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Für Gerda Hasselfeldt ist ihr Ehrenamt zu einem Vollzeitjob geworden.
© Dieter Schütz/DRK

Größtes Flüchtlingslager der Welt: Wenn das Leid selbst der DRK-Chefin zu viel wird

Gerda Hasselfeldt will erfahren, wie Rohingya-Flüchtlingen in Bangladesch leben. Die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes sieht vor allem: Hilflosigkeit.

Mit Sonnenhut auf dem schlohweißen Schopf stapft Gerda Hasselfeldt bei rund 35 Grad durch Puderzuckersand, der bei jedem Schritt eine kleine Wolke aufwirbelt. Während der gut zweistündigen Autofahrt durch chaotischen Verkehr über eine Landstraße hat sie erst saftige Reisfelder und einfache Marktbuden am Straßenrand gesehen, bevor die zahllosen Flüchtlingshütten aus Bambus und Plastikplanen auftauchen, die schließlich auf fast jedem freien Fleck kleben. Auch Hügel, die vor einem Jahr noch frei waren, sind inzwischen bevölkert.

Seit gut einem Jahr ist die CSU-Politikerin Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, jetzt besucht Gerda Hasselfeldt zum ersten Mal ein Flüchtlingslager. Es ist das größte der Welt – Cox’s Bazar in Bangladesch. Dort haben in einem Gebiet mit rund 250.000 Einheimischen mehr als 900.000 Rohingya aus dem Nachbarland Myanmar Unterschlupf gefunden – ungefähr so viele Menschen also, wie Deutschland 2015 aufgenommen hat. Hasselfeldt blickt auf die eng an eng an den kargen Hügeln klebenden Hütten und sagt: „Wir leben in Deutschland im Paradies.“

Sie muss ein Gefühl entwickeln für ihre neue Rolle

Hasselfeldt war Bundesministerin, einmal für Bau, einmal für Gesundheit. Sie war Bundestagsvizepräsidentin und zuletzt CSU-Landesgruppenchefin. Die eher ausgleichende Politikerin hat wie kaum eine andere jenseits der Kanzlerin die hitzige und verletzende Debatte in der deutschen Flüchtlingsfrage am eigenen Leib erlebt, mit der unnachgiebige CSU-Parteifreunde das Land auf eine harte Probe gestellt haben und fast die Union gesprengt hätten.

Heute steht die 68-Jährige als Präsidentin des Roten Kreuzes an der Spitze einer politisch strikt neutralen Organisation, deren internationale Vereinigung auf der Welt manchmal die Einzige ist, die in einem Krisengebiet Menschen in Not helfen darf. Für ihre neue Rolle muss Hasselfeldt nun erst einmal ein eigenes Gefühl entwickeln. Ausgerechnet hier, in Cox’s Bazar, wo sie die Ausweglosigkeit, das schier Unauflösbare einer Katastrophe vor Augen hat.

Am Ende einer steilen Treppe durchziehen grüne Rinnsale mit unangenehmem Geruch den staubigen Weg zwischen den Hütten. Hasselfeldt und ihre kleine Delegation müssen darüberspringen. Die Besucher haben Glück: Sie erwischt keines der Unwetter, die in diesen Wochen schon mal sehr plötzlich aufziehen. Wenn es hier regnet, steht das Wasser – samt allem, was es unterwegs mitreißt – manchmal hüfthoch. Selbst die Bambusbrücke im Tal des in Terrassen an steilen Hängen angelegten Camps ist dann überschwemmt.

Kein Zurück. Rund 900.000 Rohingya leben in Cox’s Bazar. Sie benötigen sauberes Trinkwasser – und eine Zukunftsperspektive.
Kein Zurück. Rund 900.000 Rohingya leben in Cox’s Bazar. Sie benötigen sauberes Trinkwasser – und eine Zukunftsperspektive.
© Ingrid Müller

Jenseits der Senke haben Rotes Kreuz und Roter Halbmond auf halber Höhe ein kleines Schulungszentrum eingerichtet. In der Hütte unter der orangefarbenen Plane ist es heiß, voll ist sie trotzdem. Frauen mit farbigen Kopftüchern und Männer in Wickelröcken verfolgen konzentriert drei Rotkreuz-Mitarbeiter, die Bilder und eine bunte Haube hochhalten. Sie erläutern den hygienischen Umgang mit Lebensmitteln. Gerda Hasselfeldt lässt sich die Anstrengung nicht anmerken, während der Tiroler Wasserexperte Christopher Bachtrog erklärt: „Das Grundwissen ist meist da, wir erinnern sie vor allem daran, was wichtig ist.“

Einerseits wollen die Tage sinnvoll gefüllt werden, denn die Rohingya dürfen in Bangladesch nicht arbeiten oder das Lager verlassen. Zudem leben sie in einer besonderen Stresssituation. Viele von ihnen haben Traumatisches erlebt, wissen nicht, wo Familienmitglieder sind oder wie es für sie in Zukunft weitergehen wird. In dieser Lage gehe jedem so vieles durch den Kopf, da „vergisst man oft, auf sich selber aufzupassen“, sagt Bachtrog.

In Myanmar gelten sie als illegale Einwanderer

Der größte Teil der 900.000 muslimischen Rohingya aus Myanmar, die derzeit in Cox’s Bazar leben, ist nach dem 25. August 2017 in einem beispiellosen Massenexodus über die Grenze geflohen. Damals beschuldigte Myanmars Armee die Rohingya-Rebellengruppe Arsa – die Arakan Salvation Army –, sie habe 30 Militärposten überfallen. Anschließend ging die Armee des mehrheitlich buddhistisch geprägten Landes brutal gegen die in Myanmar nicht anerkannte Minderheit vor, die für sich reklamiert, bereits seit Jahrhunderten im Westen des Landes zu leben, im Rakhaing-Staat, einer der Verwaltungseinheiten Myanmars.

Der Regierung dagegen gelten die Rohingya als „Bengalen“, als illegale Einwanderer aus Bangladesch. Während der Vergeltungsaktion wurden Rohingya gefoltert, vergewaltigt, getötet, Häuser und Dörfer niedergebrannt. Die Vereinten Nationen verurteilten das Vorgehen als ethnische Säuberung. Armee und Regierung in der Hauptstadt Naypidaw beharren bis heute darauf, nur gegen Terroristen vorgegangen zu sein. Der Zugang zu der Region ist für Ausländer gesperrt, niemand kann sich dort unabhängig ein Bild von der Situation machen.

Was die Menschen hinter sich haben, danach fragt Hasselfeldt sie nicht

Hasselfeldt sieht sich eine Erste-Hilfe-Übung mit Freiwilligen an. Sie sind mit vollem Einsatz dabei. Lautes Stöhnen inklusive, führt je ein Team aus Frauen und Männern in der Mittagssonne vor, wie sie Verletzte versorgen. Hasselfeldt wird später erklären, sie brauche vor allem ein Gefühl dafür, wie das Rote Kreuz hier arbeite und wie die Zusammenarbeit mit der Internationalen Rotkreuzgemeinschaft funktioniere.

Was die Frauen und Männer hier im Camp hinter sich haben, wie sie ihre Situation empfinden, danach fragt Gerda Hasselfeldt sie nicht. Welches Schicksal und welche Gewalt die Rohingya erlebt haben, „das weiß ich aus Erzählungen“, sagt sie. „Mit ihnen muss ich mir nicht die Geschichten erzählen.“

Monira Begum fragt sich, wo ihre vierjährige Tochter spielen soll.
Monira Begum fragt sich, wo ihre vierjährige Tochter spielen soll.
© Ingrid Müller

Es sind Geschichten von großem Leid (ausführlichere Protokolle lesen Sie hier), fast alle im Lager können davon berichten. Wie die der 30-jährigen Monira Begum, die mit sechs Familienmitgliedern flüchtete, nachdem ihr Mann in einem Nachbardorf ermordet worden war, wie sie sagt. Die einen Teil der Hilfsgüter, die sie vom Roten Kreuz bekommt, verkauft, um frisches Gemüse zu erstehen und die sich Sorgen macht, weil ihre vierjährige Tochter bald so alt ist, dass sie zur Schule müsste. Doch ob Rohingya in Bangladesch überhaupt unterrichtet werden dürfen, darüber wird gestritten.

Ziaur Rahman ist empört, dass Myanmars Armee behauptet, er gehöre zu den Rebellen.
Ziaur Rahman ist empört, dass Myanmars Armee behauptet, er gehöre zu den Rebellen.
© Ingrid Müller

Oder man hört die Geschichte von Ziaur Rahman, der im Lager als eine Art Lehrer arbeitet, 80 Kindern Mathematik und Englisch beibringen will, obwohl er die Sprache selbst nur rudimentär versteht und dessen Hütte im Camp bald auseinanderfällt, er aber noch nicht weiß, woher er neues Baumaterial kriegt. Der zurück will in die Heimat, in die Stadt Maungdaw, wo er einen Fischereibetrieb gehabt habe, der aber auch sagt, wenn es nach ihm gehe, müssten die buddhistischen Nachbarn, von denen viele die Unabhängigkeit von Myanmar fordern, Rakhaing verlassen. „Dort ist nur Platz für Rohingya.“

Imam Hadayet Ullah glaubt, dass er im Flüchtlingslager sterben wird.
Imam Hadayet Ullah glaubt, dass er im Flüchtlingslager sterben wird.
© Ingrid Müller

Und man hört die Geschichte von Imam Hadayet Ullah, der enttäuscht ist von Myanmars De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi. Von der Friedensnobelpreisträgerin hatte er Unterstützung erwartet, „aber die Situation ist viel schlimmer als früher“. Auf seinen Ort seien Bomben abgeworfen worden. Alle drei wollen zurück, und alle drei wagen es nicht, solange Myanmars Regierung ihnen nicht verlässlich zusichert, als Staatsbürger anerkannt zu werden.

Gerda Hasselfeldt will sich diese Geschichten nicht anhören. Sie sagt: „Das würde mich persönlich überfordern.“ Doch sie sagt auch, sie habe sich vor der Reise „keine Illusionen“ gemacht, was sie in den Lagern erwarte. Was sie gesehen hat, hat dennoch Eindruck hinterlassen. „Es ist deprimierend, durch das Camp zu gehen und hunderttausende Menschen zu sehen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind“, sagt sie, während hinter ihr Mädchen Wasser holen. Sie deprimiere auch, „dass diesen Menschen die Perspektive fehlt“. Eine Zukunftsperspektive, die auch das Rote Kreuz nicht bieten kann.

Ohnehin, so sagt sie, gehe es um mehr als die CSU

Die Welt blickt hilflos auf die Rohingya in Cox’s Bazar. Nirgendwo sind sie erwünscht. Bangladesch hat sie aufgenommen und nicht wieder vertrieben, will sie aber nicht dauerhaft im Land haben – und keine weiteren aufnehmen. Die Regierungen in Dhaka und Naypidaw haben bereits mehrfach Rückführungsvereinbarungen getroffen, aber die Voraussetzungen für eine freiwillige und sichere Rückkehr fehlen. Ob es unter UN-Vermittlung eine Lösung geben kann, ist unklar. An eine baldige Rückkehr glaubt jedenfalls niemand, momentan geht es nur um die Verbesserung der Lebensverhältnisse.

Gerda Hasselfeldt sagt, sie werde nach der Reise ihre „Kontakte in die politisch verantwortlichen Kreise schon nutzen“. Welche Gedanken ihr durch den Kopf gehen, wenn sie hier an die Querschüsse aus ihrer eigenen Partei in der Flüchtlingsfrage denkt, darüber möchte sie nicht gern reden. Bei allen Differenzen mit manch dröhnendem Mannsbild daheim – am Ende ist sie doch durch und durch ein CSU-Gewächs. Statt auf den Ärger einzugehen, preist sie die Bemühungen des CSU-Entwicklungsministers, der „landauf, landab“ Fluchtursachen zu bekämpfen versuche. Mit ihm fühlt sie sich auf einer Linie. Ohnehin gehe es um mehr als die CSU. „Es gibt kein parteipolitisches Defizit, sondern ein Defizit in der Gesellschaft insgesamt, und da müssen wir alles daransetzen, um sie wachzurütteln“, sagt die Rotkreuz-Chefin, die hier im Camp sieht, wie viel Hilfe nötig ist, auch wenn das Thema zu Hause weitgehend von der Tagesordnung verschwunden ist.

Selbst für die Profis ist es nicht einfach, täglich in dieser Umgebung zu arbeiten. Auch am Abend gibt es kaum Ablenkung. Wer hier hilft, braucht eine Menge Gelassenheit. Den Helfern wird empfohlen, spätestens alle vier Monate Cox’s Bazar zu verlassen und Urlaub zu machen.

Die große Furcht: Ein Zyklon könnte das Camp bald unter Wasser setzen.
Die große Furcht: Ein Zyklon könnte das Camp bald unter Wasser setzen.
© Dieter Schütz/DRK

Für Gerda Hasselfeldt ist das Ehrenamt der DRK-Präsidentin zu einem Vollzeitjob geworden. Und sie weiß: „Das ist keine kurzfristige Krise.“ Die Rotkreuz-Mitarbeiter werden noch länger humanitär in dem riesigen Flüchtlingslager helfen müssen. Doch das bedeutet, dass es auch für sie und ihre Arbeit eine Perspektive geben muss. Bisher werden entsprechende Etatmittel aus dem Topf des Auswärtigen Amtes nur für maximal ein Jahr gezahlt. „Wir brauchen nicht unbedingt mehr, sondern anhaltend Mittel“, sagt Hasselfeldt vorsichtig. Um das zu erreichen, ist sie überzeugt, müsste kein Gesetz geändert werden, sondern nur die „Praxis im Haushaltsgebaren“. Bisher wird streng zwischen humanitärer Nothilfe und langfristiger Entwicklungshilfe unterschieden. Beides ist aber immer häufiger nicht deutlich zu trennen.

Bisher waren als Baumaterial nur Bambus und Planen erlaubt

Auch in Bangladesch ist die Dauer der Hilfe Thema und erfordert ein sensibles Vorgehen der Helfer. Denn die Regierung in Dhaka befürchtet, dass feste Strukturen im Lager als Signal missverstanden werden könnten, dass die Rohingya bleiben können. „Erst jetzt können wir so eine Gesundheitsstation bauen“, sagt Hasselfeldt und klopft an die Metallwand eines Hauses, das sie gerade eröffnet hat, auch wenn hier noch kein Stuhl und kein Bett stehen. Bisher waren als Baumaterial nur Bambus und Planen erlaubt. Sie halten der Witterung aber nicht stand – genauso wenig wie bei all den Hütten der Flüchtlinge. Auch dort soll es bald Wellblech geben.

Gerda Hasselfeldt will die medizinische Versorgung im Lager verbessern.
Gerda Hasselfeldt will die medizinische Versorgung im Lager verbessern.
© Ingrid Müller

In der neuen Gesundheitsstation aus Metall können Mütter ihre Kinder zur Welt bringen, kleinere Verletzungen und Krankheiten behandelt werden. 30 Mitarbeiter werden hier tätig sein. Der Rote Halbmond sucht im ganzen Land nach Personal – und zahlt überdurchschnittlich gute Löhne. Denn auch in Bangladesch zieht es Ärzte und Krankenschwestern nicht aufs Land. Die Rotkreuzler versuchen, sich über die Bezahlung mit anderen Organisationen abzustimmen, sagt Projektleiter Alfred Hasenöhrl. Sie alle wissen, was der Wettbewerb um gute Leute für den Arbeitsmarkt bedeutet.

Flut, Erdbeben, Zyklone: eine "never ending story"

In diesen Wochen kommt eine weitere Herausforderung hinzu. Die Helfer haben begonnen, sich auf einen Zyklon vorzubereiten. Nach mehreren ruhigen Jahren befürchten viele Einheimische, dass es ihre Region in diesem Jahr treffen wird. Das Rote Kreuz legt Vorratslager an und hat ein bereits in den 1990er Jahren errichtetes Gebäude in der Nähe der Küste reaktiviert, das im Falle einer Flut 300 Personen Zuflucht bieten soll. Für alle reichen wird das nicht. Dort trifft Hasselfeldt den kroatischen Vorsorgeexperten Ead Becirevic. „Das hier ist der schlimmste Platz auf Erden für eine Katastrophe“, sagt er. Auch ohne einen einzigen Flüchtling fange hier immer wieder alles von vorne an. „Eine never ending story.“ Flut, Erdbeben, Zyklone. Wie Hilfe auf den wenigen kleinen Straßen herangeschafft werden soll, mag sich kaum jemand ausmalen.

Die Schlaglöcher kann nicht einmal der komfortable schwarze Toyota Land Cruiser Prado abfedern, in dem Gerda Hasselfeldt unterwegs ist. „Ich wackel jetzt g’scheit“, entfährt es ihr, als sie nach elf schweißtreibenden Stunden wieder am Hotel aussteigt, das immerhin das Paradies im Namen führt. Auf die Rotkreuz-Präsidentin wartet im „Ocean Paradise“ jetzt die Badewanne.

Die Reise nach Bangladesch wurde vom Deutschen Roten Kreuz unterstützt.

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