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Feuerzeichen. Am Montag steckten Vermummte ein Gebäude des Obersten Gerichtshofes in Caracas in Brand. Das Gericht hatte zuvor eine Klage gegen die geplante Verfassungsreform zurückgewiesen.
© Miguel Gutierrez/Imago/Agencia EFE

Antiregierungsproteste: Venezuela - in einem kranken Land

In der Klinik von Dany Golindano fehlen Medikamente und Wasser, dafür gibt es Ratten. Epidemien kehren zurück, Säuglinge sterben. Venezuela ist für seine Bewohner lebensgefährlich geworden.

Plötzlich schallt lautes Hundegebell durch die Gänge, ein paar Katzen jagen um die Wette. „Ich habe nichts gegen Haustiere“, sagt Doktor Dany Golindano, „aber nicht in meinem Krankenhaus.“ Fast auf allen Ebenen des Hospitals haben sie sich niedergelassen, und wo Katzen jagen, da gibt es auch Ratten. „Es fehlt uns an Reinigungsmitteln, an Seife, an allem“, sagt der Arzt.

Es ist früh am Morgen im Hospital José Maria Vargas im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Die Hitze ist noch nicht so sehr zu spüren wie später am Tag. Golindano tritt in den Innenhof, auf die wartenden Patienten zu, die Plätze unter ein paar Schatten spendenden Bäumen sind begehrt.

Golindano wechselt ein paar Worte mit ihnen, dann sagt er: „Zu erleben, wie Menschen sterben, denen man eigentlich helfen könnte, ist für einen Arzt das Schlimmste.“

Die Hunde, Katzen und Ratten sind ein unübersehbarer Hinweis auf die katastrophalen Verhältnisse in seinem Krankenhaus. Und das Krankenhaus ist einer auf die Zustände im ganzen Land.

Die Diphtherie ist zurückgekehrt nach Venezuela, nachdem sie vor zwei Jahrzehnten als ausgerottet galt. Die Kindersterblichkeit stieg im Jahr 2016 um ein Drittel im Vergleich zu 2015, die Zahl der nach Geburten gestorbenen Mütter nahm um zwei Drittel zu. Die Malaria breitet sich aus, 240 000 Menschen infizierten sich im vergangenen Jahr, das ist ein Anstieg um drei Viertel.

Der Präsident regiert am Parlament vorbei

Venezuela beginnt, lebensgefährlich für seine Bewohner zu werden – selbst für die, die nicht gegen diese Zustände protestieren.

Seit Anfang April gehen immer wieder hunderttausende Menschen auf die Straßen, um gegen die Versorgungskrise, die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit, gegen die Verfolgung Oppositioneller und für freie Neuwahlen zu demonstrieren. Die Protestwelle entzündete sich daran, dass der Oberste Gerichtshof des Landes versuchte, dem Parlament die Macht zu entziehen und sie stattdessen sich selbst zu übertragen. In der Volksvertretung hat nach einem überwältigenden Wahlsieg 2015 die Opposition die Mehrheit.

Seit einem Jahr bereits regiert der sozialistische Staatspräsident Nicolás Maduro am Parlament vorbei, mit einem Ausnahmezustand und Dekreten. Sein neuester Trick: die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die die Machtverhältnisse neu ordnet – zu seinen Gunsten, lautet der Vorwurf der Opposition. Vor zwei Wochen verkündete Maduro, dass eine Volksabstimmung über die Einführung dieser Versammlung entscheiden soll.

Eine Klage der Generalstaatsanwältin gegen die Verfassungsreformpläne des Präsidenten hat das Oberste Gericht gerade zurückgewiesen - Protestierer steckten daraufhin ein Verwaltungsgebäude des Gerichtes in Brand.

Die Opfer starben durch Kopfschüsse

Seit dem Beginn der Proteste gab es 66 Tote und tausende Verletzte, ein großer Teil der Opfer starb durch Kopfschüsse, wohl abgegeben von Milizionären auf Motorrädern. Eine dieser Szenen wurde von einer Überwachungskamera aufgezeichnet.

Auch Dany Golindano hat sich den Protesten angeschlossen. Und mit ihm haben das die jungen Ärzte des Hospitals José Maria Vargas getan. Auf ihre Art. Sie werden sich an diesem Tag Pappschilder um den Hals hängen.

Golindano sagt: „In den letzten Wochen sind sechs Patienten gestorben, weil Medikamente fehlten. Das ist eine Katastrophe, die zu verhindern wäre, würde die Regierung Hilfslieferungen ins Land lassen. Es gibt viele Organisationen, die helfen wollen, aber nicht dürfen.“

Im Pausenraum haben sich die Mitarbeiter der Tagschicht getroffen. Wieder wird über die schlechte Versorgungslage diskutiert. Sie beschriften Rechtecke aus Pappkarton. Sie schreiben: „Notaufnahme ohne Klimaanlage“, „Keine Fahrstühle für die Patienten“, „26 Tage ohne Operationssaal“.

Die Wahrheit ist gefährlich

Jeder im Haus soll sehen, dass das Personal nicht länger bereit ist, die Versäumnisse der Politik und der von ihr bestimmten Klinikleitung hinzunehmen. Mehr als ein Dutzend Gesundheitsminister gab es in den vergangenen Jahren, immer wieder wurde die Spitze des Ministeriums ausgetauscht - zuletzt, nachdem das Haus jene Daten veröffentlicht hatte, aus denen die Rückkehr der Epidemien hervorgeht.

Die Wahrheit ist gefährlich in Venezuela. Als die Ärzte den Besuch aus Deutschland durch die Gänge führen, sichern sie sich gegenseitig ab. Sie warnen einander per SMS, wenn sich auf der Etage einer der mit dem Inlandsgeheimdienst verbündeten Milizionäre nähert. „Wir müssen aufpassen“, sagt Golindano. Denn Maduros Schergen sind auch hier im Krankenhaus. Draußen auf den Straßen schießen sie und sind nach Angaben der Opposition dafür verantwortlich, dass so viele Menschen bei den Protestmärschen sterben.

Hier drinnen schüchtern sie ein. Die Mitarbeiter haben ein Gespür dafür entwickelt, wer zu diesen - Colectivos genannten - Paramilitärs gehört. „Du erkennst das an Blicken, Gesprächen, am selbstbewussten Auftreten.“ Doch Golindano hat zu ihnen auch ein paar überlebenswichtige Kontakte: „Den einen oder anderen kennen wir, mit denen können wir wenigstens reden. Es gibt bei denen inzwischen viele, die nicht mehr zufrieden mit der Regierung sind.“

Die einzige Rettung: der Sozialismus

Nach offizieller Lesart gibt es gar keine Versorgungskrise in Venezuela. Stattdessen sind es neoliberale Kräfte, die das Land lahmlegen, um die Regierung zu stürzen, behauptet Präsident Maduro. Sein Kleinkrieg gegen nahezu jedes Unternehmertum hat die Privatwirtschaft zusammenbrechen lassen. Die Korruption ist allgegenwärtig, die Inflationsrate lag im vergangenen Jahr bei 800 Prozent. Das in Venezuela reichlich vorhandene Öl - trotz dieses Schatzes muss Venezuela Benzin im Ausland kaufen - kann all dies nicht kompensieren. Der Ölpreis ist derzeit vergleichsweise niedrig.

Stiller Protest. Dany Golindano arbeitet als Arzt in Caracas.
Stiller Protest. Dany Golindano arbeitet als Arzt in Caracas.
© Tobias Käufer

Die einzige Rettung: der Sozialismus. Ein Sozialismus indes, der auch Geschäften mit Goldman Sachs nicht ablehnend gegenübersteht. Die New Yorker Investmentbank kaufte im Mai Anleihen des staatlichen Ölkonzerns PDVSA zum Vorzugspreis und rettete Venezuela damit wohl vor einer Staatspleite.

Der Präsident grüßt von Plakaten an den Klinikwänden. Auf ihnen ist eine ganz andere Krankenhauswelt zu sehen: adrette Ärzte, moderne Gerätschaften und glückliche Patienten. „Hecho en socialismo“ - Gemacht im Sozialismus - ist auf einem Plakat zu lesen, das in einem Treppenaufgang hängt. „Damit wir es auch nie vergessen“, sagt Golindano.

„Lassen Sie uns nicht allein“

„Es fehlt uns an Antibiotika“, sagt er, „Ärzte und Pfleger verlassen das Land. Unser System steht vor dem Kollaps.“ Er sagt: „Egal, wer an der Macht ist, das muss sich schleunigst ändern.“

Golindanos Weg führt in einen der Patientensäle. Schnell merken die Kranken und ihre Besucher, dass ein Ausländer bei der Visite dabei ist. Einige halten sich zurück, andere versuchen ins Gespräch zu kommen.

Eine von denen, die reden will, ist Golindanos Patientin Abigail Palacios. Das Personal hat ein rotes Herz über ihrem Bett aufgehängt, daneben steht: „Abigail braucht Eiweiß, um zu überleben.“ Viel mehr können die Mitarbeiter für die Frau nicht tun, Eiweißpräparate gibt es nicht.

Ihr Kopftuch hält die Haare zusammen. Palacios ist geschwächt, ihre Augen verraten große Leere. Jede Bewegung kostet sie Kraft. „Berichten Sie darüber, was hier in Venezuela passiert“, sagt sie. „Die Welt muss das mitbekommen. Lassen Sie uns nicht allein.“ Seit zwei Jahren ist die krebskranke Frau in Behandlung, seit 15 Tagen stationär. Sie klagt über die Regierung und den Direktor des Krankenhauses: „Ich muss alles selbst besorgen: medizinischen Alkohol, Antibiotika, Medikamente.“ Die Familie verkaufe alles, was sie habe, um dann auf dem Schwarzmarkt fündig zu werden.

Seit Monaten arbeitet die Klimaanlage nicht mehr

Im Waschraum haben die Klinikmitarbeiter hunderte, mit Wasser gefüllte Plastikflaschen aufgestellt. Weil kein Wasser aus dem Hahn kommt und keines durch die Toiletten fließt. Und wieder sausen die SMS durch die Krankenhausflure.

Golindano geht zur Notaufnahme. Das Pappschild mit der Botschaft „Keine Fahrstühle für die Patienten“ baumelt weiter um seinen Hals. Als er den Saal betritt, schauen einige Patienten verwundert, einer klatscht.

Es ist inzwischen Mittagszeit in Caracas, die Hitze steht im Saal. „Spüren Sie die Temperaturen?“, fragt Golindano und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Seit Monaten arbeitet die Klimaanlage nicht mehr.

Golindano ist beliebt im Krankenhaus. Der Druck von außen schweißt die Angestellten zusammen. Und ein Gehaltsgefälle zwischen Krankenschwestern und Ärzten gibt es auch nicht, das verbindet.

Zwei junge Mediziner bitten um ein Gespräch, es geht um die Dienstplanung für die nächste Woche.

Ein Hauch von Veränderung liegt über dem Land

Eine von ihnen ist die angehende Ärztin Oriana Gutierrez. Auch die Studentin redet bald von der verheerenden Lage in Venezuela. „Ich habe Angst vor der Zukunft“, sagt sie. „Ich will, dass sich etwas ändert, denn das ist auch mein Land.“

Gutierrez kennt in ihrem jungen Leben nichts anderes als eine sozialistische Regierung. Und sie sieht, wie viele ihrer Freunde und Mitstreiter aus der Studienzeit, die das Land schon längst verlassen haben, in der Fremde Karriere machen. Sie verdienen deutlich mehr als die zum offiziellen Kurs umgerechnet knapp 40 Dollar, die sie selbst am Monatsende bekommt. „Ich will Ärztin werden, um den Menschen zu helfen. Aber in Venezuela können wir das nicht mehr.“

Noch gelingt es Golindano, seine Kollegen im Krankenhaus zu halten. Das liegt auch daran, dass der Hauch von Veränderung, von Revolution über dem Land liegt.

Fast alle im Krankenhaus machen bei den Demonstrationen gegen die Regierung mit. Aber alle wissen auch: Scheitern sie mit ihrer Forderung nach freien Wahlen - und bleibt damit der erhoffte Wandel aus -, wird das System wohl endgültig zusammenbrechen. Die Menschen werden in Scharen das Land verlassen. „Venezuela ist ein Patient, der dringend Heilung benötigt“, sagt Golindano.

„Wir sind aufgeflogen“

Er selbst fordert öffentlich keinen Regierungs- sondern einen Politikwechsel. Dann wird es hektisch: „Wir sind aufgeflogen.“ Der Rundgang ist beendet, die Mobiltelefone werden von ein paar Schwestern eingesammelt, die sie unter ihrer Kleidung nach draußen tragen.

Golindano zieht sich in sein Büro zurück. Er ist auch Sprecher der Organisation „Mediziner für die Gesundheit“, die die Zustände in den venezolanischen Krankenhäusern statistisch erfasst. Steckdosen hängen lose aus der Wand. Akten stapeln sich, alles wirkt wie aus einer anderen, vordigitalen Epoche. „Wir sind in der Entwicklung stehen geblieben“, sagt Golindano. „Seit Jahren stellen wir mit unseren Erhebungen fest, dass die Situation immer dramatischer wird.“

Er spricht noch einmal von den Hilfslieferungen, die von der Regierung nicht ins Land gelassen würden. „Damit würde sie eingestehen, dass es diese Krise wirklich gibt“, sagt er.

Dieses Eingeständnis wäre womögliche das Ende von fast zwei Jahrzehnten linksfundamentalistischer, sozialistischer Herrschaft in Venezuela. Und für das Land wie für Golindanos Krankenhaus ein Neuanfang.

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