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Wenn schon anstecken, dann doch lieber an der feuchten Aussprache eines singenden Gondolieres.
© Aline von Drateln

Wenn die Gondeln Mundschutz tragen (1): Wie ich mich entschließe, die Chance meines Lebens zu nutzen und nach Venedig zu fahren, aber behaupte, es ginge an den Müggelsee

Jetzt oder nie: Unsere Kolumnistin will vor allen anderen Venedig erreichen – 1.135 Kilometer im Auto mit Mann und Kindern. Hier berichtet sie täglich.

Sehen wir’s mal positiv: Corona hat geschafft, was der Berliner Mietendeckel nicht gebacken kriegt: Eine 4-Zimmer-Altbauwohnung in einem urbanen Sehnsuchtsort wie New York, Paris und Prenzlauer Berg erschien plötzlich gar nicht mehr den Preis einer Villa am See wert. Ausgangssperren und -begrenzungen ließen Immobilienmaklers Lieblinge zu teuren Gefängnissen schrumpfen. Mein „Berliner Szene-Bezirk“ wurde über Nacht zum „Bezirk“. Statt „Lage! Lage! Lage!“ nur noch Lagerkoller. Alcatraz liegt ja eigentlich auch ganz schön.

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„Sie wollen morgen nach Venedig?!“ Die Apothekerin schaut mich entsetzt an, als hätte ich gesagt, dass ich das Desinfektionsmittel kaufen will, um es zu trinken. Eigentlich ist mein Vorhaben gar nicht verrückt. Ich fahre nach Italien. Im Auto. Mit dem Mann und unseren zwei Kindern. Reisen wie früher. Vor Easy Jet. Stell' dir vor, seit dem 3. Juni sind Grenzen zu Italien wieder offen – und keiner kommt hin.

Kein Homeschooling können die Kinder auch auf der Autobahn machen

Weil die Flugzeuge noch nicht fliegen und wir in Berlin nicht mal wissen, wenn wieder, von welchem Flughafen eigentlich, und weil auf der Autostrecke ja noch Österreich liegt, dieses Land, dessen Grenzen ich vergessen hatte, seit Schengen. Und das gerade eine noch größere Herausforderung für mich ist als die Apothekerin. Denn Österreich macht erst in vier Tagen offiziell die Grenze auf.

Die Apothekerin guckt entsetzt. „KLEIN-Venedig! Am Müggelsee“, sage ich schnell.
Die Apothekerin guckt entsetzt. „KLEIN-Venedig! Am Müggelsee“, sage ich schnell.
© Aline von Drateln

Aber ich will vor allen anderen in Venedig ankommen. Ich will die erste sein. „KLEIN-Venedig! Am Müggelsee“, sage ich schnell. Gut, dass Venedig überall ist, wo sich mehr als zwei Bäche kreuzen. Zu den vielen verschiedenen Emotionen, die ich seit Corona durchlebt habe, kommt jetzt eine ganz neue hinzu: Ich geniere mich für meine Reisepläne. Flugscham – jetzt auch ohne Flug.

Nachdem ich wochenlang Abstand gehalten, Lebensmitteleinkäufe nur ein Mal pro Woche erledigt – aber natürlich ohne zu hamstern! – und meinen Geburtstag nur mit meinem Ehemann, einer Zehnjährigen, einem 14-Jährigen gefeiert habe, bin ich jetzt egoistisch, weil ich mir in den Kopf gesetzt habe, diese einmalige Chance zu nutzen und Venedig zu besuchen ohne Massentourismus. Ich stelle es mir paradiesisch vor: Glasklare Kanäle, ein menschenleerer Markusplatz, mit Delfinen schwimmen in der blauen Lagune!

R ist launenhaft wie eine italienische Operndiva

Schule ist sowieso gerade nicht und kein Homeschooling können die Kinder auch auf der Autobahn machen. „Darf es noch etwas sein?“ Die Apothekerin guckt jetzt wieder fürsorglich.

Was braucht man, wenn man während einer Pandemie durch Europa fährt? Kurz sehe ich wieder die Bilder aus Bergamo vor mir. Gesunden Menschenverstand eher nicht. Aber auf dem Alexanderplatz versammelten sich letztes Wochenende doch sogar Fünfzehntausend, und zwar nicht von denen, die einem Veganer mehr glauben als einem Virologen und ohnehin einen an der Waffel haben. Und nächste Woche macht sogar Macron, der Helikopter-Vater unter den Staatsmännern, seine wohlgehütete Grande Nation wieder auf!

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Noch bewege ich mich zwischen Todesangst und Freiheitsliebe. Bin verunsicherter als Anfang März, als uns Markus Söder an die Hand – und die Entscheidungen abnahm. Unheimlich, wie angenehm ich das in dem Moment fand. Heute ist nicht einmal mehr auf R Verlass, diese unberechenbare Reproduktionszahl, die scheinbar launenhaft wie eine italienische Operndiva ausschlägt, aber Deppen mit Schlauchboot und schlechtem Musikgeschmack offenbar ignoriert. Jetzt muss jede selbst entscheiden, wie weit sie gehen kann.

Moderatorin, Kolumnistin, Mutter: Aline von Drateln hat sich in den Kopf gesetzt, Venedig ohne Massentourismus zu erleben.
Moderatorin, Kolumnistin, Mutter: Aline von Drateln hat sich in den Kopf gesetzt, Venedig ohne Massentourismus zu erleben.
© privat

Sind 1.135 Kilometer Richtung Süden zu weit? Aber wenn schon anstecken, dann doch lieber an der feuchten Aussprache eines singenden Gondolieres als an der Mutter hinter mir, die nach Globoli fürs zahnende Kind und Alka-Seltzer fragt und dabei ihren Einweg-Mundschutz mit der weißen Seite nach außen trägt.

Stadt der Brüggen sehen ...und sterben?

Rund um den Kollwitzplatz wissen so viele bis heute nicht, wie man Mundschutzrichtig trägt – vielleicht waren die vielen Kinder hier alle gar nicht geplant? Mein Plan steht. Stadt der Brüggen sehen ...und sterben. „Danke. Mehr brauche ich nicht.“ In einer Woche werde ich wieder gesund zurück in Berlin sein, so Gott will. Der Rückweg ist das Ziel.

Aline von Drateln

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