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Jürgen Pohl fühlt sich nach den ersten sechs Monaten im Parlament ernüchtert.
© imago/Christian Ditsch

Politischer Alltag im Parlament: Wie der Bundestag die AfD verändert

Seit einem halben Jahr sitzt der Thüringer Jürgen Pohl für die AfD im Bundestag. Seine Fraktion hat das Parlament aufgemischt. Und der politische Alltag ihn. Eine Langzeitbeobachtung.

Von der Decke hängen riesige kreisförmige Kronleuchter, gespeist wird auf dicken, weißen Tischdecken, zwischen den Parlamentariern eilen schwarz befrackte Kellner umher. Der AfD-Politiker Jürgen Pohl hat im Abgeordnetenrestaurant des Bundestages nur eine Flasche Wasser bestellt. Er sitzt mit dem Rücken zu den anderen Parlamentariern. Der 54-Jährige müsste sonst der Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckart beim Mittagessen zusehen. Pohl sitzt inmitten derer, die er verachtet.

Bis hierher war es aus der thüringischen Provinz ein langer Weg. Begonnen hat er vor einem Jahr auf dem Landesparteitag der AfD in Arnstadt. Er wolle Stachel sein, im Fleische der Etablierten – das versprach Pohl den Mitgliedern seiner Partei. Er bewarb sich um einen Platz auf der Landesliste für den Bundestag. Er redete sich in Rage, sein Gesicht war gerötet. Er sprach über den „Kampf ums Vaterland“ und rief zum Schluss : „Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten. Vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott.“ Der Vers ist häufiger bei Pegida zu hören. Pohl hob den Zeigefinger. „Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten, dann richtet das Volk. Dann gnade euch Gott!“

Pohl verabscheute die Politik und die Menschen, die sie machen. Von sich selbst erwartete er dagegen viel. Jetzt sitzen der Jurist und seine 91 Fraktionskollegen seit einem halben Jahr im Parlament. Pohl stellt Anfragen, hält Reden und nutzt den Fahrdienst des Bundestages. „Stachel sein“ und im gleichen Restaurant sitzen, gegen das System hetzen und selbst Teil davon sein – das ist ein Spagat. „Ein System lässt sich nun einmal nur von innen heraus verändern“, sagt Pohl. Doch wie verändert er den Bundestag? Und wie verändert der Bundestag ihn?

„Wir werden sie jagen“, rief der künftige Fraktionschef Alexander Gauland noch am Abend der Bundestagswahl. Einen Monat später steht Pohl erst mal etwas unschlüssig im Flur eines Bundestagsgebäudes herum. Im Parlament sehen sich die Rechtspopulisten mit einem banalen Problem konfrontiert: Platzmangel. An einem sonnigen Tag im Oktober dürfen sie ihre vorläufigen Büros beziehen. Die Verwaltung hat der Fraktion das Gebäude in der Dorotheenstraße 93 zugeteilt, ein neoklassizistischer Bau unweit des Reichstages, ehemals ein Erweiterungsbau des Reichsinnenministeriums, gebaut 1937. „Ausgerechnet“, sagen sie bei der AfD. Dort müssen sich mehrere Abgeordnete und ihre Mitarbeiter Büros teilen.

"Der Arbeitswille ist groß"

Auch Pohl fragt sich, wie man hier arbeiten soll. „Wir AfDler sind mit dem Selbstbewusstsein hier angetreten, Deutschland zu verändern“, wird er später sagen. „Der Arbeitswille ist groß – aber wenn Büros fehlen und Computer, ist das erst einmal schwierig.“ Vom Jagen kann keine Rede sein.

Pohl hatte im Wahlkampf als „Volksanwalt“ für sich geworben, als „Mann fürs Grobe“, er will Politik für den „kleinen Mann“ machen, Sozialpolitiker sein. Der 54-Jährige ist einer der wichtigsten Vertrauten des thüringischen Nationalisten Björn Höcke im Bundestag. Beide befürworten einen wirtschaftlich eher linken Kurs mit der Maßgabe: Deutsche zuerst. In der Fraktion teilen diese Einstellung vor allem die Landesgruppen aus dem Osten. Sie haben sich informell zu einer „mitteldeutschen Landesgruppe“ zusammengetan, die Pohl anführt. Der in Wirtschaftsfragen neoliberalen Fraktionschefin Alice Weidel macht die Gruppe Bauchschmerzen – auch weil sich viele von ihnen dem „Flügel“ von Höcke zugehörig fühlen. Pohl ist einer derjenigen, die Weidel am meisten nerven.

Wie viele seiner Kollegen hat Pohl noch immer die Worte Höckes im Ohr. Sie schweben wie eine Warnung über den Köpfen der AfD-Abgeordneten. Höcke prophezeite 2017 in seiner umstrittenen Dresdner Rede, nicht wenige aus der AfD würden sich vom parlamentarischen Glanz der Hauptstadt faszinieren lassen. „Nicht wenige werden sich ganz schnell sehr wohl fühlen bei den Frei-Fressen- und Frei-Saufen-Veranstaltungen der Lobbyisten.“ Doch denen müsse man einen Strich durch die Rechnung machen. „Denn wir wissen: Es gibt keine Alternative im Etablierten.“ Für Höcke muss die AfD jetzt Fundamentalopposition sein.

Pohl merkt bereits vor seiner ersten Rede im Bundestag, dass er bei seinen Positionen Kompromisse machen muss. Pohl soll zu der von den Linken geforderten Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sprechen. Er hat in einem Papier zuvor selbst eine Erhöhung des Mindestlohns gefordert, doch in seiner Fraktion ist das umstritten. Um unnötige Konflikte zu vermeiden, muss die Rede ein Sowohl-als-auch sein.

Pohl ist aufgeregt, als er ans Rednerpult tritt. Er beginnt mit dem Satz: „Bei dem Antrag der Linken handelt es sich um eine Attacke aus der Abteilung Agitation und Propaganda.“ Ein höherer Mindestlohn könne nur eine Zwischenlösung sein. Die AfD wolle atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse eindämmen. Bei den Minijobs würde sie ansetzen, „als neue Volkspartei, die sich um die kleinen Leute und um den normalen Arbeitnehmer kümmert.“ Pohl glaubt sich mit diesen Worten treu geblieben zu sein. Doch aus den Reihen der anderen Parteien kommt Gelächter. Der Linken-Abgeordnete Matthias Birkwald ruft: „Das glauben Sie doch selbst nicht!“

Er teilt aus - und will Respekt

„Lachen Sie“, ruft Pohl zurück. Er zeigt auf die Besuchertribünen. „Ihre Wähler schauen zu!“ Es soll gleichgültig klingen, doch Pohl ärgert es, wenn andere sich über ihn lustig machen.

Der Ton im Parlament ist rau geworden. Die AfD provoziert, sie grölt, sie ruft dazwischen, sie bringt Anträge zu Grenzkontrollen, Vollverschleierung und Rückführung syrischer Flüchtlinge. Ihr schärfster Redner, der Abgeordnete Gottfried Curio, sagt Sätze wie „Masseneinwanderung heißt auch Messereinwanderung.“ In seiner Rede zum Doppelpass schafft er es, die NS-Vokabel „entartet“ unterzubringen. Und die anderen Fraktionen lassen sich provozieren. Auch sie rufen dazwischen – vor allem, wenn AfDler am Rednerpult stehen. Sie rechnen in ihren Wortbeiträgen mit AfD-Anträgen ab. In einer sehr persönlichen Wutrede bezeichnete der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir die AfDler als „ Rassisten“.

Pohl nennt die Angriffe der anderen „Pöbeleien“. Er befindet sich wie viele seiner Fraktionskollegen in einem Zwiespalt: Einerseits teilt er gerne gegen „die Altparteien“ aus, andererseits will er mit Respekt behandelt werden. Auch Fraktionschefin Weidel ärgert sich darüber, wenn sie nicht gegrüßt wird oder aus der benachbarten FDP-Fraktion Beleidigungen fliegen.

Die Auseinandersetzungen gehen außerhalb des Plenums weiter. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, der AfD-Mann Stephan Brandner, fotografierte einen Stimmzettel zur Kanzlerwahl auf dem Klo und twitterte das Bild. Eine Mitarbeiterin des sächsischen Abgeordneten Ulrich Oehme tauchte vollverschleiert in der Bundestagskantine auf. An den Türen der Grünen kleben im Jakob-Kaiser-Haus Plakate, auf denen steht: „Bunt statt Grauland, schöner leben ohne Nazis“. Die AfD hat als Antwort ebenfalls Poster aufgehängt: „Deutschland lieben lernen, Antifa-Ausstieg jetzt.“ Höcke würde das gefallen.

An einem Dienstag im Januar, drei Monate nachdem die AfD zum ersten Mal im Bundestag Platz genommen hat, sitzt Pohl im Café Einstein, dem Stammcafé der Berliner Politik. Mit seinem weißen Hemd und den hellgrauen Hosenträgern fällt er hier nicht weiter auf. Von seinem Platz aus kann er auf das Bundestagsgebäude Unter den Linden 50 sehen, wo er bald sein festes Büro bekommen soll.

Pohl spricht über ineffiziente Diskussionen in der Fraktion, „Testosteron-Überschuss“ bei den Sitzungen. „Wir haben in der Fraktion keine Ökonomie der Zeit“, sagt Pohl. Er wirkt müde. Die anfängliche Aufregung und Euphorie über den Einzug ist verblasst. Pohl wollte Stachel sein, jetzt berät die Fraktion stundenlang über Budget- und Stellenpläne.

Außenseiterrolle im Bundestag

Es nervt ihn auch, dass die AfD zwar ab und an für fraktionsübergreifende Anträge stimmt, alle Anträge der AfD aber abgelehnt werden. Das ist normal für eine Oppositionspartei, Pohl ist dennoch „ein wenig ernüchtert über die Wirkung des eigenen Handelns“, wie er sagt. „Alle sind gefangen in Parteischranken. Ich hab gedacht, dass das anders abläuft, aber nur die Regierungsparteien bestimmen die Politik.“ Die AfD könne auf direktem Wege nichts verändern. Es ist in diesem Moment unklar, ob Pohl diese Naivität nur vorgibt oder ob er wirklich geglaubt hat, es würde anders laufen. Er wirkt in jedem Fall frustriert.

Dabei kann ihm die Außenseiterrolle im Bundestag momentan ganz recht sein. Es gibt Strategen in der AfD, die glauben, dass die Fraktion als Opposition im Bundestag nie zu angekommen, nie zu professionell wirken darf. Deshalb nütze es ihr, wenn die anderen Fraktionen die AfD-Kandidaten nicht wählen oder sie angreifen. Wenn wieder ein Antrag nicht durchkommt, kann die AfD ihren Wählern signalisieren: Das würden wir gerne tun – aber die anderen lassen uns nicht.

Weil die AfD im Bundestag inhaltlich wenig erreichen kann, hat sie sich schon früh auf das Ziel verlegt, sich selbst das Parlament zur Bühne und die anderen Fraktionen verächtlich zu machen. Sie rühmte sich in den ersten Wochen und Monaten der fast vollständigen Anwesenheit ihrer 92 Abgeordneten. Ein geschlossener Block, der bei Reden der eigenen Leute aufsprang, applaudierte und grölte – Beobachter fanden das nahezu beängstigend. Geringe Anwesenheit bei den anderen Fraktionen prangerte die AfD gerne an. Auch Pohl twitterte , dass nur die AfD die angemessene Präsenz zeige. Doch seitdem die Ausschussarbeit begonnen hat, hat auch die Anwesenheit bei den AfD-Abgeordneten abgenommen. Es ist zeitlich nicht anders machbar.

Die AfD hat sich in eine Zwickmühle manövriert. Da mag es Pohl schon fast als Ausweg erscheinen, als er im März mit mehreren anderen AfD-Abgeordneten nach Syrien fliegt. Die Gruppe trifft den Großmufti, den Außenminister und den Minister für nationale Versöhnung, ebenso Repräsentanten christlicher Kirchen, Studenten und Universitätsvertreter. Die Reisegruppe bekommt viel Aufmerksamkeit, bei der Pressekonferenz nach ihrer Rückkehr ist der Raum zum Bersten voll. Nur Pohl kommt nicht, er ist krank.

Alles dreht sich um die Rechtspopulisten

Beim Gespräch im Abgeordnetenrestaurant will er dann Bilder zeigen, wischt durch sein Smartphone. Ein Foto hat er von einem Dach in Aleppo aufgenommen, es zeigt unzerstörte Häuser. Auf einem anderen ist er selbst mit einer Gruppe syrischer Studenten zu sehen. Dann kommt ein Bild von jungen Frauen auf einem Markt, mit und ohne Kopftuch. „In weiten Teilen Syriens besteht inzwischen keine unmittelbare Kriegsgefahr mehr für Menschen“, sagt er. Damaskus sei ungefährlich - ein Witz, wenn Journalisten nicht von dort berichteten.

Die Botschaft, die die AfD senden will, ist klar: Syrien ist sicher genug, um dahin zurückzukehren, die Syrer können ihr Land wieder aufbauen. Darüber, dass der Krieg Schätzungen zufolge 500 000 Todesopfer gefordert hat und noch immer neue fordert, spricht auch Pohl nicht.

Kritik an der Reise kann er nicht nachvollziehen. Es sei darum gegangen, sich selbst ein Bild zu machen. Er erzählt von den Malls in Damaskus, vom Treiben auf dem Markt, von jungen Frauen in einer Wohngebietsgaststätte, wo ein Beamer einen Musiksender an die Wand gestreamt habe. Er spricht vom Taxifahren in Damaskus, von Menschen mit Smartphones und Internetempfang. Und die Bomben, die in der Zeit als er in Damaskus war, dort einschlugen? Hat ihm das keine Angst gemacht? Pohl winkt ab. „Da hört man mal ein dumpfes Grollen im Hintergrund. Aber das ist punktuell.“

Die AfD hat es immer wieder geschafft, sich und ihre Themen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Pohl kokettiert gern damit, er sei ja nur ein „kleiner, dicker Anwalt aus Mühlhausen“, er sei nicht wichtig. Dass seine erste Rede im Bundestag eine halbe Million Klicks bekam, freut ihn trotzdem. Alles dreht sich um die Rechtspopulisten. Wenn sich die anderen Parteien an der AfD abarbeiten, gehen zum Teil auch ihre Wortbeiträge im Netz viral. Mehr als hunderttausend Menschen sahen sich zum Beispiel Özdemirs Wutrede gegen die AfD bei Youtube an.

Jede Pöbelei nützt uns

Doch selbst das nützt der AfD. Solange die anderen Fraktionen geschlossen nur auf die AfD losgehen, geben sie genau das Bild einer Einheitsfront ab, das die AfD zu zeichnen versucht. Mittlerweile findet bei den Parlamentariern ein Umdenken statt. Es setzt sich die Überzeugung durch, man dürfe sich nicht von der AfD die Themen diktieren lassen, sondern müsse untereinander streiten. Die Zukunft der Pflege, Managergehälter, die Finanzierung der Mütterrente – solche Themen könne man kontrovers diskutieren, ohne dass die AfD im Mittelpunkt stehe. Manche ignorieren die AfD in ihren Reden schon jetzt ganz.

Auch Pohl bemerkt diese Veränderung. „Die ersten Monate war AfD-Bashing angesagt“, sagt er. Mittlerweile habe das nachgelassen. Er glaubt aber, es liege daran, dass die anderen gemerkt hätten, dass ihre „Pöbeleien“ eine Solidarisierung mit der AfD ausgelöst hätten. „Jede Pöbelei nützt uns. Sie macht uns stark.“

So selbstbewusst sich Pohl in solchen Momenten gibt, der Bundestag mit seinen langen Sitzungen und Diskussionen zehrt an seinen Kräften. „Die da oben“ machen einen harten Job – das spürt Pohl, es ist ja nun auch sein Job. Die Parlamentsarbeit ist komplex. Hier muss Pohl mit seinen Fraktionskollegen eine sozialpolitische Linie erarbeiten. Im Wahlkampf konnte er noch die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich beklagen, Leiharbeit, Hartz IV, Zeitverträge – und am Ende immer zu dem Schluss kommen, alles wäre besser, gäbe man weniger Geld für Ausländer aus. Jetzt geht es um ein echtes Rentenkonzept.

Pohl macht sich an einem sonnigen Tag im April auf den Weg zu seinem neuen Büro. Dort hat er jetzt Platz – keine Kollegen mehr, mit denen er sich das Zimmer teilen muss. Pohl könnte für einen Teil des Weges den unterirdischen Gang nehmen, der einige Bundestagsgebäude miteinander verbindet. Aber er hat keine Lust, sich die komplizierten Verästelungen unterhalb des Parlaments zu erschließen. Er läuft lieber oben lang.

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