40 Jahre Flughafen Tegel: Tegel - das ewige Provisorium
Dreieckig, sechseckig: Im Jahre 1974 war der Flughafen Tegel der modernste Europas. Heute ist wenig Weltstädtisches an ihm. Überhaupt sollte er längst geschlossen sein. Stattdessen begeht er nun seinen 40. Geburtstag
Vierzig Jahre und kein bisschen leise – so spotten sie am Kurt-Schumacher-Platz, wenn es mal wieder um den Flughafen Tegel geht, der gleich nebenan beginnt, nur ein paar Schritte hinter den Wurstbuden. Von hier draußen lässt sich das ganze Dilemma des einstigen Prestigebaus am besten erleben: Mancher Neuling sucht schreckensbleich Schutz, fürchtet ein Erdbeben oder einen Luftangriff, wenn plötzlich von Wedding her ein fetter Airbus lärmend die Dachfirste zittern lässt und den Krach der Autos zudeckt, so nahe, dass sich von unten die technischen Beschriftungen erkennen lassen. Das passiert jeden Tag, oft im Minutenabstand, und ziemlich oft auch mitten in der Nacht, wenn die Postflieger und andere Dringende, legal, das Nachtflugverbot umgehen.
Am heutigen Sonnabend jährt sich der Tag, an dem dieser Schrecken offiziell begann, zum 40. Mal. Denn am 1. November 1974 wurde der neue Flughafen Tegel mit ein paar Ferienflügen offiziell in Betrieb genommen. Allerdings: Niemand wollte dieses Jubiläum, und deshalb wird auch nicht gefeiert. „Uns ist danach nicht zumute“, sagte ein Flughafensprecher, und den Grund, das BER-Desaster, muss er niemandem eigens nennen.
Gefeiert wird nicht? Warum?
In den 40 Jahren seit der hoffnungsfrohen Eröffnung hat sich außer den Einflugschneisen alles verändert, nicht zuletzt unsere Haltung zu derlei Großprojekten. Denn als um 1965 herum die ersten Arbeiter begannen, den alten Flughafen und ehemaligen Truppenübungsplatz am Rande der Jungfernheide für den internationalen Flugverkehr passend zu machen, als die Motorsägen anliefen, Platz zu schaffen für die neuen Anlagen in Tegel-Süd, für Hangars, ein neues, großes Vorfeld und das Hauptgebäude, das noch niemand „Terminal“ nannte – da gab es nur wenige, die sich diesem Projekt protestierend in den Weg stellten. Es waren vor allem unmittelbare Anwohner, die den Lärm fürchteten.
Der Flughafen Tempelhof war deutlich zu klein geworden für die Anforderungen des modernen Flugverkehrs, die Landebahn war zu kurz für die aufkommenden „Düsenflugzeuge“. Schließen wollte ihn aber längst noch niemand, und selbst die Frage, welcher von beiden denn der künftige „Zentralflughafen“ sei, wurde mal so und mal so oder auch überhaupt nicht beantwortet. Bis dann endlich Tegel siegte, als er fast schon fertig war.
Deshalb gab es im Vorfeld lange, erbitterte, aus heutiger Sicht kuriose Diskussionen um die Sinnhaftigkeit und Ausgestaltung des neuen Projekts. Es existierte nie eine verlässliche Konzeption für die Aufteilung des Flugverkehrs, und die Fluggastprognosen waren selbst für Prognosen ziemlich wacklig. Denn nach kontinuierlichem Anstieg bis zum Rekordjahr 1971 gingen die Zahlen plötzlich sogar massiv zurück: Das Transitabkommen hatte die Nutzung der Autobahnen ins Bundesgebiet erheblich erleichtert, und die Ölkrise 1973 erschütterte das wirtschaftliche Fundament des gesamten Weltflugverkehrs. „Den Planern aus den Händen geglitten“, schäumte Tagesspiegel-Flugexperte Hans v. Przychowski über den Bau, „Opfer falscher Prognosen und überraschender politischer Ereignisse“ – ohne zu ahnen, wie aktuell dieses Urteil später wieder werden würde.
Parallel entstand das Märkische Viertel
Doch den Bau, der mit der Grundsteinlegung am 27. April 1970 begonnen hatte, berührte all das nicht. Planfeststellungsverfahren, Bürgerbeteiligung, Widerspruchsverfahren bis rauf zum Bundesverfassungsgericht – all die Hürden, die das Projekt BER später zum endlosen Hindernislauf machten, existierten damals nicht oder waren Formalie. Und Brandschutzanlagen waren damals von jedem Monteur leicht zu überschauen.
Wer als Anwohner den Lärm nicht abkonnte, der zog im Zweifelsfall halt einfach woanders hin, die Mieten ließen das zu, und parallel zum Flughafenbau entstand ja auch das Märkische Viertel, von dem aus die Flieger zwar gut zu sehen, aber kaum noch zu hören waren. Allerdings hatten sich in Spandau und Reinickendorf insgesamt acht Bürgerinitiativen gegründet, die ihren Standpunkt auf Podiumsdiskussionen und per Flugblatt vertraten und erst nachträglich gewisse Erfolge hatten. Denn erst nach der Eröffnung im November teilte der Senat mit, man werde bis 1976 in rund 2000 Wohnungen in der Lärmschutzzone für 20 Millionen Mark Schallschutzfenster einbauen. Dass die offizielle Eröffnung trotzdem ein halbes Jahr verschoben wurde, hatte einen anderen Grund: Pan Am musste in zähen Verhandlungen dazu gebracht werden, überhaupt umzuziehen.
1974 – das war das Jahr der Fußballweltmeister, Richard Nixon trat wegen Watergate zurück, und alle neugeborenen deutschen Mädchen hießen Nicole. West-Berlin hatte sich in seinem Status eingerichtet und genoss die Vorzüge des neuen Transitabkommens. Überall in der Stadt schossen die Sozialwohnungen in den Himmel, der Steglitzer Kreisel schoss mit und brachte der Stadt den ersten großen Bauskandal – aber der neue Flughafen Tegel wuchs planmäßig heran.
Vier Jahre vom Grundstein bis zur ersten Landung
Nur gut vier Jahre vom Grundstein bis zur ersten Landung – das klingt unglaublich im Jahr 2014. Zwar war ein Flughafen schon da, bestehend aus eher provisorischen Abfertigungsgebäuden nördlich der Landebahn, aber das galt später auch für Schönefeld. Der erste Linienflug in Tegel hatte schon 1960 stattgefunden, betrieben von der Air France. 1962 nahm Pan Am mit drei Flügen wöchentlich den Linienverkehr nach New York auf, viele Ferienflüge wurden hier abgewickelt.
Das Zentralgebäude, das den Ruhm des Hamburger Architektenbüros Gerkan, Marg und Partner begründete, ließ nicht nur die Berliner staunen, die in Gestalt des alten Flughafens Tempelhof ja auch eine Architektur-Ikone besaßen, allerdings eine, die zum Fliegen nicht annähernd so praktisch war. Routiniers konnten nun den Weg vom Taxi durch die eleganten Automatiktüren zum Einchecken am Gate und weiter über die hypermodernen Fluggastbrücken im Laufschritt in wenigen Minuten hinter sich bringen – daran änderten auch die immer wieder verschärften Sicherheitskontrollen bis heute praktisch nichts.
Lassen wir uns kurz von Wikipedia die Besonderheiten erklären: „Typisch für die Architektur der 1970er Jahre ist der Versuch, Funktionen in geometrische Formen umzusetzen und diese als Leitmotiv zu verwenden. Charakteristisch für Tegel ist das Raster aus Drei- und Sechsecken anstelle rechteckiger Räume. Die Windfänge an den Eingängen haben ebenso dreieckige Grundrisse wie die erkerartigen Vorbauten der Warteräume, die zu den Fluggastbrücken führen. Grundriss und Querschnitt des Gebäudes und der Betonpfeiler sind sechseckig.“ Alles im Sechseck, unverkennbares Markenzeichen Tegels bis heute, weltweit.
Das erste Flugzeug am Morgen des 1. November 1974 kam im Morgengrauen aus London, unplanmäßig, denn es hätte schon am Vorabend auf der Nordseite landen sollen. Dann folgten planmäßig und pünktlich die ersten Starts und Landungen von „Charterflügen" – der heute nicht mehr benutzte Begriff meinte Ferienflieger, die von Reiseveranstaltern komplett gebucht worden waren. Die Ziele, klassisch: Mallorca und Teneriffa.
Zur Eröffnung kamen die dicksten Dinger, die damals existierten
„Erste Flüge in Tegel-Süd“ meldete der Tagesspiegel am nächsten Tag lakonisch. Eine Feier gab es nicht mehr, denn die hatte schon eine Woche früher, am 23. Oktober, stattgefunden, mit all dem staatstragenden Ernst und den diplomatischen Eiertänzen, die der alliierte Status der Stadt gebot. Der französische Botschafter Wormser, zuständig für den Bezirk, war da, Verkehrsminister Gscheidle vertrat den Bund, Klaus Schütz war als Regierender Bürgermeister der Gastgeber; Bundespräsident Walter Scheel indessen ließ sich aus ungenannten, wohl diplomatischen Gründen entschuldigen.
Zum festlichen Anlass gab die internationale Fluggemeinde richtig Gas und entsandte die dicksten Dinger, die in der Zivilluftfahrt existierten: eine Lockheed L-1011 der British Airways, eine Douglas DC-10 von Laker Airways, eine Boeing 747-100 von Pan Am sowie ein brandneuer Airbus A300-B2 von Air France setzten nacheinander auf der neuen Piste auf, und sie blieben auch gleich zum doppelten Tag der Offenen Tür, am Sonnabend und Sonntag kamen 110000 Berliner zum Gucken. Störungen wurden nicht gemeldet, abgesehen von einem Autokorso, der am Eröffnungstag die Zufahrt blockierte und damit nebenbei den massiven Planungsmangel aufzeigte, der den Flughafen bis heute begleitet: Es gibt nur diesen Zugang, die Bahnanbindung wurde nie realisiert.
Die Eröffnung vom 1.November löste nicht sofort mehr Flugbewegungen aus. Denn neben den Charterfliegern zog nur Air France um – ebenfalls einfach auf die andere Seite der Startbahnen. Erst am 1. September des folgenden Jahres gaben British Airways und PanAm Tempelhof auf, wo dann der lange Dornröschenschlaf einsetzte. Mit den Flugzeugen dieser beiden Gesellschaften ging auch der Lärm – und setzte sich über den Dächern von Spandau, Reinickendorf und Wedding fest.
Wer zum ersten Mal hier landet, mag sich in Dortmund wähnen
40 Jahre später ist der Flughafen Tegel als ewiges Provisorium längst im vereinten Deutschland angekommen, nur sieht man es ihm kaum an. Wer zum ersten Mal hier landet, der mag sich in Dortmund oder Halifax wähnen, so klein und wenig weltstädtisch wirkt das alles. Auf dem Vorfeld dominieren die Maschinen der deutschen Gesellschaften, nichts deutet auf exotische oder auch nur ferne Ziele hin, und auf den Anzeigetafeln zeigt sich, dass die einst angestrebte Drehkreuzfunktion verfehlt wurde. Was da zu erreichen war, hat Wien erreicht, jene Stadt, die mit ihrem neuen Terminal nicht viel weniger Ärger hatte als Berlin mit seinem ganzen neuen Flughafen.
Jenseits der Flugzeugfenster allerdings ist in Tegel die Hölle los. Denn trotz aller geplatzten Träume steigen die Zahlen unaufhörlich. Fast 20 Millionen Fluggäste wurden im vergangenen Jahr in Tegel gezählt, mehr als das Dreifache der ursprünglich angestrebten Kapazität, viermal so viel wie 1972 in Tempelhof und Tegel-Nord zusammen. Dafür mussten mehrere zusätzliche Terminals drangebastelt werden, schnöde Zweckbauten von der architektonischen Raffinesse einer Doppelgarage. Die Einkaufszonen und Restaurants sind so klein und provinziell wie eh und je, das einst so stolz eröffnete Flughafenpostamt wurde durch einen Geldautomaten ersetzt.
Geld? Der seinerzeit modernste Verkehrsflughafen der Welt kostete rund 400 Millionen D-Mark. Von unerwarteten Kostensteigerungen war nichts zu hören, und das Projekt darf heute als abbezahlt gelten. Trotzdem scheint es nicht völlig ausgeschlossen, dass wir hier in zehn Jahren auch noch das 50-jährige Jubiläum feiern werden.