Zehn Jahre nach Zyklon Nargis: Der tödliche Tropensturm, der Myanmar bis heute zeichnet
Vor genau zehn Jahren peitschte Zyklon Nargis meterhohe Wellen durchs Irrawaddy-Delta. Die Junta verhinderte damals Hilfsaktionen.
Der Bootsführer hat die Leistung des knatternden Außenborders längst gedrosselt, aber hier kann er wirklich nicht weiter. Bis zum kleinen Anleger in Myanmars Irrawaddy-Delta sind es noch ein paar hundert Meter den Fluss hinauf, aber die Ebbe zwingt die Passagiere durchs Unterholz ans Ufer. Für die Menschen hier ist es Alltag: Wer nicht rechtzeitig unterwegs ist, muss sehen, wie er ans Ziel kommt. Denn in das kleine Dörfchen Nyi Naung geht es nur auf dem Wasser oder über schmale, sandige Fußwege und einfachste Brücken aus Bambusstäben oder Baumstämmen.
Das Wasser. Immer wieder das Wasser. Vor zehn Jahren verwüstete der Zyklon Nargis hier alles. In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 2008 peitschte der Wirbelsturm mit Böen bis zu 240 Stundenkilometern hohe Wellen durch die weitverzweigten Flussarme des Irrawaddy bis zu 40 Kilometer ins Landesinnere. Nargis riss 140 000 Menschen in den Tod, zerstörte Dörfer und flutete die Felder der Reiskammer des Landes mit Salzwasser. 2,4 Millionen Menschen waren von dem Wirbelsturm betroffen, der bis heute als der tödlichste Tropensturm gilt.
Während Leichen in den Flüssen trieben, die Überlebenden verzweifelt nach Angehörigen und Essbarem suchten, ließ die damals regierende Junta wochenlang keine ausländische Hilfe für die Menschen in einer der ärmsten Regionen des Landes zu.
War das wirklich hier, wo das Grün üppig wuchert, Vögel zwitschern, ein Mann sein Boot streicht, eine Frau ihre Wäsche auf einem Stein ausschlägt und Kinder am Wasser spielen? Hier, wo das Trinkwasser in großen glasierten Tonkrügen vor mit Palmwedeln gedeckten Hütten steht?
Die Narben, die die Wucht des Wassers schlug, sind auf den ersten Blick nicht zu sehen. Aber die Menschen in Nyi Naung sind bis heute tief gezeichnet, Nargis hat auch das soziale Gefüge des Dorfes nachhaltig verändert.
„Der Nargis-Tag ist immer schwierig, wir sind sehr traurig und versuchen unser Bestes. Aber die Angst kommt dann immer wieder hoch. Viele von uns würden am liebsten wegrennen“, erzählt ein Mann im traditionellen Wickelrock, dem Longyi, den die Erwachsenen hier alle tragen. „Wir sprechen oft über Nargis. Die ersten vier, fünf Jahre war es besonders schlimm.“ Am 2. Mai werden sie der Opfer im Dorf gedenken, wer Angehörige verloren hat, wird eine kleine Zeremonie veranstalten und den Mönchen etwas spenden, manche laden Nachbarn ein.
In Nyi Naung nahm Nargis vielen all ihr Hab und Gut, ihre Hütten, ihr Vieh, ihr Saatgut. Hier starben elf Nachbarn, sagen sie, in anderen Dörfern kam mehr als die Hälfte der Bewohner um. In der Region rund um die Bezirksstadt Bogale, zu der Nyi Naung gehört, gab es nach dieser Nacht 200 der 385 Dörfer nicht mehr. 400 Menschen leben heute in Nyi Naung mit seinen weit über die Reisfelder verstreuten Hütten, die Hälfte davon sind Kinder.
Kokosnüsse waren ihre Rettung
„Mein Vater hat als Erster gemerkt, dass der Wind immer stärker wird. Das Wasser stieg und stieg. Um elf Uhr abends war unser Haus schon beschädigt“, erzählt Ken Niat Mon und zeigt Richtung Dach. Die Lehrerin, die ihr Gesicht mit der traditionellen, hellgelben Thanaka-Paste geschminkt hat, sitzt in weißer Bluse und grünem Wickelrock, der Lehrerinnenuniform, auf einer Matte am Boden. „Wir haben überlegt, ob wir fliehen sollen, aber meine Eltern haben gesagt, wir gehen auf keinen Fall raus. Erst am nächsten Morgen haben wir gesehen, wie viele Häuser und Felder zerstört waren.“ Die Bäume lagen kreuz und quer, sie konnten sich kaum im Ort bewegen, geschweige denn das nächste Dorf erreichen. Ihre Vorräte: alle weggerissen. Ein „reicher Nachbar“ gab ihnen etwas Reis. Dann waren die Kokosnüsse ihre Rettung. Sie haben das Kokoswasser getrunken, die Nüsse gegessen. Hilfe kam erst mal keine.
Aber die Saatzeit kam, sie mussten pflanzen, obwohl auf den Feldern salziges Meerwasser stand. Also sind sie zu einem Geldverleiher gegangen. Der verlangte 20 Prozent. Sie mussten mehrfach säen und die Ernte fiel mager aus, sie konnten ihre Schulden nicht zurückzahlen – also liehen sie sich mehr. Im nächsten und im übernächsten Jahr war es nicht viel besser. Bis heute sind sie die Schulden nicht los, materiell geht es ihrer Familie schlechter als vor der Katastrophe, erzählt Ken Niat Mon ganz ohne Bitterkeit. Wie andere Familien beschäftigte ihre Familie vor Nargis Tagelöhner für Saat und Ernte, das können sie sich seitdem nicht mehr leisten.
Nargis hatte für Nyi Naung wie für so viele Dörfer große Folgen. Viele, die kein Land besitzen, zogen weg. Nach Bogale oder gleich in die Metropole Yangon – ehemals Rangun – in die Nähe der Textilfabriken. Dort sieht der Stadtrand mit den Hütten heute aus wie manches Delta-Dorf. Verglichen mit anderen asiatischen Großstädten gibt es hier aber noch keine typischen Slumgürtel, noch ist die Landflucht bescheiden.
Aus Nyi Naung seien 50 Nachbarn nach Yangon gezogen, erzählt Schulleiter Yan Naing Oo. Zum Wasserfest rund ums buddhistische Neujahr waren gerade viele von ihnen zu Besuch, warben bei den Daheimgebliebenen, sich ihnen anzuschließen. Eine Rückkehr könnten sie sich nicht leisten, selbst wenn sie wollten, für sie gibt es hier so gut wie keinen Job mehr. Kleinere Farmer stellen kaum mehr Helfer ein, Besitzer größerer Flächen nutzen zunehmend Maschinen oder bestellen nicht mehr all ihr Land – nicht zuletzt, weil sie weniger Arbeitskräfte finden. Fischen, früher Einnahmequelle jenseits der Reissaison, ist in Nyi Naung kaum mehr möglich. „Dieses Jahr sind zehn weitere nach Yangon gegangen“, berichtet der 32-jährige Schulleiter, der versucht, im Dorf trotz aller Widrigkeiten ein möglichst gutes Angebot zu machen.
Seine Schule ist das größte Gebäude und das einzige aus Beton in Nyi Naung. Die Deutsche Welthungerhilfe hat sie nach dem Wirbelsturm gebaut – auch mit Geldern der Tagesspiegel-Spendenaktion „Menschen helfen“. Das massive Haus soll bei einem weiteren Sturm auch ein Zufluchtsort für die Menschen sein, es steht auf Stelzen. An Tagen wie heute – mit rund 40 Grad Celsius – tragen sie die Tische und die typischen kleinen Plastikhocker meist runter in den Sand, dort ist es schattig und es weht ein wenig Wind.
Jeder Zweite ist arm
Yan Naing Oos dunkle Augen blicken über Schülerschar und Lehrer. In den vier hellgelb getünchten Räumen unterrichten acht Lehrer von Klasse eins bis sieben, erzählt der schlanke Schulleiter. Zwei Klassen teilen sich einen Raum. Sie bräuchten mehr Platz und mehr Lehrer. Auch wenn die Regierung ihr Kollegium 2014 im Jahr vor den Wahlen von drei auf acht aufgestockt hat: 50 der 200 Schüler müssen auf eine andere Schule gehen.
Unter der neuen Regierung machten sie viele Fortbildungen, es gebe neue Lehrpläne, erzählt Lehrerin Ken Niat Mon. Und Schulleiter Yan Naing Oo hat vor allem ein wichtiges Ziel: „Wir wollen hier auch die achte Klasse anbieten.“ Sie hoffen auf die Genehmigung. Jede Klasse mehr zählt.
Viele Eltern empfinden es schon als schwer genug, ihre Kinder hierher zu schicken. Eine halbe bis eine Stunde Fußweg ist die Regel, in der Regenzeit kommen die Kinder völlig durchnässt an. „Zur Erntezeit sagen uns manche Eltern, ihre Kinder müssen auf dem Feld helfen. Eigentlich kann ich dem nicht zustimmen, aber ich muss sie gehen lassen“, sagt Yan Naing Oo und seufzt. Damit diese Kinder nicht völlig abgehängt sind, bieten sie anschließend Sonderstunden an. Nach der siebten Klasse ist für die Hälfte der Schüler Schluss. Um zur weiterführenden Schule zu gelangen, müssten sie eine weitere halbe Stunde mit dem Boot fahren oder vier Stunden Fußmarsch täglich auf sich nehmen. Eltern wollten vor allem ihre Mädchen nicht so lange allein unterwegs wissen oder sie könnten Fährkosten nicht aufbringen.
60 Prozent der Dörfler müssten zusehen, wo sie täglich Arbeit finden, nur 40 Prozent seien Farmer mit Land, rechnet das Schulkomitee vor. Vor Nargis sei das Verhältnis umgekehrt gewesen. Eine aktuelle Weltbankstudie sagt, dass in den von Nargis betroffenen Dörfern im Delta praktisch jeder Zweite arm ist. Auch deshalb verdingen sich in den dreimonatigen Schulferien viele Kinder als Tagelöhner. Eines hat sich aber auch hier fundamental verändert: In vielen Familien gibt es ein Mobiltelefon. So erreichen Informationen heute selbst entlegene Winkel - auch, wenn das Wetter bedrohlich wird.
Bogale, gut anderthalb Bootsstunden entfernt, ist das Zentrum der Gemeinde. Auf den ersten Blick ist es auch hier sehr ländlich. Fußgänger, Radfahrer, dreirädrige Rikschas und Mopeds prägen das Bild, Autos sieht man kaum. Viele Häuser haben kein eigenes Bad, die Bewohner waschen und putzen sich die Zähne vor dem Haus am Straßenrand, Wasser bringt oft ein Träger in gelben Kanistern per Handkarren aus einem Teich. Einen Supermarkt gibt es nicht. Und doch ist Bogale ein ansehnliches Städtchen.
Politische Wasserscheide
Anders als vor zehn Jahren gibt es hier einige Restaurants, die bis abends um zehn offen haben. Der Biergarten wird gerade ausgebaut, abends findet man kaum einen freien Platz, Frauen sitzen dort allerdings weiterhin kaum. Es gibt mehrere Geldautomaten, sodass niemand mehr mit einem Rucksack voll Bargeld kommen muss – wenn der Strom nicht gerade ausfällt. Der Lärmpegel zeigt, immer mehr Häuser haben einen Generator. In den vergangenen anderthalb Jahren sind zu den zwei Gästehäusern drei neue hinzugekommen, die sogar Bäder haben. Doch nach Bogale kommen kaum Touristen, sondern meist Geschäftsleute, die ihre Waren verkaufen wollen. Der Transport ist noch immer schwierig und dauert lange – obwohl die Straße und die Brücken nach Yangon inzwischen fast durchgängig asphaltiert sind. Große und sperrige Dinge werden auf dem Fluss transportiert. Das Wasser. Immer wieder das Wasser.
Das Wasser und dessen Macht nutzte auch die heutige De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi für sich. Viele Regionen des Landes waren im Wahljahr 2015 – als sie bei den ersten weitgehend freien Wahlen für 75 Prozent der Parlamentssitze die Militärjunta ablösen wollte – nach heftigen Monsunregen überschwemmt. Die Friedensnobelpreisträgerin besuchte, anmutig mit Blüten im Haar und Schirm zum Schutz, im Holzboot die Krisenregion. In einem Video, dort gedreht, wandte sie sich auch an die internationale Gemeinschaft, mahnte „sorgfältig koordinierte“ ausländische Hilfe auch über den Wahltag hinaus an, für sich und ihre Partei NLD. Die Welt sollte sich erinnern, wie die Junta nach Nargis mit den Menschen umgegangen war. Vielen Beobachtern agiert die Lady, wie sie genannt wird, heute zu nah an den Generälen, die demokratische Freiheit kommt nach Ansicht von Experten unter ihr kaum voran.
Heute ist Myanmar an einer politischen Wasserscheide angelangt. Die Euphorie nach Aung San Suu Kyis Wahlsieg ist großer Ernüchterung gewichen. Auch einheimische Geschäftsleute beobachten die neue Regierung skeptisch. „Sie haben keinen Plan“, sagt einer, der sich eine eigene, gut laufende Firma aufgebaut hat, nachdem er unter der Junta keinen Job in seinem Beruf bekommen hatte – die Familie hatte keine Verbindungen zu den Generälen. „Natürlich haben auch viele Minister und Abgeordnete länger im Gefängnis gesessen und wenig Erfahrung, da müssen wir etwas Nachsicht haben“, sagt der kräftige Mann. „Aber vielleicht müssen wir unserer Regierung langsam mal beibringen, wie man regiert.“ Ständig verändere sie Regelungen im laufenden Betrieb, sodass für Investoren Finanzkalkulationen nicht aufgehen. Man könne sich auf kaum etwas verlassen.
Er weiß, dass offene Kritik an der Regierung leicht als Illoyalität gegen die Lady ausgelegt wird. Deshalb soll sein Name hier keine Rolle spielen. „Ich würde gerne investieren“, sagt der Geschäftsmann, „aber ich weiß nicht, in welche Richtung die Entwicklung politisch und wirtschaftlich geht.“ So lange wird er seine Firma nicht vergrößern – und einen Teil seines Geldes in Thailand anlegen.
Das Wasser. Immer wieder das Wasser
Er ist nicht der Einzige. Fachleute schätzen, dass viel Geld noch in den Nachbarländern liegt. Auch ausländische Firmen zögern zu investieren. Samsung hat gerade den Bau eines Werks abgesagt. Es gebe zu wenig Sicherheit, keine Infrastruktur, keine sichere Energieversorgung, lautete die Begründung. Sollte der Westen aber auf die Idee kommen, wegen der brutalen Vertreibung der rund 700 000 muslimischen Rohingya aus dem Norden Myanmars nach Bangladesch wieder Sanktionen zu verhängen, würde sich das Land wie zu Militärzeiten wieder von China abhängig machen.
Viele rätseln, wie es politisch im Jahr 30 nach Aung San Suu Kyis erster großer politischer Rede im August 1988 vor der Schwedagon-Pagode weitergehen wird. Alle haben das Plakat gesehen, auf dem Demonstranten jüngst ihr und dem Militär zusammen für das Vorgehen gegen die Rohingya gedankt haben. Sie fragen sich, wie groß die Unterschiede zwischen der alten und der neuen Führung noch sind. Will die einstige Demokratie-Ikone Aung San Suu Kyi es sich vor den Wahlen 2020 nicht mit der buddhistischen Mehrheit und den Generälen verderben? Hofft sie, auf dem Weg auch von den 25 Prozent Militärabgeordneten so viele auf ihre Seite ziehen zu können, dass sie eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung bekommt? Hat die 72-Jährige mit dem neuen Präsidenten Win Myint begonnen, ihre Nachfolge zu regeln? Was würde es für den Erfolg von Aung San Suu Kyi und ihrer NLD heißen, wenn die Minderheiten nächstes Mal ihre eigenen Parteien wählen oder die ehemalige Studentenprotestbewegung 8.8.88 sich doch noch als Partei registrieren lässt?
Das Wasser. Immer wieder das Wasser. In Nyi Naung ist es Nachmittag geworden, die Flut kommt und mit ihr die Verbindung zur Außenwelt. Gegen halb drei versuchen die ersten Boote ihr Glück, die Außenborder heulen auf. Schulleiter Yan Naing Oo will nach Bogale, wo er seine Frau treffen wird. Sie ist auch Lehrerin, aber arbeitet in einer anderen Gemeinde, zwei Stunden entfernt. Doch erst muss er dem Bootsführer helfen, den Kahn aus dem Schlick zu befreien. Er wendet all seine Kraft auf, um das Boot mit einem Bambusstab abzustoßen. Das Wasser. Immer wieder das Wasser.
Die Reise wurde von der Deutschen Welthungerhilfe unterstützt.
Richard Licht