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Großstadt voller Hütten. Die Lager, in denen die Rohingya leben, sind von mehr Menschen bevölkert als Leipzig oder Stuttgart.
© Richard Licht

Flüchtlingskrise: Rohingya sollen zurückkehren - aber viele haben Angst

Mehr als 650 000 Menschen flohen seit August aus Myanmar nach Bangladesch. Die Rohingya leben in erbärmlichen Verhältnissen, eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht.

Flink läuft die junge Frau den steilen Lehmhügel hinunter, biegt hinter einem Abwasserkanal nach links ab, stoppt vor einer Hütte aus Bambus und Plastikplanen. Nur Nahar richtet ihr hellgrün-pinkfarbenes Kopftuch, macht sich klein und schlüpft durch einen schmalen Einlass einen halben Meter tiefer ins Innere. Hier wohnt die 27-Jährige mit ihren beiden Kindern, acht und zwölf: auf nacktem Boden, ohne Fenster, ohne Licht. Ihre Habseligkeiten hat sie ordentlich in einem Regal an der Wand gestapelt, Kleidung hängt auf einer Leine, die sie quer durch die Unterkunft gespannt hat.

Nur Nahar ist eine der 655.000 Rohingya, die seit Ende August 2017 vor extremer Gewalt in ihrer Heimat im Nordwesten Myanmars ins Nachbarland Bangladesch geflohen sind – ein Massenexodus ohne Beispiel. Anders als insgesamt 135 Ethnien sind die muslimischen Rohingya im vornehmlich buddhistisch geprägten Myanmar nicht anerkannt. Sie gelten als „Bengalen“, als illegale Einwanderer aus Bangladesch.

Die Vereinten Nationen zählen die Rohingya zu den weltweit am stärksten verfolgten Minderheiten. Am 25. August vergangenen Jahres sollen Radikale der so genannten Arakan Salvation Army, einer Rohingya-Rebellentruppe, 30 Militärposten überfallen haben. Myanmars Militär, das bis vor wenigen Jahren das Land regierte, reagierte mit voller Härte – nach Darstellung der Armee aber ausschließlich gegen Terroristen. Die Vereinten Nationen dagegen sprachen von „ethnischer Säuberung“.

Fast jeder berichtet von getöteten Verwandten oder Nachbarn

Vor ein paar Tagen gestand Myanmars Militärführung zwar erstmals ein, Soldaten und Buddhisten hätten zehn Menschen getötet, blieb aber dabei, dass es sich bei den Getöteten um Terroristen gehandelt habe. Rohingya sagen, getötet wurden Zivilisten. Die meisten Geflüchteten leben inzwischen in einem riesigen, mäandernden Lager auf den Hügeln entlang der Grenze in Bangladesch – es heißt Kutupalong und gilt als das größtes Flüchtlingslager weltweit. Nahezu jeder, der hier danach gefragt wird, berichtet von getöteten Verwandten oder Nachbarn.

Nur Nahar reißt in der Mittagssonne ihre Arme hoch, als hielte sie ein Gewehr im Anschlag. „Die Soldaten haben zwei meiner Brüder erschossen“, sagt sie. „Buddhistische Zivilisten und Soldaten sind in die Häuser eingedrungen, haben Frauen herausgezogen, haben sie vergewaltigt. Manche sind schwanger geworden.“

Daheim in ihrem Dorf Kuashong war Nur Nahar Bäuerin, sie baute mit ihrem Mann Reis und Tomaten an. Nach dem Überfall floh sie mit anderen aus dem Dorf. „Wir haben sieben Tage bis zur Grenze gebraucht.“ Ihr Mann sei „an einen anderen Ort gegangen“, sagt sie, ohne das weiter auszuführen. „Ich weiß nicht, ob er noch lebt oder tot ist.“

Wie so viele andere würde sie auch hier im Lager gerne etwas anbauen. Wer irgend kann, legt auf dem steilen Hang vor der Hütte ein Gärtchen an. Für die hunderttausenden Flüchtlinge, die hier entlang der Grenze in diesem nicht enden wollenden Flüchtlingslager leben, das mehr Einwohner hat als Leipzig oder Stuttgart, gibt es kein Ackerland.

Aus der Luft wirken die Hütten aus weißen, orangeroten, blauen und schwarzen Planen ordentlicher nebeneinander gebaut als manche deutsche Stadt, innen sind sie aufgeräumt. Längst sind an den Hauptwegen Marktstraßen entstanden. Hier gibt es Obst, kleine Tütchen mit Snacks, Zigaretten und die allgegenwärtigen in Blätter gewickelten, mit Kalk vermischten Betelnüsse.

Für die meisten Geflüchteten bedeutet der Alltag allerdings: Schlange stehen. Offiziell dürfen sie die Lager nicht verlassen, an Kontrollpunkten wacht das Militär. Bangladesch, das sie im Herbst zunächst mit offenen Armen empfing, möchte nicht, dass sich die Flüchtlinge niederlassen.

50 Menschen teilen sich eine Toilette

Für viele Kinder fängt der Tag schon in einer Schlange an. In Schichten bekommen sie einen Teller Reis, den sie hinunterschlingen. Mit einer Viertelmillion Euro unterstützt beispielsweise die Duisburger Kindernothilfe die Arbeit hier. Jedes fünfte Rohingyakind ist unterernährt – nicht erst seit der Flucht. Die Erwachsenen stehen an für Reis vom Welternährungsprogramm, für Wasser, für Sweatshirts aus Indonesien. Öfter auch für die Toilette, die sich im Schnitt 50 Menschen teilen.

Zu hören ist kaum etwas von den Männern, die nachmittags in Reih und Glied an der Ausgabestelle warten. Anders als in vielen anderen Flüchtlingslagern wird in Kutupalong nicht gerempelt oder geschrien. Mit einem blauen Daumenabdruck quittiert jeder, was ein Helfer auf die Bedarfskarte schreibt: eine blaue und eine orangefarbene Plane, 30 Meter Seil, Hygieneset, Moskitonetz. Mancher geht fast in die Knie, als ihm das alles auf die schmalen Arme gestapelt wird. Auch dicke Bambusstangen bekommen die Menschen.

Nur Nahar hat zwei Decken ergattert. Die kann sie nachts auf dem Boden ihrer Hütte gut gebrauchen. In diesem Jahr ist es besonders kalt in Bangladesch.

Arbeiten und Geld verdienen dürfen die Rohingya nicht

Alle wissen, einen Teil der Hilfsgüter werden viele wohl später verkaufen, um dafür beispielsweise Gemüse zu erstehen, das es in keiner Schlange gibt. Denn arbeiten und Geld verdienen dürfen die Rohingya nicht. Und wer wenigstens einen Job als Helfer hier im Lager ergattert, bekommt 28 Euro im Monat. Um eine Familie zu ernähren, ist mindestens das Doppelte nötig.

In der Nähe der Planen-Ausgabe macht sich Muhamad Haries Luft. Der 23-Jährige sagt, er sei Lehrer. „Ich habe kein Vieh hier, ich habe keinen Job“, ruft er mit betelroten Zähnen. „Wir wollen Gerechtigkeit.“ Schnell bildet sich eine Menschenmenge um ihn und das kleine Bündel auf seinem Arm, seinen für das Alter viel zu kleinen zweijährigen Sohn. „Was sagt ihr?“, wendet er sich wie ein Rädelsführer an die Menge. Die nickt.

Die Hilfsorganisationen, die ihre Quartiere im nahegelegenen Urlaubsort Cox’s Bazar an der Küste aufgeschlagen haben, rechnen damit, dass 1,2 Millionen Rohingya in Bangladesch Hilfe brauchen. Schon vor der jüngsten Massenflucht im August waren rund 300.000 von ihnen über die Grenze geflohen. Gerade machen Gerüchte die Runde, in den nächsten Tagen würden noch einmal mehrere tausend Rohingya kommen, nachdem es im Dezember nur noch gut 2000 waren.

Inzwischen sind die meisten Hütten gebaut, Essensrationen werden nicht mehr für eine Standardfamilie von fünf, sondern für die realen durchschnittlichen Neun-Personen-Haushalte ausgegeben. Doch die Lage wird nicht einfacher.

Im April beginnt die Monsun- und Zyklonsaison. Dann werden sich die Hügel in glitschige Rutschbahnen verwandeln, die Planen bieten keinen Schutz vor den Tropenstürmen. Wie wird es dann in der Behausung von Nur Nahar aussehen? Werden die Plastikkanister genug Schutz bieten, in die sie ihre Reisvorräte schon jetzt umfüllt? Wird der Küchenverschlag standhalten, in dem sie morgens ihren Tag beginnt? Immerhin hat der Teil des Lagers, in dem sie neben einer schon früher geflohenen Tante untergekommen ist, einen Herd, der über eine Biogasanlage betrieben wird. Niemand möchte sich aber ausmalen, was im Dauerregen mit den Latrinen passiert, die den Rohstoff liefern.

Auch die Wasserversorgung wird schwierig, denn in der Region gibt es kaum Oberflächenwasser. Für sauberes Wasser sind professionelle Bohrungen nötig. Auf Dauer reichen all die Handpumpen nicht, wie sie Nur Nahar und ihre Nachbarn in Kutupalong benutzen.

"Alle wissen seit 1982, dass wir verfolgt werden"

Im Moment aber beschäftigt viele nur das tägliche Überleben – und die ihnen angetane Gewalt im vergangenen August, und deren Gründe und Folgen. Den 33-jährigen Mynhtet zum Beispiel. Er lacht und sagt: „Die haben Messer und Steine, aber keine Gewehre.“ Er spricht über den angeblichen Grund der Vertreibung der Rohingya, über die Arakan Salvation Army und deren Anschläge. Er sagt: „Alle wissen seit 1982, dass wir verfolgt werden, aber international hilft praktisch niemand.“ Die Rebellenarmee sage, „sie kämpft für die Rechte der Rohingya“. Er selbst habe bislang zwar keinen der Rebellen persönlich gesehen, nur ein Video auf Youtube gefunden. „Sie mögen unrecht haben oder recht, ich weiß es nicht.“

Er selbst will nicht in Bangladesch bleiben. Mynhtet sagt, er habe in Sittwe – der Hauptstadt des Rakhaing-Staates, der Heimatregion der Rohingya in Myanmar – studiert, als die Mitglieder seines Volkes das noch durften und rund 1000 Euro im Monat verdient. „Uns ging es in Rakhaing nicht gut, aber wir haben nie unter Plastikplanen gewohnt“, sagt er. Für ihn war das, was Ende August in seinem Heimatort passiert ist, eine gezielte und flächendeckende Aktion gegen die Rohingya.

Shamima, 35, versuchte sich im Schutz der Dunkelheit auf einem Boot mit 80 Leuten zu retten. Mitten auf dem Grenzfluss haben Räuber sie attackiert, sagt sie, der Kahn sank. „Sie haben uns alles weggenommen, aber wir haben sie angefleht: Wir sind doch vor der Gewalt in Rakhaing geflohen, lasst uns wenigstens leben.“ Mit ihr und acht anderen hätten die Angreifer Erbarmen, gehabt, ihren Bruder und all die übrigen ließen sie vor ihren Augen sterben. Die Mutter hat das nicht verwunden, sie liegt seither im Krankenhaus.

Die Kinder langweilen sich, Schulunterricht gibt es nicht

Shamima hat jetzt, hier im Flüchtlingscamp, keine Angst mehr vor Überfällen von Soldaten, aber sie fürchtet sich vor Räubern. „Zu Hause hatten wir ein Holzhaus, durch die Plastikplanen hier kann doch jeder rein.“ Und wer nachts mal raus müsse, sei auch nicht sicher. „Wir wissen nicht, wer die Überfälle verübt.“ Aber sie wünscht sich, dass das bangladeschische Militär nicht um 17 Uhr das Lager verlässt, sondern auch nachts Wache schiebt. Diesen Soldaten vertraut sie.

Ihre siebenjährige Tochter fragt trotz allem ständig, wann sie wieder nach Hause gehen. „Sie langweilt sich, hier gibt es statt Schule nur Kindergarten.“ Das wissen sie auch bei den Hilfsorganisationen. Vor allem: Selbst wenn endlich Schulklassen eingerichtet werden: In welcher Sprache soll unterrichtet werden? Mit welchen Büchern? Die Sprache der Rohingya ist keine Schriftsprache. Die kugelrunde, in Myanmar gebräuchliche Schrift kennen die meisten Geflüchteten nicht, die Schrift der Amtssprache Bangladeschs würde ihnen in Myanmar wiederum nichts helfen, Englisch können nur wenige.

Geht es nach offiziellen Stellen in Bangladesch, sollen die Flüchtlinge allerdings ohnehin nicht lange bleiben. Zuletzt beschloss die Regierung des Landes gemeinsam mit der – unter massivem internationalen Druck stehenden – des Nachbarn Myanmar, der größte Teil der Geflüchteten solle innerhalb von zwei Jahren zurückkehren. Schon in dieser Woche soll die Rückkehr beginnen, zunächst begrenzt auf 300 Menschen pro Tag.

Myanmars Regierung will bis dahin das erste Übergangslager, Camp Hla Pho Khaung, fertiggestellt haben, das 30 000 Menschen aufnehmen könne. Ein zweites sei im Bau. Bangladesch soll bereits 100 000 Namen registrierter Flüchtlinge gemeldet haben, die Myanmar nun prüfen will. Gilt es, nur noch eine große logistische Aufgabe zu lösen? UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnt: „Das Schlimmste wäre, die Menschen von Lagern in Bangladesch in Lager in Myanmar zu bringen.“ Sie müssten in ihre Häuser zurückkehren – und zwar freiwillig.

Zurück? Nur abgesichert von UN-Friedenstruppen

Leute, die den Rakhaing-Staat kennen, sagen, Myanmar habe überhaupt nicht vor, die Rohingya dorthin zurückkehren zu lassen, wo sie gelebt haben. Ihr Land sei längst besetzt worden. Demnach sei die Vertreibung vorangetrieben worden, um die Region für Buddhisten und lukrative Geschäfte mit dem rohstoffhungrigen Großinvestor China freizuräumen.

„Wir wollen alle so schnell wie möglich zurück“, sagt Mynhtet. „Aber vorher müssen alle identifiziert und bestraft werden, die Rohingya vergewaltigt, ermordet und ihre Häuser angezündet haben.“ Erst danach könne es eine Rückkehr geben. „Und die muss von UN-Friedenstruppen abgesichert werden.“ Für Myanmars Militär gibt es allerdings eine Amnestieregelung. „Sie haben versucht, uns als Bengali abzustempeln. Wir haben Beweise, dass wir Bürger Myanmars sind, aber sie wollen sie nicht ansehen. Meine Großmutter und mein Großvater hatten Ausweise“, schimpft der schmale Mynhtet.

Die „Rohingya-Card“, die Rückkehrer den bilateralen Vereinbarungen zufolge erhalten sollen, will er nicht akzeptieren, denn damit würden sie als Bangladescher ausgewiesen. „Wir wollen die gleichen Ausweise wie alle anderen.“

Mynhtet fürchtet außerdem den Furor buddhistischer Nachbarn in Rakhaing, von denen zudem viele die Unabhängigkeit des Gebiets von Myanmar fordern – auch da stören die Rohingya, die das gleiche Gebiet beanspruchen. „Sie hassen uns“, sagt Mynhtet. „Dabei haben bei uns 2010 bei den ersten Wahlen nach 1990 rund 98 Prozent die buddhistische Partei gewählt.“ 2015 durften die Rohingya nicht wählen.

Leben in einem offenen Gefängnis

Auch zur De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi geht er deutlich auf Distanz. Anfangs sei die Friedensnobelpreisträgerin gut gewesen. „Aber 2015 hat sie alle muslimischen Parteimitglieder ausgeschlossen. Wir können ihr nicht mehr vertrauen. Eine gute Führerin muss neutral sein.“ Er befürchtet, dass sie ihn bei einer Rückkehr nach Myanmar beschuldigen, er sei Terrorist. „Vielleicht“, überlegt er, wäre für ihn doch „ein drittes Land die beste Option“. So denkt auch sein Freund Maung Maung. Für die Rohingya sei es im Rakhaing-Staat „wirklich wie im Gefängnis, ein großes offenes Gefängnis“.

„Bevor ich zurückgehe, sterbe ich hier“, ruft Muhamad Haries, der junge Lehrer, dessen Eltern daheim zurückgeblieben sind. „Auch wenn sie uns Bürgerrechte versprechen. Die Antwort heißt: Nein.“ Wieder peitscht er die Menge auf: „Und ihr?“ Die Antwort ist ein kollektives: „Nein“.

Zurück? Nur Nahar verliert von einer Sekunde auf die nächste ihre Ruhe. „Zurück nach Kuashong?“ – zurück in ihr Dorf? Das hat sie noch niemand gefragt. Sie reißt die Augen auf, macht schnelle, abwehrende Handbewegungen. „Auf keinen Fall gehe ich zurück. Wir sind dort nicht sicher. Wir haben kein Haus mehr.“ Und sie hat auch keine Papiere, um nachzuweisen, dass sie jemals dort gewohnt hat. Da bleibt sie lieber in ihrem dunklen Verschlag in Kutupalong.

Die Recherchereise nach Bangladesch wurde von der Kindernothilfe unterstützt. Die Kindernothilfe bittet für die Soforthilfemaßnahmen für die Rohingya in Bangladesch um Spenden:

Konto:

Kindernothilfe e.V. Bank für Kirche und Diakonie eG (KD-Bank) Stichwort: Rohingya IBAN: DE 92 350 60 190 0000 45 45 40

Richard Licht

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