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Gestapelte Biographien. Hier platzen Träume, rappt Sido. Hier entstehen Freundschaften, sagt Murat Drayef. Ein Viertel, zwei Wahrheiten. Mindestens.
© William Veder

Märkisches Viertel: Ihr Block

Der Song war ein Hit, es ging um Koks, Sex, Gewalt. Er machte Sido über Nacht berühmt. „Mein Block“: Zehn Jahre ist das jetzt her. Seither leben und hadern sie im Märkischen Viertel mit einem Mythos.

(Anmerkung: Tagesspiegel-Reporter Lucas Vogelsang wurde mit diesem Text für den Deutschen Reporterpreis 2014 nominiert. Weitere nominierte Texte aus dem Tagesspiegel sind "Deutsche Vita", ebenfalls von Lucas Vogelsang, sowie "Die Heimsuchung" und "Der Anfang nach dem Ende", beide von Veronica Frenzel.)

STEIG EIN! STEIG EIN!ICH WILL DIR WAS ZEIGEN.DEN PLATZ, AN DEM SICHMEINE LEUTE RUMTREIBEN. – Sido, Mein Block

Der Blick von ganz oben geht über die Dächer der Hochhäuser, Wolkengondeln, in die Unendlichkeit. Weites Land. Sattes Grün. Zwischen den Häusern, unter den Blättern der Platanen, entsteht gerade ein Garten, in dem die Leute aus der Nachbarschaft bald ihr eigenes Stück Land bestellen, ihr eigenes Gemüse pflanzen können.

An eine der Wände haben ein paar Jugendliche eine Postkartenidylle gemalt. Betonromantik. Bald blühen die Zierkirschen. Über dem See kreist ein Fischreiherpärchen. Die Menschen, die an diesem Vormittag mit ihren Hunden spazieren gehen, grüßen sich freundlich. Murat Drayef steht im 14. Stock auf dem Außenbalkon des Senftenberger Rings 66, schaut auf seinen Block und fragt: „Sieht so ein Ghetto aus?“

FRAU GRABOWSKY: Der Sido, der ist ein Knallkopp. AYHAN K.: Sido war eine Null, den kannte hier keiner, ich habe nie zuvor von ihm gehört. Er war ein Niemand. ISABELLE: Irgendwann war Sido einfach verschwunden.

Geblieben ist ein Video. Der Blick von ganz unten. Es ist eng, kaputt zwischen den Häuserschluchten. An der Kreuzung droht der Typ mit dem Schlagring, hinten wartet einer, den Pitbull an der Leine. Sie werden sich später noch ein paar Frauen aus der Nachbarschaft bestellen. Die Häuser, das ist ihr Land. An den Wänden klebt das Rot der Spraydosen. Graffiti. Reviermarkierungen. Im 12. Stock werden Blüten vertickt. Man kann Drogen kaufen, Sex. Alleine sterben. An der Tristesse zugrunde gehen. In Anonymität verwesen. Der Rapper Sido steht in diesem Video vor dem Eingang des Senftenberger Rings 66, seinen Block im Rücken und zeigt die Hartschalenpose des Gangsters. „Hier platzen Träume“, bellt er. Sein Märkisches Viertel, er nennt es Ghetto.

Murat Drayef und Sido, zwei Kinder dieses Viertels. Zwei Wahrheiten?

STEIG EIN!

Zehn Jahre ist es jetzt her, dass Sido sein Viertel in die Charts brachte. Am 4. April 2004 kam der Song „Mein Block“ in die deutschen Plattenläden. Es war ein virtueller Gang durch die Stockwerke seines Hochhauses. Von Tür zu Tür. „Und davon sing ich dir ein Lied, du kannst es kaufen“, heißt es, „Wie die Sekten-Fans aus dem neunten, die immer drauf sind / Genauso wie der Junkie aus’m vierten / Der zum Frühstück erst mal zehn Bier trinkt / Dann geht er hoch in den siebten zum Ticker / Er bezahlt für zehn Teile, doch statt Gras kriegt er ’nen Ficker / Damals war der Drogenstock noch der zehnte / Der ausm siebten ist der, der überlebte.“

Es geht um Koks, Sex und Gewalt. Reimschema: ACAB. Kleinkriminellenrap, nannte Sido das. „Schlachtgesänge direkt aus dem Bauch der Hauptstadt“, schrieb die Wochenzeitung „Die Zeit“. Proll-Poeme. Gestrickt aus den Anekdoten, die sie sich dort erzählen, die vielleicht sogar genauso passiert waren. Alltagsirrsinn hinter 90 000 Fenstern.

Im ersten Stock der Ex-Knacki, im zweiten die Nutte, der Fetischist im fünften und im sechsten er selbst: Paul Würdig, damals 23 Jahre alt, Hauptschulabschluss mit Notendurchschnitt 4,7, Überzeugungskiffer, der sein Gesicht, die rotgerauchten Augen hinter einer silbernen Totenkopfmaske verbarg. Sido, das bedeutete erst „Scheiße in dein Ohr“ und dann, als es eine bessere Pointe brauchte, Superintelligentes Drogenopfer.

Murat Drayef, 42 Jahre als, ist Streetworker. Jeden Tag läuft er seine Runde. und gibt Jugendlichen diesen Blick: Was machste, woher kommste, wo willste hin?
Murat Drayef, 42 Jahre als, ist Streetworker. Jeden Tag läuft er seine Runde. und gibt Jugendlichen diesen Blick: Was machste, woher kommste, wo willste hin?
© William Veder

Das Video, gedreht an seinem Block, Senftenberger Ring 66, auf dem Balkon im 14. Stock, auf dem Spielplatz vor der Tür, mit der Hand im Schritt, den Joint im Großmaul, lief fast stündlich auf Viva und MTV. Heavy Rotation. Weil es eben auch das Kriminaltheater für die Vorurteile der deutschen Mittelschicht war; die sich in allem bestätigt fühlen durfte, weil da einer im geklauten BMW durch sein Viertel fuhr. Für die Akademikerkinder, die er mitnahm auf diesen Egotrip durch seine Welt. Ein Fremdenführer in Baggiepants. Mit dickem Anorak, die Kapuze über den Kopf gezogen. Brachialplakative Gangsterpose.

Ein Hit. Sido wurde damit quasi über Nacht berühmt. „Mein Block“ war das Zeichen, dass die Ghettokinder etwas zu sagen hatten. Sie machten sich jetzt mit einer anderen, fieseren Sprache den Rap zu eigen, der bis dahin in Deutschland den Spaß- und Gutmenschrappern in Stuttgart und Hamburg gehört hatte. Als hätte man für Punchlines Abitur gebraucht. Samy Deluxe oder die Beginner um Jan Delay. Afrob oder der Freundeskreis um Max Herre. Wortakrobaten, ihre Reime eher Spielzeug als Waffe. Berlin war Hip-Hop-Entwicklungsland gewesen, nun begann es, seine eigene Kaputtheit zu feiern. So wurde das Märkische Viertel, abgekürzt „MV“, zum Ort, der Gangster gebiert.

Bis heute ist dieses Video der Imagefilm, den dieses Viertel nicht gebraucht hat.

Sido hat die Häuser größer gemacht, als sie schon waren

Vom ersten bis zum siebzehnten Stock. Am Senftenberger Ring 54-70 schaut der Mensch auf den Menschen. Ein Panoptikum. Murat Drayef nennt es: Knastblick.
Vom ersten bis zum siebzehnten Stock. Am Senftenberger Ring 54-70 schaut der Mensch auf den Menschen. Ein Panoptikum. Murat Drayef nennt es: Knastblick.
© William Veder

ISABELLE: Ich spreche fünf Sprachen. Ich habe ein englisches Abitur gemacht und studiere Islamwissenschaften. Wenn ich erzähle, dass ich aus’m MV komme, dann sind immer alle erstaunt und glauben es nicht. Es gibt aber auch Leute, die hassen mich dafür. AYHAN K.: Sido hat das MV als einen Puff dargestellt. Als Nuttenloch. Ich habe mich von diesem Song persönlich beleidigt gefühlt. Er wusste nichts von dem, wie es wirklich ablief. FRAU GRABOWSKY: Unser Märkisches Viertel ist ein Idyll. Ruhige Ecke. Hören Sie was? HERR GRABOWSKY: Wir haben hier Luftverhältnisse wie auf Sylt. MURAT DRAYEF: Dieser Ort hat ganz viel Seele. Mein Herz hängt am MV.

Zwei Buchstaben. MV. Das Märkische Viertel am nördlichen Rand Berlins. 1960 sollen hier bereits 12 000 Menschen gelebt haben. In Bretterbuden. Mit Sickergruben. Fäkalien, so hieß es damals, bis in die Küche, vor den Herd. Grüne Slums. Bis die Ansammlung der Holzhütten, der Buden und Schuppen zum Notstandsgebiet erklärt wurde und Berlins damaliger Bürgermeister Willy Brandt den Bau einer Satellitenstadt anordnete. Brandt also, der Farbfernsehkanzler, war es, der die Farblosigkeit an den Berliner Horizont malen ließ. Die Bauarbeiten dauerten von 1963 bis 1974. Vor 50 Jahren, 1964 bereits, zogen die ersten Mieter in die neuen Wohnrau, in die Hochhäuser am Stadtrand.

Sido hat sich MV auf den Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinger tätowieren lassen. Zwei Buchstaben, die Reaktionen provozieren. Sagt einer, er komme von dort, vom Block, dann hat er es mit Vorstellungen zu tun, zu denen Sidos Video die Bilder geliefert hat, mit einer wackligen Handkamera gedreht. Bilder aus Sido-Land: Stadtrandschande, Gangsterhausen, Kaputtistan.

Heute leben hier 40 000 Menschen in 16 000 Wohnungen auf gerade einmal 385 Hektar. Das sind die Zahlen, die helfen sollen, diesen Ort besser zu verstehen. Urbanität durch Dichte. Gestapelte Biografien. Seit 2008 lässt die Gesobau, der die meisten Wohnungen hier gehören, das Viertel modernisieren. 440 Millionen Euro für ein neues MV: Smart City. Zuhause für junge Eltern. Das sind die Label, die Botschaften, gedruckt auf bunte Prospekte mit Fahrradlächelfamilien. Es sind neue Bilder, die es jedoch schwer haben, die alten zu überstrahlen. Auch, weil der Block in in Sidos Video nicht nur Kulisse ist. Er ist ein Gefühl. Das bleibt. Der Song hat deshalb etwas angestellt. Er hat die Häuser größer gemacht, als sie schon waren.

STEIG EIN!ICH WILL DIR WAS ZEIGEN.

HERR GRABOWSKY: Wenn wir aus der Stadt zurückkommen und unsere Hochhäuser sehen, sind wir froh, dass wir wieder zu Hause sind. FRAU GRABOWSKY: Unsere Kinder sind hier groß geworden. Es ist ein Heimatgefühl.

AYHAN K.: Man kennt jeden Stein, jeden Eingang. wenn ich hier vor der Polizei weggerannt bin, hatten die keine Chance, mich zu finden. Man kennt die Ältesten und die Jüngsten. Das hier ist Familie.

ISABELLE: Ich habe nie woanders gelebt, das ist mein Zuhause. Es ist eklig, aber trotzdem kommt man nicht raus.

MURAT DRAYEF: Nicht weit von hier gibt es eine Straße, die führt in den Block hinein, das ist die Straße meines Lebens. Mein Lebensweg. Was ich für Entscheidungen auf dieser Straße getroffen habe. Was wir dort erlebt haben. Da kannst du einen Film drehen, fängst vorne an und kannst mir beim Wachsen zusehen, vom Jungen bis zum Mann.

Murat Drayef läuft. Jeden Tag. Er, 42 Jahre alt, ist Straßen- und Sozialarbeiter. Will man an einem Ort wie dem Märkischen Viertel als Fremder nicht untergehen, braucht man einen wie ihn. Einen, der weiß, welche Gesetze hier gelten. Er spricht die Sprache des MV.

Er ist 1978 hierhergezogen. Die Mutter Türkin, der Vater Tunesier. Er aber: ganz blond, ganz deutsch auch. Drayef hat jahrelang als Elektriker gearbeitet, in der Gastronomie, als Fahrer für die Charité. Erst seit drei Jahren ist er Streetworker. Spät berufen. Auch, weil er irgendwann das Gefühl hatte, dem Viertel auf diese Art etwas zurückgeben zu können. Er dreht seine Runden, bewegt sich zwischen den Häusern. Läuft die Jugendlichen an. Fragt, Standard: Was machste, wo biste, wo steckste, wo kommst du her, wo willste hin? Lächelt dann. Lächelt viel. Murat Drayef: Menschenaufschließer. Er, früher Boxer, ist ein Bär von einem Mann. So gutmütig, ein großes Glück.

Als seine Familie ins Viertel kam, waren sie eine der ersten Migrantenfamilien im Block. Auch das hat sich geändert mit den Jahren. Heute gleicht das Klingeltableau an den meisten Häusern der Mitgliedsliste der UN-Vollversammlung. Bis zu 25 Nationalitäten wohnen Tür an Tür. Denn anders als etwa in der Banlieue in Paris leben die Ethnien hier nicht getrennt, nicht nebeneinander her. An den öffentlichen Plätzen durchmischen sich die Kulturen. Guten Tag. Salam.

Woher aber kommt dann das Bild der unwirtlichen Sozialwüste?

Ein Briefkasten wie der Block selbst. Nicht selten gleicht das Klingeltableau in diesen Häusern der Kulturen der Welt der Mitgliedsliste der UN-Vollversammlung.
Ein Briefkasten wie der Block selbst. Nicht selten gleicht das Klingeltableau in diesen Häusern der Kulturen der Welt der Mitgliedsliste der UN-Vollversammlung.
© William Veder

MURAT DRAYEF: Dass die Leute nur herkommen, um vom Dach zu springen, das sind so Märchen.

ISABELLE: Es ist an einigen Stellen schon so, wie Sido das damals gesagt hat. Es gibt die Asozialen, die sich nur rumtreiben. Aber die findet man doch überall. Auch in Wilmersdorf hängt der Penner in der Sparkasse rum.

MURAT DRAYEF: Ich habe ehrlich nie verstanden, woher dieses Bild kommt. Es ist nicht gerechtfertigt. Aber vielleicht hängt es an dem tristen Anblick. Diesem Knastblick.

Die Tristesse, die Monotonie der Fassaden, sie kann ermüden. Die Häuserblöcke sind grau, dann schimmelgrau, dann vielleicht weißlich-grau. Wohnschiffe, die in den 70ern auf den Märkischen Sand aufgelaufen sind und dort über die Jahrzehnte Rost angesetzt haben. Ausgeblichen. Verwaschen vom Niederschlag der Jahre.

Besonders deutlich wird das an Sidos Block. Senftenberger Ring 54-70. Wer genau in der Mitte des Vorplatzes steht, neben einer merkwürdig verschachtelten Skulptur, die dort wie ein Dolch in der Erde steckt, kann von hier aus die Fenster aller Wohnungen sehen. Der Mensch schaut auf den Menschen, sieht Wände, die auch seine eigenen sein könnten. Ein Panoptikum, ein Spiegel. Es zieht. Der Wind. Der Mensch. Zieht ein, dann wieder aus. Der Möbelwagen vor einer der Türen, er ist ein alltägliches Bild, wenn sich Haushalte, Familien, Menschen auflösen.

Kein Ort für Player. Sido hat in seinem Video trotzdem den Gangster am Block gespielt. Sein größtes Vergehen: Er hatte keine Drehgenehmigung.
Kein Ort für Player. Sido hat in seinem Video trotzdem den Gangster am Block gespielt. Sein größtes Vergehen: Er hatte keine Drehgenehmigung.
© William Veder

STEIG EIN.

Ein Großteil der Wohnungen hier besteht aus nur einem Zimmer. Das beschleunigt die Fluktuation. Das fördert die Anonymität. Auch Murat Drayef hat einmal hier gelebt. In der 68. Zehn Jahre lang. Einen Treppenaufgang weiter wohnte damals sein Bruder, auf einer Etage mit Sido. 66, 6. Stock, zweite Tür links. Sie sind sich nie begegnet.

Gangster, Nutten, Angst? Alles halb so schlimm, sagt Frau Grabowsky

Blockwart? Nein, Hauswart, bitteschön! Die Grabowskys führen eine Ehe, die so alt ist wie das Viertel selbst. Ihr Gesetz: Die Hausordnung.
Blockwart? Nein, Hauswart, bitteschön! Die Grabowskys führen eine Ehe, die so alt ist wie das Viertel selbst. Ihr Gesetz: Die Hausordnung.
© William Veder

HERR GRABOWSKY: Ghetto, Armut, Kriminalität. Wenn ich sowas höre, muss ich mein Viertel verteidigen. Das ist doch alles Quatsch.

ISABELLE: Platte, Asi. Das kommt schon hin, ein Ghetto ist es null.

HERR GRABOWSKY: Der kam hierher und wollte auf’m Spielplatz drehen und hatte gar keine Drehgenehmigung.

AYHAN K.: Ein Ghetto? Da muss ich immer lachen. Das MV ist Jack’s Funworld.

FRAU GRABOWSKY: Man muss das anders erklären. Wenn ich öffentlich werden möchte, dann erzähle ich etwas ganz Gutes oder etwas ganz Böses. Ob ich hier morgens frühstücke oder einkaufen gehe, das will doch keiner wissen. Es hat ja nur Sinn, wenn die Leute denken, da passiert etwas. Und das war genau die Masche, die der Sido verstanden hat.

Manfred Grabowsky und seine Frau kennen sich aus mit dem, was hinter den Türen passiert, mit den Menschen, dem Dreck auch und mit dem Sterben. Über drei Jahrzehnte waren die beiden, jetzt 71 und 68 Jahre alt, das Hauswartsehepaar am Senftenberger Ring 78. Gute Seelen, eisenhartes Regime. Die Hausordnung war ihr Gesetz. Sie waren streng, haben sich aber einen guten Ruf erarbeitet. Konnten so immer teilhaben an den Leben am Block. Die erste Zigarette, der erste Kuss. Haben die Kinder erwischt und den Eltern nichts gesagt. Haben, wenn einer gestorben ist, die Sanitäter gerufen, die Feuerwehr, die Polizei, dann, Generalschlüsselbund am Gürtel, aufgesperrt. Manch ehemaligen Nachbarn aufgebahrt, ihn dann in den Flur geschoben, letztes Geleit zwischen Tür und Angel, weil in der Wohnung zu wenig Platz war. Schließlich den Türspalt abgeklebt. Erledigt.

Grabowsky, das ist dann auch mehr Berufsbezeichnung als Nachname. So, bitteschön, muss man als Hauswart doch heißen. Man könnte sich die Eheleute schwerlich woanders vorstellen. Manfred Grabowsky wirkt selbst in Zivil, als hätte ihm jemand den Blaumann direkt auf die Haut tätowiert. 1969 sind sie, junge Eltern mit zwei Kindern, ins MV gekommen. Sie feiern in diesem Jahr goldene Hochzeit. Ihre Ehe ist so alt wie das Viertel selbst. Echte Märker, so nennen sich die Alteingesessenen nicht ohne Stolz. Märkisches Viertel: ihre Insel.

Es ist ganz einfach. Echte Märker bleiben hier. Oder ziehen weg, aber nie für lang, weil sie ganz schnell das Heimweh plagt. Ein Drittel der Menschen hier ist 60 Jahre oder älter, die Durchschnittsverweildauer liegt bei etwa 21 Jahren. Noch immer leben 3000 Erstmieter in ihren Wohnungen. Manche sind nie umgezogen, andere nur einen Stock tiefer oder höher, weil die Wohnung, die Kinder ausgezogen, schlichtweg zu groß geworden waren.

Und warum sollten sie auch gehen? Sie haben doch alles. Im besten Falle sterben sie auch hier. Dann aber in einer der Wohnungen ganz oben. 16. Stock, mit Blick über die Stadt, die Unendlichkeit, auf den Fernsehturm oder das Riesenrad am Kutschi. Himmelsparterre, sagen die Märker, damit wir es später nicht so weit haben.

1989 gab es in ganz Berlin eine Meinungsumfrage. Wie wohl fühlen Sie sich in Ihrem Viertel? Das Märkische Viertel hat dabei überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Noch 2004 lag die Zufriedenheit bei 85 Prozent. Jeder, der damals schon den Daumen gehoben hat, würde es heute wohl wieder tun. Man muss sich den Märker also als glücklichen Menschen vorstellen.

Ein Blick in die Kriminalstatistik verrät: Im Märkischen Viertel ist es nicht gefährlicher als in anderen Teilen der Stadt. Das MV ist ein eher mittelmäßiger Ort, was die Straftaten angeht. Und fragt man bei der Berliner Polizei nach, bekommt man abschließend folgendes Fazit: „In Anbetracht der Größe des Areals und der Vielzahl der Bewohner ist kein Kriminalitätsbrennpunkt festzustellen.“ Eben, das hat Frau Grabowsky ja immer schon gewusst. Alles halb so schlimm.

FRAU GRABOWSKY: Gangster mit dicken Autos, Waffen und Drogen? Das ist so weit weg von der Realität, die wir hier erleben. Ich habe mich hier immer sicher gefühlt.

MURAT DRAYEF: Genau das, wovon die Leute denken, dass es abgeht, geht hier eben genau nicht ab.

Woher aber kommt dann der schlechte Ruf, wo haben die Klischees ihren Ursprung, wer hat da aus welchem Grund irgendwann die Räuberpistole gezückt und einmal kräftig durchgeladen? Wieso war jemand wie Sido überhaupt glaubwürdig?

MURAT DRAYEF: Bei 40 000 Menschen ist da nicht alles vorprogrammiert? Ist da nicht Ärger vorprogrammiert? Sind da nicht Freundschaften vorprogrammiert? FRAU GRABOWSKY: Jetzt setzen Sie die Menschen hier mal in den Stadtbezirk Mitte. Oder als Kleinstadt aufs freie Land. Und dann nehmen Sie mal die Polizeieinsätze da und zählen die. Und das setzen Sie dann mal in Relation. HERR GRABOWSKY: Ich habe erlebt, 1970 schon, wie Reporter Fotos gemacht haben: ‚Ey, du da! Geh doch mal hol mal ’ne Decke, hier ist doch ein Parkplatz. Pack die Decke doch mal hierhin.’ Weil wir angeblich keine Kinderspielplätze hatten. Das ist böse. AYHAN K.: Ich habe das selbst erlebt. Damals Anfang der 90er, kamen Reporter zu uns: ‚Hallo, wir sind für das MV zuständig, wir würden gerne ein paar Bilder mit euch machen. Macht mal ein paar Posen, seht mal übel aus.’ Dann haben sie Knüppel und Messer aus einem Rucksack geholt und jedem von uns 50 Mark gegeben für das Foto. Das war damals noch die Zeit mit den Gangs.

Sie waren 15 Jungs. Hingen am Döner rum. Gutefreundezahl, sagt Ayhan K., der nicht möchte, dass sein echter Name später in der Zeitung steht. Er ist jetzt 38, Familienvater. Mit sechs zog er aus dem Wedding hierher. Wohnt noch immer in der gleichen Wohnung, auch er: ein echter Märker. Auch er einer der ersten Migranten am Block. Das MV seiner Kindheit ist deutsch, rechts, trug Glatze und Bomberjacke. Die Jungs erlebten die Ausländerfeindlichkeit, erlebten, wie die Mutter auf dem Weg aus der nahe gelegenen Fabrik mit Flaschen beworfen, von Männern in Trainingshosen beschimpft wurde. Deutschland den Deutschen. Scheiß Kanake. Glas und Worte, die auf dem Asphalt explodierten. Hörten das Weinen der Mutter, die ohnmächtige Wut des Vaters im Nebenzimmer. Und begannen, sich zu wehren.

Isabelle, 23 Jahre alt, Studentin, spricht fünf Sprachen und studiert Islamwissenschaften an der FU. Früher hat sie Rapmusik gemacht. Heute will sie weg.
Isabelle, 23 Jahre alt, Studentin, spricht fünf Sprachen und studiert Islamwissenschaften an der FU. Früher hat sie Rapmusik gemacht. Heute will sie weg.
© William Veder

Das ist Ayhans Geschichte. Aus Freunden wurde eine Gruppe, aus der Gruppe eine Gang. In den Akten der Polizei steht: OK. Organisierte Kriminalität. Halbstark, Vollgas. Boxerschnitt. Trugen Hass in sich, ballten die Faust. Es folgten die ersten Festnahmen, Jugendstrafen, die Hausdurchsuchungen und Gegenüberstellungen. Gangsterszenen, auf die Sido sich zehn Jahre später bezogen hat.

AYHAN K.: Die Gangster aus dem Video? Das waren Leute, die er angeheuert hat, um hier Pose zu machen. Die sind hier nicht groß geworden. Meine Freunde, die wirklich was konnten, die hätten da nicht mitgemacht.

Die Gangs gibt es heute nicht mehr. Jungs wie Ayhan und seine Freunde, mit festen Strukturen, festen Treffpunkten, einheitlicher Kleidung und martialischen Namen sind in der Zwischenzeit erwachsen geworden. Sie nennen die Kämpfe, die Schlägereien, die Anzeigen und Vorstrafen von damals heute Lausbubenstreiche, lachen dann und gehen mit ihren Kindern auf einen der Spielplätze. Sie könnten sich gar keinen besseren Ort vorstellen für ihre Familien.

Die Sido-Jahre. Alle wollten reich und berühmt werden

12 Stockwerke, 1 Liebe. Kein leichter Abschied. Du bist mein Märkisches Viertel, sagt Isabelle, aber sorry, ich muss dich jetzt langsam verlassen.
12 Stockwerke, 1 Liebe. Kein leichter Abschied. Du bist mein Märkisches Viertel, sagt Isabelle, aber sorry, ich muss dich jetzt langsam verlassen.
© William Veder

Doch natürlich ist es verführerisch, die alten Geschichten immer wieder zu erzählen. Sie verkaufen sich gut. Denn die Sehnsucht nach dem Misslungenen ist groß, zumal wenn im Fernsehen der perfekte Popstar konstruiert wird. DSDS, die erste Staffel, war ein Jahr vor Sidos „Mein Block“ zu Ende gegangen. Mit einem Sieger, der unter der totalen Kontrolle seines Produzenten, der Plattenfirmen und RTL stand. Sollte so das Karrieremodell der Bildungsverlierer aussehen?

Sido kam als einer daher, den man nicht kontrollieren konnte. TV-Deutschland suchte den Superstar, Sido war der Zwischenruf aus einem anderen Deutschland, das offenkundig gescheitert war, sich aber auch nichts sagen lassen wollte.

MURAT DRAYEF: Meine Freundin sagt, wenn wir mal Kinder haben, will sie hier raus. Da streiten wir bis heute. ISABELLE: Du bist mein Märkisches Viertel, aber sorry, ich muss dich jetzt langsam echt verlassen, weil wenn ich hier bleibe, werde ich bestimmt keine erfolgreiche Frau.

Sie nannten Isabelle die Hoodschwester. 2005 war das, oder 2006. Die Sido-Jahre, wie Isabelle sagt. Pubertätszeit. Rapzeit. Freizeit. Alle wollten damals reich und berühmt werden, der neue Sido sein. Er hatte es ja vorgemacht. Das schlechte Vorbild. Sie waren zu fünft. Vier Jungs und sie, die Prinzessin von der Platte. Einen Namen gaben sie sich auch: Gossenklang. Die Jungs rappten, sie sang dazu. In einem kahlen Raum, ganz hinten im Jugendzentrum ComX, klebten sie Eierkartons auf Spanplatten, bastelten Beats auf den Computern, Diskettenlaufwerk, Windows 98, die sie aus ihren Kinderzimmern geschleppt hatten.

Aus dem Raum ist heute ein echtes Tonstudio geworden. Keine Eierkartons mehr. Das Studio und einen Radiosender für das Viertel haben sie, unterstützt von der „Ich kann was“-Initiative der Telekom, 15 000 Euro gab es da, selbst aufgebaut. Isabelle, die damals auch eine eigene Sendung moderierte, ist jetzt 23 und hat keine Zeit mehr für die Musik. Kreatives Loch, sagt sie. Aber eigentlich ist sie ganz einfach aus den alten Posen heraus gewachsen. Zu alt geworden für den Rap, den Block. Sie studiert jetzt an der FU. Im vierten Semester. Im MV, Ort ihrer Kindheit, wohnt sie nur noch, weil sie die Mutter nicht allein lassen möchte.

ISABELLE: Das Märkische Viertel ist wie der erste Freund, den jedes Mädchen auf der Oberschule hat. Der mit dem Sixpack. Die große Liebe. Der ist zwar strohdumm, aber eben auch voll süß. Irgendwann verlässt das Mädchen diesen Jungen. Und wenn sie Jahre später zurückkommt, trifft sie ihn wieder und er hängt immer noch mit den Freunden ab, raucht Gras und hört die alten Sido-Tapes. Es ist dieser Vollidiot, aus dem nichts geworden ist.

Nur raus hier? Sido ist gegangen, als der Erfolg kam. Viele Märker aber bleiben. Sie könnten sich gar keinen besseren Ort vorstellen als ihr Viertel.
Nur raus hier? Sido ist gegangen, als der Erfolg kam. Viele Märker aber bleiben. Sie könnten sich gar keinen besseren Ort vorstellen als ihr Viertel.
© William Veder

31,9 Prozent der Menschen im Märkischen Viertel leben von Hartz IV, mehr als die Hälfte der Kinder in Familien, die vom Staat unterstützt werden. Und die Jugendlichen, die irgendwann merken, dass hinter den Hochhäusern noch eine andere Welt liegt, die Jugendlichen also, die sich schnell langweilen, wenn sich niemand mit ihnen beschäftigt, sind unglücklich hier. Fühlen sich fehl am Platze, ziemlich verloren. Sie leben im Zwischenraum der Demografie. Wenn hier eine Klasse von der Schule abgeht, mittlerer Schulabschluss, ist klar: Vielleicht die Hälfte bekommt einen Ausbildungsplatz. Für alle anderen beginnt der lange Parcours der Aussichtslosigkeit. Programme, Ein-Euro-Jobs, Scheine machen, um Scheine zu machen. Programme, wenn die Jungs das sagen, klingt es wie Arbeitslager. Ist es eine Beleidigung, die wirklich trifft.

Einer der ersten Tracks, den Isabelle, Basti, Lem, Danny und Shadow aufgenommen haben, hieß „Verlorene Seelen“. Bis heute geil, sagt sie. Gänsehaut. Es geht in diesem Song um die Menschen von hier. Menschen, die sich quälen, unbedingt raus wollen. Dieses Gefühl, sagt Isabelle, habe sie immer mit dem Märkischen Viertel verbunden. Nur raus hier.

Sido hat das Viertel verlassen, nachdem der Erfolg ihn zu groß gemacht hatte. Isabelle geht Ende des Jahres für sechs Monate in die Türkei. Es kann sein, dass sie danach nie wieder richtig zurückkommt. Der Möbelwagen, er wird dann vor ihrer Tür stehen.

STEIG EIN.

An der 66 ist es ruhig. Murat Drayef lässt seine Finger über die Namen auf den Klingelschildern gleiten. Muss gleich weiter. Laufen. Nicht viel los heute. Da geht die Tür auf. Und plötzlich steht dort wieder ein Rapper. Dunkle Haut unter dunkler Kapuze. Afrob. Einer aus dem sauberen Stuttgart, aus dem Freundeskreis von Max Herre. Im neuen Sido-Video zum Song „30-11-80“ rappt er in der Metallenge eines beschmierten Aufzugs: „Ich sitz im MV, 11. Stock. Odd brennt.“

Ein Bekenntnis. Nicht nur zum Viertel, zur Droge. Sondern auch dazu, dass ein echter Rapper an einem Ort wie diesem leben muss, um zu wissen, worauf es ankommt. Oder dass sowieso alles Fake, Inszenierung, ist, auch der Schmutz, der vielleicht vorneweg, und sich Bilder immer auf Bilder beziehen.

Murat Drayef schaut Afrob an. Was machste, wer biste, woher kommste, wo willste hin. Gerade als er ihn fragen will, rennt Afrob los. Der Bus. 122er. Raus hier.

Sido, Vollbart und Sonnenbrille, liegt in diesem Video auf dem akkurat geschnittenen Rasen eines Gartens. Und schaut in die Sonne.

AH, DAMALS ALS ICH JUNG WAR, BIN ICH GEFLOGEN / HIN UND WIEDER RICHTUNG BODEN, ABER MIT DEM BLICK NACH OBEN- Sido, 30-11-80

Dieser Text ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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