Wenn die Gondeln Mundschutz tragen (4): Wie wir in Verona verunsichert vor einem Balkon stehen und in einem Parkhaus eine große Überraschung erleben
Romeo und Julia auf der Rückbank: Auf unserer Fahrt nach Venedig legen wir einen spontanen Zwischenstopp in Verona ein. Ist schließlich sehenswürdig! Oder?
Jetzt oder nie: Unsere Kolumnistin will vor allen anderen Venedig erreichen – und fährt 1.135 Kilometer im Auto mit Mann und Kindern, eine Großpackung Mund-Nasen-Masken und Homeschooling auf der Rückbank. Hier berichtet sie täglich.
„Wir haben Schinkenbrote und Benzin, der Unterricht wird zum Lokaltermin.“ Machen wir es dem Vordenker Erich Kästner nach. Bei nur einem Schultag pro Woche an den Berliner Schulen meiner zwei Kinder können wir derzeit problemlos eine 6-tägige Bildungsreise zwischenschieben.
Sein Homeschooling ist mein Laptop
Die 9. Klasse meines Sohnes behandelt gerade „Romeo und Julia“. Online. Dank Homeschooling ist sein Home mein Laptop. Auf der Rückbank haben meine Kinder zwischen Hof und Ingolstadt den Film mit Leonardo DiCaprio gesehen.
Spontan entscheiden wir, auf unserer Fahrt einen Zwischenstopp in Verona zu machen, wo sich die Original-Balkonszene abgespielt haben soll. Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt es gerade weder in der Schule noch bei unserer Ankunft in Venedig an.
Als wir das Auto etwa hundert Kilometer vor unserem eigentlichen Ziel an der Stadtmauer Veronas verlassen, sind die Kinder für einen Moment überrascht, dass die Menschen auch hier Mund-Nase-Schutz tragen. Nicht nur Instagram-Posts können viral gehen. Sondern auch ein Virus, wird den Kindern klar.
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Ist es eine Sehenswürdigkeit, wenn keiner guckt?
„Casa di Giulietta“ ist prominent ausgeschildert. Trotzdem sind wir uns nicht sicher, ob es der richtige ist, als wir in dem schmucklosen Hinterhof stehen. Ein Italiener, Mundschutz und Handy am Kinn, telefoniert. Seine Begleiterin dreht dem Balkon den Rücken zu. Ein weiteres Pärchen steht und fotografiert. Die Tochter ist enttäuscht. „Wo ist denn der Pool?“, fragt die Zehnjährige. Wir hätten sie vielleicht doch nicht DiCaprio sehen lassen sollen.
Das hier ist natürlich unspektakulärer. Um es mit einem anderen Film zu sagen: Reality bites. Ich frage mich, was eine Sehenswürdigkeit sehenswert macht. Wird ein touristischer Hotspot erst durch Menschenmassen so richtig heiß? Ist es überhaupt noch eine Sehenswürdigkeit, wenn keiner guckt? Wäre Capri nur ein Fels, die Mona Lisa nur ein Bild, der David nur ein nackter Mann?
Es wird wahr: Ausfahrt Venezia
Heißt der kleine Junge in „Des Kaisers neue Kleider“ vielleicht Corona? Seltsam deplatziert wirken die Souvenirstände auf der Piazza. Nur etwa ein Drittel von ihnen hat überhaupt geöffnet. Corona liefert mir ein gutes Argument dafür, dass die Kinder nichts von den Andenken made in China nach Venedig mitnehmen dürfen.
Wir fahren weiter. Eine Stunde später: Ausfahrt Venezia. Sieben Mal war ich schon in Venedig, um aus der kleinen Stadt mit 50.000 Einwohnern von den Filmfestspielen zu berichten, zu denen jedes Jahr tausende Journalisten aus aller Welt anreisen. Zusätzlich zu den rund 25 Millionen Touristen. Sieben Mal kam ich hier mit dem Flugzeug an.
Jetzt ist der Himmel leer. Kein einziger Kondensstreifen ist zu sehen. Der Verkehr auf der Verbindungsstrecke zwischen Festland und Lagune ist moderat. Es ist Freitagnachmittag.
Die anderen sieben Stockwerke sind voll
Der wichtigste Platz für diejenigen, die in Venedig mit dem Auto anreisen, lernen wir, heißt Piazzale Roma. Hier stehen Parkhäuser wie in andern Städten die Hochhäuser der urbanen Vororte. Für den gemieteten Audi aus Euskirchen ist hier die Reise zu Ende.
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„8th floor“ sagt der Mann an der Einfahrt und reicht mir einen handgeschriebenen Zettel durchs Fenster. „Wow, ins Penthouse", sage ich. „Bestimmt ein upgrade, weil wir die Ersten sind!“ Als sich unser Kombi das enge Parkhaus hochschraubt, erkenne ich den wahren Grund. Die anderen sieben Stockwerke sind schon voll. An den Kennzeichen leicht zu erkennen: Neun von zehn Wagen kommen aus Deutschland.
Endlich in Venedig. Und doch habe ich mein Ziel nicht erreicht. Andere waren schneller.
Mit den Koffern quetschen wir uns in den Fahrstuhl und ich drücke die Null. Das weltweite Ziel für die Reproduktionszahl von Covid19-Infizierungen. In Berlin steigt sie wieder, lese ich, als ich in der Handtasche nach der Desinfektionsflasche wühle und dabei kurz auf mein Handy blicke. „Zieht den Mundschutz auf und lasst ihn an, bis wir im Hotelzimmer sind.“, sage ich und atme tief ein.
Lesen Sie hier die vorangegangene Folge des Reiseberichts: Wenn die Gondeln Mundschutz tragen – Wie wir als einzige Menschen am Brenner eine unheimliche Raststätte betreten.
Die zweite Folge finden Sie hier: Wenn die Gondeln Munschutz tragen – Wie wir mit dem Auto nach Venedig aufbrechen und das schon am Schkeuditzer Kreuz bereuen.
Los ging es mit dieser: Wenn die Gondeln Munschutz tragen – Wie ich mich entschließe, die Chance meines Lebens zu nutzen und nach Venedig zu fahren, aber behaupte, es ginge an den Müggelsee
Aline von Drateln