von einem BVG-Bus überrollte wurde, konnte es nur Weizsäcker schaffen, die brisante Situation zu entschärfen. Und nur ihm konnte es dank seiner Autorität gelingen, den „Fall Rastemborski“ nicht zu einer hochnotpeinlichen Senatsaffäre werden zu lassen. Bausenator Ulrich Rastemborski, genervt vom Spagat zwischen seiner weichen und der harten Linie des Innensenators gegenüber den Hausbesetzern, verschwand eines Tages aus der Stadt und erklärte von einem unbekannten Ort seinen Rücktritt, wochenlang wusste niemand wo er war, nämlich in einer westdeutschen Klinik.
Es war auch im Abgeordnetenhaus eine Zeit heftiger Auseinandersetzungen, aber Weizsäcker und der damalige SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel gaben den Debatten Niveau. Ich entsinne mich einer Debatte, die bis morgens um halb vier dauerte, aber bis zuletzt ungeheuer spannend war. Trotz ihrer Dispute zogen Weizsäcker und Vogel an einem Strang, sei es bei der „Berliner Linie“ gegenüber den Hausbesetzern, sei es bei S-Bahn-Frage. Für beide auf den Nägeln brennende Probleme hatte Vogel schon in seiner nur halbjährigen Amtszeit Konzepte geplant.
Von Weizsäcker wollte die S-Bahn "nicht der Rattenherrschaft überlassen"
Kein Senat zuvor hatte das heiße Eisen S-Bahn angefasst, was mit dem komplizierten Viermächte-Status der Stadt zu tun hatte. Seit 1945 fuhr die S-Bahn auch in West-Berlin in östlicher Regie, und sie war hier seit 1980 teilweise stillgelegt. Weizsäcker sprach, er wolle die S-Bahn „nicht der Rattenherschaft überlassen“, und plötzlich ging´s in wirklich streng vertraulicher Diplomatie. Nach zügigen Verhandlungen mit der DDR-Reichsbahn wurde die West-Berliner S-Bahn in die BVG eingegliedert, die toten Strecken lebten wieder auf.
Bis zum Tabubruch ging der Meister-Diplomat Weizsäcker in seiner Berlin-Politik, als er sich in Ost-Berlin mit Erich Honecker traf. Das war bis dahin nach dem Viermächte-Status ein Ding der Unmöglichkeit. Die Westalliierten hätten es wohl auch diesem Regierenden Bürgermeister nicht gestattet, aber Weizsäcker fragte sie nicht, sondern informierte sie nur kurz vor seiner Fahrt zum Gästehaus des DDR-Staatsrats, Schloss Schönhausen in Pankow. Die Überraschung war perfekt. Nach seiner Rückkehr verblüffte Weizsäcker in der überfüllten Pressekonferenz im Rathaus Schöneberg mit der Aussage, er habe als „deutscher Politiker“ mit Honecker gesprochen, der Viermächte-Status bleibe davon selbstverständlich „unberührt“. Also nichts von „Berlin, Hauptstadt der DDR“ und angeblicher „selbstständiger Einheit Westberlin. So einfach war das auf einmal.
Spektakuläre Ergebnisse brachte er von diesem ersten Treffen nicht mit, was auch nicht zu erwarten war. Für seine Nachfolger Eberhard Diepgen und Walter Momper aber waren Unterredungen mit dem SED-Chef und DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker in Ost-Berlin eine Selbstverständlichkeit.
Für die Berliner war von Weizsäcker eine Vaterfigur
Weizsäckers Stimme hatte Gewicht wie keine zweite. Über die Parteigrenzen hinaus genoss er Respekt, für die Berliner war er eine Vaterfigur. In das Vertrauen zu ihm, ja die Verehrung, mischte sich, na klar, herbe Enttäuschung, als er sich anschickte, das Amt des Bundespräsidenten zu erobern. Vogel war schon 1982 als Kanzlerkandidat fort gegangen. Nun stand das Jahr 1983 bald im Zeichen der Spekulationen über Weizsäcker, der immerfort diplomatisch wiederholte, um das höchste Staatsamt bewerbe man sich nicht, und damit Punkt.
In der CDU wackelte natürlich die Wand. Sie konnte sich auch im inner-parteilichen Kampf um die Nachfolge lange Zeit nicht beruhigen, bis sich der Fraktionschef Eberhard Diepgen gegen Hanna-Renate Laurien als Nachfolger durchsetzte.
Weizsäcker lag die Stadt deutschlandpotisch und ganz persönlich am Herzen, hier hatte er seine Jugend verbracht. In knapp drei Jahren schaffte er es, diesem ewig gebeutelten West-Berlin neues Selbstvertrauen zu geben. Als der Klima-Wandel überall spürbar war, konnte er sich guten Gewissens der neuen Aufgabe widmen. Auch als Bundespräsident hat er unendlich viel für die Stadt getan und wurde schließlich im Sommer 1990 der erste Gesamtberliner Ehrenbürger. Berlin trauert um einen Großen, der mit Ernst Reuter und Willy Brandt in einer Reihe steht.
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