Wenn die Gondeln Mundschutz tragen (2): Wie wir mit dem Auto nach Venedig aufbrechen und das schon am Schkeuditzer Kreuz bereuen
Was war nochmal der Grund dafür, uns nach zehn Wochen Aufeinanderhocken nun tagelang zweieinhalb Quadratmeter zu teilen? Ach ja, der menschenleere Markusplatz.
Jetzt oder nie: Unsere Kolumnistin will vor allen anderen Venedig erreichen – und fährt 1.135 Kilometer im Auto mit Mann und Kindern, eine Großpackung Mund-Nasen-Masken und Homeschooling auf der Rückbank. Hier berichtet sie täglich.
Corona hat unser Gefühl für Zeit und Raum verändert. Andere Menschen sind plötzlich viel zu nah und andere Länder unendlich weit weg. Berlin - Venedig wird zur Fernreise und die Fahrt per Auto zum Abenteuertrip, weil Österreich seine Grenzen noch nicht geöffnet hat.
Erste Hürde: Ich habe gar kein Auto. Mein Statussymbol in Sachen Mobilität ist eine BahnCard50, die neben einem Business-Planner 2020 meine bisher schlechteste Investition in diesem Jahr war.
Donnerstagnachmittag. Der Mann ist abreisebereit. In seinem Gepäck: eine Großpackung Kekse, eine Großpackung Mundschutz, eine Vignette für die österreichische Autobahn und ein Mietwagen. Leider hatte ich mir meinen Begleiter für Venedig anders vorgestellt.
Wischen wie John Travolta
„Das ist kein sympathisches Auto! Ich wollte einen Volvo oder einen Alfa Romeo.“ „Du hast nur gesagt: Kein SUV.“ Es ist ein AUDI A4 Kombi und noch uncooler ist sein Kennzeichen.
Nicht B, für Berlin, sondern EU für Euskirchen. Ausgerechnet. Mit einem Vertreterauto aus der deutschen Corona-Hochburg quer durchs Europäische Zentrum der Pandemie. Das ist wie Eulen nach Athen tragen auf italienisch.
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„Immerhin die Buchstaben EU“, tröste ich mich, während ich mit dem Desinfektionsmittel aus der Apotheke lustlos über die Armatur wische, um restliche Körperflüssigkeiten früherer Mitfahrer zu beseitigen wie Samuel L. Jackson und John Travolta nach ihrem eigenen Auto-Dilemma in „Pulp Fiction“.
Vielleicht können wir mit den zwei Buchstaben als Galionsfiguren und unseren zwei Bambini als Botschafter wieder ein wenig gut machen, was die deutsche Regierung mit den abgelehnten Eurobonds verbockt hat.
Mehr Beinfreiheit als in der Businessclass
Mit Kindern per Auto zu verreisen, weil die Flugzeuge noch nicht fliegen, ist überraschend unstressig. Wir sind allerdings auch erst seit 20 Minuten auf der Autobahn.
Jeder macht das, was er am besten kann. Der Mann fährt Auto. Der Sohn spielt Handy. Die Tochter macht Mathe. Und ich mache, womit ich mein Geld verdiene, wenn nicht gerade Versammlungen verboten sind, weil eine Pandemie herrscht: Ich moderiere.
Bereits am Schkeuditzer Kreuz gehen wir uns mit unseren Skills gegenseitig auf die Nerven und ich überlege, was nochmal der Grund dafür war, uns nach zehn Wochen Generve in unserer Wohnung mit zwei separaten Kinderzimmern jetzt freiwillig für zwei Tage zweieinhalb Quadratmeter zu teilen. Ach ja. Der menschenleere Markusplatz.
„Wir haben hier mehr Beinfreiheit als in der Businessclass im Flugzeug!“, sage ich laut und versuche, als ich demonstrativ die Beine ausstrecke, nicht dabei die Bananen im meinem Fußraum zu zerquetschen.
„Rondo Veneziano“
Nach sechs Stunden auf Reisen ist Generation EasyJet gefühlt schon mindestens auf Mykonos. Aber in Corona-Zeit ist es doch nur München, die schönste Stadt Deutschlands, wie ein zu Recht vergessener CDU-Politiker fand, der 2001 Bürgermeister von Berlin werden wollte. Dummerweise hat er das laut während des Wahlkampfes gesagt und dann natürlich verloren.
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Die Ankunft in der zweitschönsten Stadt Deutschlands ist so schön, dass ich aus Versehen unseren Freunden bei der Begrüßung um den Hals falle. Vor Schreck darüber trinke ich zum Abendessen so viel Weißwein, dass ich hoffe, später für meinen Fauxpas nicht mehr belangt werden zu können. Hoffentlich auch nicht für meine akustische Grenzüberschreitung, zum Dessert über Spotify „Rondo Veneziano“ zu spielen.
Der Abschied am nächsten Morgen ist schnell. Ob wegen „Rondo Veneziano“ oder weil die Kinder unserer Freunde in die Schule müssen, denn in Bayern funktioniert die natürlich schon wieder, bereitet mir kein Kopfzerbrechen. Es sind gute Freunde, mit denen ich auch befreundet wäre, wenn sie nicht praktischerweise in der „Weltstadt auf halber Strecke nach Italien“ wohnen würden. Und zur Not können sie sich rächen und ihre Kinder in ein paar Jahren als Retourkutsche zu uns nach Berlin schicken „als Zwischenstation nach dem Abi“.
Ist das Corona oder Chardonnay?
Ich habe Kopfschmerzen. Ist das der Chardonnay von gestern Abend oder ist das Corona von der Raststätte kurz hinter Nürnberg? „Alle noch mal aufs Klo und dann geht´s weiter!“
Österreich, das geben uns die Freunde zum Abschied noch mit auf den Weg, darf man gerade nur durchfahren. Aussteigen verboten.
Die erste Folge des Reiseberichts von Aline von Drateln lesen Sie hier: Wenn die Gondeln Munschutz tragen – Flugscham ohne Flug.
Aline von Drateln