NSU-Prozess: Ralf Wohlleben ist der Heldenstatus in der Naziszene sicher
Er soll dem NSU die Mordwaffe verschafft haben, seine Anwälte zitieren Hitler – Ralf Wohlleben beharrte wie kein anderer auf seiner NS-Ideologie. Ausgerechnet er ist nun wieder frei.
Am letzten Prozesstag hat er nochmal auf subtile Weise, und doch unübersehbar, seinen Trotz und wohl auch seine Gesinnung gezeigt. Ralf Wohlleben erschien am Mittwoch der vergangenen Woche im schwarzen Hemd im Münchner Oberlandesgericht, zur Urteilsverkündung im NSU-Prozess, im größten Verfahren zu rechtsextremem Terror seit der Wiedervereinigung. Das dunkle Oberteil wäre im Saal A 101 nicht weiter aufgefallen, hätten nicht auch der schwer tätowierte Angeklagte André E. und ein Trupp Neonazis auf der Zuschauertribüne demonstrativ schwarze Hemden getragen.
Mag sein, dass die Rechtsextremisten ein Urteil erwarteten, das sie mit Trauerkleidung kommentieren wollten. Doch ein Schwarzhemd bedeutet in der Szene weit mehr.
Das Kleidungsstück ist ein Symbol des Faschismus. Mussolinis Milizen waren die ersten, die martialisch als „Schwarzhemden“ auftraten. Europaweit ahmen Rechtsextremisten dies bis heute nach. Und für deutsche Neonazis von besonderer Bedeutung: Soldaten der Waffen-SS, von der Szene trotz oder auch gerade wegen aller Verbrechen als Helden glorifiziert, trugen schwarze Hemden.
Wohlleben und E., ausgerechnet die beiden Angeklagten, die im Gericht ihrer Weltanschauung offenkundig treu blieben, sind nun auf freiem Fuß. Knickt der Rechtsstaat gegenüber braunen Fanatikern ein? Oder zeigt er Skrupel, die auf einer relativ liberalen Strafprozessordnung beruhen? Selten stand der Rechtsstaat in der öffentlichen Meinung so auf dem Prüfstand wie im NSU-Komplex.
Am Mittwochmorgen verlässt er das Gefängnis
Gleich nach der Urteilsbegründung hatten die Richter den Haftbefehl gegen André E. aufgehoben. Die Strafe von zweieinhalb Jahren wegen Unterstützung des NSU mit zwei Bahncards ließ nach mehr als einem Jahr Untersuchungshaft kaum eine andere Entscheidung zu.
Und an diesem Mittwochmorgen, gegen neun Uhr, hat Wohlleben die JVA Stadelheim verlassen. Nach sechs Jahren und acht Monaten Untersuchungshaft. Der 6. Strafsenat unter Vorsitz von Manfred Götzl hatte Wohlleben zu zehn Jahren Haft verurteilt, wegen Beihilfe zu neunfachem Mord, und in der Untersuchungshaft belassen. Nun die Kehrtwende. Der Heldenstatus ist dem 43-jährigen Wohlleben und dem vier Jahre jüngeren André E. in der rechten Szene sicher. Als der Vorsitzende Richter Manfred Götzl die Entlassung von André E. verkündete, klatschten die Neonazis auf der Tribüne und riefen „Bravo!“
Die Opferfamilien leiden unter der Entscheidung
Für die Opferfamilien und ihre Anwälte ist die Milde des Gerichts unerträglich. Dass nun auch noch Wohlleben frei ist, sei „eine Katastrophe“, ruft Seda Basay ins Telefon. Sie vertritt die Witwe von Enver Simsek, dem ersten Mordopfer des NSU. Die Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hatten den türkischen Blumenhändler am 9. September 2000 in Nürnberg erschossen. Mit der Pistole Ceska 83, deren Beschaffung mutmaßlich Wohlleben eingefädelt hatte. „Was hat sich denn in den Tagen seit dem Urteil geändert?“, fragt Basay. „Das ist ein unglaublicher Vorgang!“
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Gamze Kubasik empfindet die Freilassung Wohllebens als zweiten Tiefschlag, nachdem sie am Tag des Urteils bereits den jubelnden André E. hatte erleben musste. „Das ist alles bitter“, lässt die Tochter des am 4. April 2006 in Dortmund erschossenen Kioskbetreibers Mehmet Kubasik ihren Anwalt mitteilen. Auch Kubasik starb durch Kugeln aus der Ceska.
Schnelles Manöver der Anwälte
Wie kann es sein, fragen sich nicht nur Angehörige der Ermordeten, dass ein mutmaßlicher Waffenlieferant des NSU vor dem Ende seiner Haftzeit freikommt? Was hat Richter Götzl und seine Kollegen bewogen, schon nach wenigen Tagen den eigenen Beschluss zur „Fortdauer“ der Untersuchungshaft zu kippen? Vermutlich war es ein schnelles Manöver der drei Verteidiger Wohllebens, die der rechten Szene nahe stehen.
Nicole Schneiders, Olaf Klemke und Wolfram Nahrath legten nicht nur sofort nach dem Urteil Revision ein, sie präsentierten dem Gericht am vergangenen Donnerstag auch eine Haftbeschwerde. Es war nicht das erste Mal, dass die Anwälte ihren Mandanten aus der U-Haft herausholen wollten, bislang stets ohne Erfolg. Doch diesmal hatten sie ein paar Trümpfe.
Angeblich hat Wohlleben einen Job sicher
Da Wohlleben nur zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde und nicht zu zwölf, wie die Bundesanwaltschaft gefordert hatte, bleiben angesichts der schon abgesessenen Untersuchungshaft nur noch drei Jahre und vier Monate Reststrafe übrig. Damit hätte Wohlleben, sollte das Urteil rechtskräftig werden, jetzt schon zwei Drittel verbüßt und könnte auf Bewährung freikommen. Das wussten die Richter natürlich schon vergangene Woche. Aber nun schoben die Verteidiger noch ein Argument nach.
Sie teilten dem Strafsenat mit, Wohlleben habe einen Job sicher. „Der Angeklagte könne im Falle einer Haftentlassung sofort in der Nähe seines Wohnortes einer geregelten, entgeltlichen Beschäftigung nachgehen“, schrieben Götzl und zwei weitere Richter in den Beschluss hinein, mit dem sie am Dienstag die Freilassung anordneten. Die Arbeitsstelle ist ein wesentliches Argument für den Strafsenat, die „Fluchtanreize“ als „stark gemindert“ zu bezeichnen. Die Bundesanwaltschaft sieht das ähnlich. Obwohl sie Wohlleben in der Anklage die „steuernde Zentralfigur der gesamten Unterstützerszene“ des NSU bis zum Jahr 2001 nannte.
Vermutlich kehrt er nach Sachsen-Anhalt zurück
Um was für eine Arbeitsstelle es sich handelt, steht im Beschluss der Richter nicht. Auch die Verteidiger Wohllebens schweigen. Nach Informationen des Tagesspiegels kann Wohlleben in einem Ort im Süden von Sachsen-Anhalt, nahe der Grenze zu Sachsen und Thüringen, unterkommen. Gewohnt hatte er vor Beginn der U-Haft im November 2011 in Jena, wo er zuletzt als Feinelektroniker tätig war und jahrelang als einer der Häuptlinge der rechten Szene auftrat. Die Gemeinde in Sachsen-Anhalt ist von Jena etwa 70 Kilometer entfernt.
Das passt nicht ganz zur Behauptung der Verteidiger, Wohlleben könne in der Nähe seines Wohnortes arbeiten. Andererseits sollen in dem Ort in Sachsen-Anhalt Mitglieder seiner Familie leben. Und für die Richter zählt auch die Erfahrung aus dem Prozess, dass Wohlleben auf familiären Rückhalt bauen kann.
Diese Familien sind Teil rechtsextremer Biotope
Ehefrau Jacqueline, Mutter der gemeinsamen zwei Töchter, setzte sich an mehreren Verhandlungstagen und auch am Tag des Urteils als Beistand neben ihren Mann. Die beiden hielten sich an den Händen, Jacqueline Wohlleben blickte ähnlich grimmig wie ihr Mann zu Anklägern und Nebenklägern. Sie trug ebenfalls Schwarz. Wie auch Susann E., die Ehefrau von André E., die gleichfalls nicht das erste Mal als Beistand erschien. Susann E., einst beste Freundin der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, schien es nichts auszumachen, dass die Bundesanwaltschaft sie als eine von neun weiteren Beschuldigten im NSU-Komplex führt.
Wohlleben, André E. und ihre Familien sind Teil rechtsextremer Biotope. Sie ziehen sich wie ein Flickenteppich über das Land, mit beträchtlicher Dichte in der ostdeutschen Provinz. Wohlleben ist da eine bekannte Figur, bereits Anfang der 1990er Jahre fiel er dem Thüringer Verfassungsschutz auf. Er machte bei der Gruppierung „Anti-Antifa-Ostthüringen“ mit, die sich dem Kampf gegen Linke verschrieben hatte. 1995 war er einer der Gründer der Vereinigung „Thüringer Heimatschutz (THS)“. Die Truppe wuchs rasch und zählte bald mehr als 150 Mitglieder. Wohlleben war einer der Wortführer.
Er blieb der ideologisierte Scheitelnazi
Als seine Hausmacht galt die „Sektion Jena“, der Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und der im NSU-Verfahren ebenfalls angeklagte Holger G. angehörten. Die Kameradschaft radikalisierte sich und wollte mehr als nur saufen und feiern wie die zahllosen rechten Skinheadcliquen. Wohlleben ging es um Politik, um einen „nationalen Sozialismus“, der von unten wächst. Symbolhaft erscheinen seine Bemühungen, in Jena einen Treffpunkt der rechten Szene am Leben zu halten, das „Braune Haus“.
Wohlleben beteiligte sich an Straftaten, schlug aber einen anderen Weg ein als Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Er lieh den dreien sein Auto, als sie im Januar 1998 untertauchten, er hielt jahrelang konspirative Kontakte zu ihnen aufrecht und dirigierte mutmaßlich die Beschaffung der späteren Mordwaffe Ceska, mit der insgesamt neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft ermordet wurden. Wohlleben selber mied aber das Leben in der Illegalität. Er blieb ideologisierter Scheitelnazi, verzichtete auf grelle Tattoos und begab sich zur eher biederen NPD. Seine Verteidigerin Nicole Schneiders, einst mit Wohlleben im selben NPD-Kreisverband, bezeichnete im Prozess ihren Mandanten als „Realo“. Die abgedrehten Fundis waren demnach Leute wie Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, aber nicht Wohlleben.
Bei den Vernehmungen schwieg er, im Prozess meist auch
In der Thüringer NPD stieg er zum Vizechef auf. 2010 verließ er jedoch die Partei, blieb aber in der Szene unvermindert aktiv. Bis ihn am 29. November 2011 die Polizei festnahm, dreieinhalb Wochen nach dem dramatischen Ende der Terrorzelle NSU.
Bei den Vernehmungen verriet er nichts, auch im Prozess hörte man von Wohlleben lange kein Wort. Erst im Dezember 2015 sagte er aus. Er bestritt, den Erwerb der Ceska 83 eingeleitet und finanziert zu haben. Später ließ Wohlleben im Gerichtssaal ein rechtes Propagandavideo vorführen, um seine angebliche Friedfertigkeit zu beweisen. In dem Film treten Neonazis auf und behaupten, sie hätten nichts gegen Ausländer, die seien nur „das Opfer der Kapitalisten“. Verteidiger Nahrath trieb die Verharmlosung des Rechtsextremismus auf die Spitze, als er in seinem Plädoyer harmlos klingende Zitate von Adolf Hitler vortrug wie: „Ich will den Frieden.“
Über Meldeauflagen ist nichts bekannt
Die zehn Jahre Haft, die der Strafsenat gegen Wohlleben verhängt hat, sind eine hohe Strafe, die jedoch unter dem Antrag der Bundesanwaltschaft bleibt und damit Wohlleben den Weg in die Freiheit öffnete. Dass er jetzt Meldeauflagen einhalten müsste, ist nicht bekannt. Ob er die restlichen drei Jahre und vier Monate verbüßen muss, ist offen, aber wegen der Zwei-Drittel-Regel bei Haftstrafen wenig wahrscheinlich. Das Neonazispektrum, das ihn mit der Kampagne „Freiheit für Wolle“ unterstützt hat, kann sich freuen. „Seine Freilassung bedeutet eine Verstärkung der Szene“, sagt der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan J. Kramer. „Wir werden ihn im Auge behalten.“