Wenn die Gondeln Mundschutz tragen (5): Wie ich endlich in Venedig ankomme – und meine Liebe zum ersten Mal nackt sehen kann
Venedigs Piazza San Marco: Die Stimmung ist magisch. Der Platz ist leer. Keine Menschen, keine Tauben.
Jetzt oder nie: Unsere Kolumnistin will vor allen anderen Venedig erreichen – und fährt 1.135 Kilometer im Auto mit Mann und Kindern, eine Großpackung Mund-Nasen-Masken und Homeschooling auf der Rückbank. Hier berichtet sie täglich.
Nach 1135 Kilometern und einer Fahrstuhlfahrt erreichen wir die Wasserbushaltestelle.
Social distancing ist beim Einsteigen schwierig, aber es gibt kein Gedrängel. Das ist hier nicht neu. Wer in Venedig schubst, geht ganz schnell baden.
Zur Louis-Vuitton-Tüte ein Einweghandschuh
Eine elegante ältere Frau, wie es sie nur in Italien gibt, zeigt auf meine Kinder und lobt „Che belli bambini!“ Zu ihrer Louis-Vuitton-Tüte und der obligatorischen divaesk-großen Brille trägt sie an der rechten Hand einen blauen Einweghandschuh.
Was uns beim Aussteigen erwarten wird, frage ich sie.
Vor mehr als 70 Jahren, sagt sie, sei sie hier geboren, und dass sie ihre Heimat nie zuvor so erlebt habe. Wir könnten uns sehr glücklich schätzen, jetzt hier zu sein, wobei sie selbst gerade glücklich sei, endlich wieder uns Touristen zu sehen.
Ich atme erleichtert aus.
Lieber Krähenfüße als Corona
Als typisch deutsche Touristin werde ich nicht gern als deutsche Touristin erkannt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man unsereins als Bewohner Venedigs vermissen kann.
In den Einkaufsstraßen herrscht, wie es gemeinhin heißt, reges Treiben. Alte Menschen mit Einkaufstaschen, junge Menschen mit Eistüten. Gut die Hälfte trägt Mund-Nase-Schutz, von den Eisessern mal abgesehen.
Eine Wolke schiebt sich kurz vor die Sonne, ansonsten schiebt sich hier gar nichts. Meine Sonnenbrille beschlägt. Ich nehme sie ab. Die Brille. Nicht die Maske. Ich riskiere lieber Krähenfüße als Corona.
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Venedig wirkt nicht tot. Es wirkt wie eine ganz normale Stadt. Eine echte Stadt, kein Sightseeing-Objekt. Mit Bewohnern, die bei einem Aperitivo zusammen stehen oder ihre Einkäufe nach Hause tragen.
Von Gelb zu Rosa
In einigen Gassen ist viel los, aber nicht mehr als samstags bei gutem Wetter auf dem Kollwitzmarkt. Es ist wunderschön.
Unser Hotel finden wir auf Anhieb, obwohl ich mich in der Vergangenheit in Venedig schon verlaufen habe, dass ich fast geweint hätte wie ein Kind. Wir setzen zum Endspurt an. Das Licht wechselt bereits von gelb zu rosa. Es ist früher Abend.
„Koffer packen wir später aus. Einchecken, umziehen, Händewaschen und dann los auf den Markusplatz!“
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Nur von den 20 Sekunden am Waschbecken verschenken wir nicht eine einzige, dann stehen wir schon wieder auf der Straße und 20 Minuten später tatsächlich auf der Piazza San Marco.
Die Italiener sitzen drinnen
Die Stimmung ist magisch. Der Platz ist leer. Keine Menschen, keine Tauben.
Das Licht reicht jetzt nicht mehr aus, um diese Kulisse als Instagram-Trophäe oder für CEWE-Fotobücher zu benutzen.
Weil der Platz keinen weiteren Zweck erfüllt als eben da zu sein, sind die wenigen Touristen schon beim nächsten Programmpunkt und sitzen in den Restaurants in den umliegenden engen Gassen. Die sonst hart umkämpften Plätze draußen sind fast alle frei. Die Italiener sitzen natürlich alle drinnen.
Venedig und ich, endlich allein
Seit meiner ersten Begegnung vor acht Jahren bin ich verliebt in diesen Ort. Jetzt, so fühlt es sich für mich an, darf ich meine Liebe zum ersten Mal nackt sehen. Ich streife den Mundschutz ab. Wir sind endlich allein, Venedig und ich.
Nutze ich mit meinem spontanen Roadtrip eine Notsituation aus?
Eine Frage, die mir Jacopo Zanon am nächsten Morgen in der Lobby unseres Hotels beantwortet.
Lesen Sie am Mittwoch: Das große Finale.
Und bis dahin hier die vorangegangene Folge des Reiseberichts: Wenn die Gondeln Mundschutz tragen – Wie wir in Verona verunsichert vor einem Balkon stehen und in einem Parkhaus eine große Überraschung erleben.
Die dritte Folge finden Sie hier: Wenn die Gondeln Mundschutz tragen – Wie wir als einzige Menschen am Brenner eine unheimliche Raststätte betreten.
Die zweite hier: Wenn die Gondeln Munschutz tragen – Wie wir mit dem Auto nach Venedig aufbrechen und das schon am Schkeuditzer Kreuz bereuen.
Los ging es mit dieser Folge: Wenn die Gondeln Munschutz tragen – Wie ich mich entschließe, die Chance meines Lebens zu nutzen und nach Venedig zu fahren, aber behaupte, es ginge an den Müggelsee.
Aline von Drateln