Bayerns SPD-Spitzenkandidatin: Natascha Kohnens Flucht nach vorn
Die Spitzenkandidatin der SPD will in Bayern mit Sachlichkeit und guten Themen punkten, aber in den Umfragen sieht es düster für sie aus. Ein Porträt.
Mitten im Gespräch zeigt Natascha Kohnen auf den Münchner Spätsommerhimmel, der an diesem Mittwoch im September in ein besonderes Licht getaucht ist: „Das ist einfach Genuss.“ Sie sitzt auf der Terrasse des bayerischen Landtags, dem Maximilianeum, von der man auf die Stadt herabschauen kann, aber ihre gute Laune ist nicht nachvollziehbar. Die politische Großwetterlage, über die die Spitzenkandidatin der SPD in Bayern spricht, ist so furchterregend wie ein nahender Hurrikan. Bei den Landtagswahlen im Oktober wird sie wohl das historisch schlechteste Wahlergebnis zu verantworten haben.
Kohnen zögert, vielleicht selbst überrascht von ihrem Gefühlsausbruch, dann erzählt sie von Todesängsten, die sie einst hatte. Seitdem überkommen sie diese Augenblicke, in denen sie das eigene Leben laut pulsieren hört. Dass Natascha Kohnen lebt, ist keine Selbstverständlichkeit. Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Dermatologe schwarzen Hautkrebs bei ihr festgestellt und sie sehr deprimiert angeschaut, während er ihr die Diagnose erläuterte.
Ihre Tochter und ihr Sohn waren noch klein, die Ehe kaputt, sie bekam Panik, sie dachte: Was soll nur aus den Kindern werden? 14 Tage Ausnahmezustand, bis alle Untersuchungen beendet waren. Das Melanom war erst bis knapp vor die zweite Hautschicht eingedrungen und hatte noch nicht gestreut. Kohnen wurde gesund. Heute sagt sie: „Ich empfinde immer wieder ein unglaubliches Glücksgefühl, dass ich da bin.“ Das Gefühl gibt Sicherheit: dass da kommen könne, was wolle.
Das einzige TV-Duell bestreiten die CSU und die Grünen allein
Vielleicht kann diese Geschichte ein wenig das Warum erklären: Warum tut man sich das Amt der Spitzenkandidatin in Bayern an, obwohl man weiß, dass es für Sozialdemokraten schon immer ein Kampf gegen Windmühlen war? Seit 2003 lautet das beste Ergebnis: 20,6 Prozent. Nun sind es in manchen Umfragen nur noch elf, maximal 13 Prozent. Hoffnungslos also. Ein Himmelfahrtskommando. Bayern könnte für die Bundespartei ein weiteres Fanal auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit werden.
Das besonders Bittere: Auch die Umfragewerte der Christsozialen sind so schlecht wie nie – nur die SPD hat nichts davon. Stattdessen sind die Grünen vorbeigezogen und die AfD auch; der Bayerische Rundfunk lädt nicht die stärkste Oppositionspartei, die SPD, sondern die stärkste Oppositionspartei in den Umfragen, die Grünen, zum einzigen TV-Duell mit dem Ministerpräsidenten ein.
Und auf der Terrasse sitzt eine Frau, 50 Jahre alt, alleinerziehende Mutter mit nun erwachsenen Kindern, der man äußerlich nicht anmerkt, unter welchem Druck sie steht. Trotz der Lage ist sie stoisch freundlich, begrüßt Menschen, die sie kennt, herzlich. Entschuldigt sich, wenn im Minutentakt Nachrichten auf ihrem Handy aufploppen. Unruhig sind nur die Hände. Will sie Zusammenhänge erklären, zum Beispiel, warum sie sich persönlich in der Affäre um den zu versetzenden Präsidenten des Verfassungsschutzes gegen die Parteispitze stellte, arbeiten die Hände wie bei einem Pantomimen.
An jenem Mittwoch Mitte September im Bayerischen Landtag wischt Kohnen sehr intensiv in der Luft herum, um die Contenance zu bewahren. Sie versucht, ihre Wut und ihren Ärger zu versachlichen. Die zunächst von der SPD abgenickte Beförderung von Hans-Georg Maaßen hatte ja weniger der CSU zugesetzt, sondern die SPD in die Bredouille gebracht. Kohnen weiß an diesem Morgen: Wenn die von Parteichefin Andrea Nahles mitgetragene Beförderung nicht noch umgebogen wird, hat sie ein Problem mehr. Schließlich hatte sie persönlich erklärt, sie wolle im Wahlkampf für exakt das stehen, was nun auf dem Spiel steht: Glaubwürdigkeit, Anstand, einen politischen Stil der Sachlichkeit.
Berlin ist zwar weit weg, aber ihre Umfragewerte würden sich vielleicht gar nicht mehr erholen.
Die Nacht zuvor, nachdem bekannt geworden ist, dass Maaßen beamteter Staatssekretär im Bundesinnenministerium werden soll, schläft Kohnen kaum. Sie ringt mit sich. Fragt sich, wie sie persönlich in dieser Situation Haltung zeigen kann. Schon am Abend hatten Hunderte von Protest-E-Mails die bayerischen SPD-Server geflutet, die ersten Austrittsschreiben gehen nun ein.
Aufzuchtmethoden sind eine ihrer Spezialitäten
Sie entschließt sich für die Flucht nach vorn und schreibt einen Brandbrief an die Parteichefin und das SPD-Präsidium, in dem sie fordert, die Regierungsmitglieder der SPD dürften der Personalie im Kabinett nicht zustimmen. Sie gehört damit zu denen in der SPD, die die Angelegenheit noch einmal drehen. Und am Ende gehört sie zu den Siegerinnen. Auf der Terrasse sagt sie: „Wenn Politik nicht mehr sachlich und nicht mehr glaubwürdig sein kann, dann müsste ich gehen.“ Jetzt, seit Sonntagabend, seitdem sich die Koalition in Berlin doch noch dazu durchgerungen hat, eine andere Lösung zu finden, ist Natascha Kohnen mit sich im Reinen. Sie findet, sie könne sich mit ihrer Haltung im Spiegel selbst betrachten, sie sei sich treu geblieben und das werde sich auszahlen.
Sie ist Naturwissenschaftlerin und Diplombiologin, arbeitete als Lektorin in einem Verlag. Für ihre Aufgabe als Spitzenfrau der ewig zerstrittenen SPD in Bayern brauchte sie zunächst einmal ein großes Herz, aber, fand sie, auch eine kühle Strategie. Und so wagt sie nun ein Experiment ohne Sicherheiten. Sie kennt das schon aus dem Biologiestudium. Da musste sie Schwefelbakterien züchten, um deren Eiweißmoleküle zu entschlüsseln. Es ging um eine spezielle Aufzuchtmethode, von der man nicht wusste, ob sie gelingen würde.
Monatelang wuchsen die Bakterien nicht, das Experiment stand kurz vor dem Scheitern, bis sie mitten in der Nacht den erlösenden Anruf eines Mitarbeiters bekam, der ins Telefon brüllte: „Sie wachsen!“ Der Rest war ein Kinderspiel.
In ihrer Aufzuchtmethode für die Politik geht es um Vertrauen. Die These: Erst wenn die Wähler der SPD in Bayern wieder Kompetenzen zuwiesen, wachse auch das Vertrauen. Als zusätzliche Nährstoffe für das Wachstumsexperiment hat Kohnen der Partei Ernsthaftigkeit, Sachorientierung, Wertschätzung und Gesprächsoffenheit verschrieben. Allerdings könnte es sein, dass das Wachstum viel Zeit braucht. Mehr Zeit, als die SPD bis zum Wahltag hat.
Wie Natascha Kohnen bei der IHK ankommt, lesen Sie hier
Natascha Kohnen sagt, beim Thema Wohnen habe das Experiment doch schon funktioniert. Der SPD würden bei diesem Thema die größten Kompetenzen zugesprochen. Schon 2016, da war sie bayerische Generalsekretärin, hat sie davon gesprochen, dass Wohnen die „soziale Frage der Zukunft“ sei. Doch das sagen Markus Söder, Horst Seehofer und Angela Merkel jetzt eben auch.
Und so sucht Natascha Kohnen in diesem Wahlkampf geduldig wie eine Pfadfinderin die wenigen Räume, die die CSU in diesem ökonomisch sehr erfolgreichen Bundesland offengelassen hat. Findet sie noch welche, marschiert indes die CSU schnell hinterher. Söder hat etwa vor Jahren die staatliche Wohnungsbaugesellschaft verkauft, was ihm Kohnen lange vorwarf. Doch kaum war Söder Ministerpräsident, hat er eben eine neue Wohnungsbaugesellschaft gegründet.
Ausgerechnet an jenem Abend, als das einzige öffentliche Duell zwischen Natascha Kohnen und Markus Söder bei den „Nürnberger Nachrichten“ ansteht, wird die Beförderung Maaßens bekannt. Die SPD überträgt das Aufeinandertreffen über die sozialen Netzwerke, es soll ein Signal werden. Doch dann interessiert sich halb Deutschland – vor allem in jenen Netzwerken – nur für Maaßen.
Auf dem Podium steht Söder gewohnt breitbeinig, Kohnen ist nicht sehr groß, aber neben dem Ministerpräsidenten wirkt sie winzig. Sie muss steil nach oben schauen, um Augenkontakt zu bekommen. Söder blickt nie zu ihr herab.
Als es um Maaßen geht, versucht Kohnen tapfer, die Schuld bei Seehofer zu suchen, und nennt ihn „außer Rand und Band“, er müsse zurücktreten. Söder verzieht keine Miene und spricht bewusst leise, „die da in Berlin“ müssten jetzt mal aufhören zu streiten und zurückkehren zur Sachpolitik. Er sagt tatsächlich Sachpolitik – das ist eigentlich Kohnens Wahlkampfvokabel. Die verdreht die Augen, versucht, ihn inhaltlich zu stellen. Wiederholt, dass er bei der Wohnungspolitik versagt habe. Söder guckt amüsiert und kontert, die Kommunen müssten bauen und in den meisten Städten regierten Sozialdemokraten. So ergeht es Natascha Kohnen wie einem Boxer, der zwar angreift, aber maximal ein paar Körpertreffer landet. Keine Wirkungstreffer.
Um zu verstehen, wie mutig Kohnens politische Versuchsanordnung in Bayern ist, muss man wissen, dass die bayerische SPD bisher eigentlich immer nur versucht hat, auf die CSU einzuschlagen. Doch dabei lief sie stets Gefahr, vorgehalten zu bekommen, auch Bayern schlechtzumachen. Zudem hat die Partei eine große Neigung dazu, Talente in den eigenen Reihen auszubremsen und sich zu zerstreiten.
Kohnen hat zunächst die Partei umgekrempelt, nun, heißt es, sei die Solidarität untereinander auch wieder größer. Und sie wollte die SPD so aufstellen, dass „der Wähler weiß, wofür wir stehen und nicht nur wogegen“. Wohnen, Arbeiten, Leben – auf diese drei Begriffe kann man den Kohnen-Wahlkampf reduzieren, sie sagt, die SPD müsse über Themen reden, die die Leute täglich bewegen. Beitragsfreie Kitas, kostenloser Nahverkehr, Grundsicherung für Kinder, kleinere Schulklassen und 100 000 Wohnungen in fünf Jahren verspricht die SPD. Aber überall da, wo die Partei in offenen Wunden stochert, kommt Markus Söder schon mit dicken Pflastern in Form von Geldversprechen für mehr Lehrer, mehr Polizisten, mehr Schulen und Kitas, besseren öffentlichen Nahverkehr.
Einen Tag vor dem Duell mit Söder in Nürnberg sitzt Natascha Kohnen in der „Wahlarena“ der bayerischen Industrie- und Handelskammer. Alle Parteien sind eingeladen. Kohnen rattert vor allem ihr Wahlprogramm runter. Es ist nicht leicht, sachlich für komplexe Themen zu werben und trotzdem auf den Punkt zu kommen. Andere können das besser als sie. Am Ende blendet die IHK auf einer Leinwand das Abstimmungsergebnis des Publikums ein. Kohnen ist mit Abstand Letzte. Gewinner des Abends sind die Grünen, dann kommen die FDP, die AfD, die CSU und die Freien Wähler. Sie sagt lächelnd: „Ist nicht unser Publikum hier.“ Was sie nicht sagt: Es ist auch kein klassisches Grünen-Publikum.
Politik ist auch die Kunst, immer weiterzumachen. In der Wissenschaft muss man Versuchsanordnungen, die nicht funktionieren, abbrechen. Und neu anfangen. Kohnen sagt: „Ich gebe nie auf.“
Als sie für einen Wissenschaftsverlag arbeitete, war sie auch drei Jahre in Paris. Ihr Sohn war mit dabei, ihre Tochter wurde dort geboren. Sie galt bei den Eltern ihrer Kita als hysterische Helikopter-Mutter, weil sie die Kinder schon um 14 Uhr abholte. Als sie wieder nach Deutschland kam und in einem kleinen Ort bei München im Rathaus nach Kitaplätzen fragte, sagte ein älterer Mitarbeiter zu ihr: So etwas brauche man nicht. „Wenn Frauen freihaben, gehen die nur shoppen.“
Als sie wütend rausrannte, lief sie der sozialdemokratischen Bürgermeisterin in die Arme, und die wiederum überredete sie, in die Politik zu gehen. So wurde sie 2001 Mitglied der SPD, mit 34 Jahren, und machte schnell Karriere.
Sie sagt heute: „So, wie ich bin, bin ich in der Politik weit gekommen. Mir treu zu bleiben, ist wichtiger, als Wahlen zu gewinnen.“
Wahlen hat sie dennoch gewonnen. Sie wurde Vorsitzende der SPD in der Gemeinde Neubiberg, später Unterbezirksvorsitzende und Generalsekretärin der Bayern-SPD. Seit 2008 sitzt sie im bayerischen Landtag, und als Florian Pronold im Frühjahr 2017 als Landeschef zurücktrat, setzte sie sich gegen fünf männliche Kandidaten durch, die gegen sie antraten, obwohl einige das Gegenteil versprochen hatten. Ende 2017 wurde sie zu einer der Parteivizes im Bund gewählt.
In der Partei wie außerhalb loben die Menschen vor allem ihre Klarheit. Sie spiele nie unfair und bemühe sich um ein Miteinander. Es gibt auf Bundesebene aber auch Spitzen-Genossen, die sie für „strategisch naiv“ halten und ihr wegen des Briefes an Nahles „Juso-Methoden“ vorwerfen.
Ihre Klarheit hat Natascha Kohnen ihrer Stiefmutter zu verdanken. Sagt sie. Die Eltern ließen sich früh scheiden, die „zweite Mutter“ hat Kohnen immer wieder ermutigt, sich zu vertrauen. „Sie hat mich einfach immer starkgeredet.“ So marschiert schon die Schülerin Kohnen mit dem Button „Gorleben soll leben“ durch die Schule oder lässt mit Freunden Flugblätter gegen die Volkszählung drucken mit dem Slogan „Nur Schafe lassen sich zählen“. Machte 3000 Mark Strafe – wegen „Aufruf zu einer Straftat“.
Sie will nicht mehr ins "Heute-Journal" - es reiche für heute
Manchmal weiß man bei ihr nicht, ob ihre äußerlich besonnene Art nur ihren inneren Widerstand zügeln soll oder ob sie ganz und gar abgeklärt ist. Als sie auf dem Weg zu einer Diskussionsveranstaltung in Taufkirchen ist, ruft das „Heute Journal“ an. Der Redakteur verspricht, sie sei viereinhalb Minuten live auf Sendung. Kohnen hat an diesem Tag schon Statements zu Maaßen abgegeben, aber die Chance, die eigene Politik, die eigene Person, die eigene Haltung zur besten Sendezeit einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, hatte sie nicht. Das Team um sie herum will sie überreden – aber Kohnen will nicht. Es reiche für heute.
Als die Schülerin Natascha Kohnen eines Tages mit einer sehr schlechten Mathe-Note heulend und ziemlich verzeifelt nach Hause kam, sagte die Stiefmutter. „Schau, Kind, auf der einen Seite ist die Note, auf der anderen deine Persönlichkeit. Du musst das trennen.“ Eine Note könne ihr doch überhaupt nichts anhaben. Vermutlich gilt dies auch für das Wahlergebnis am 14. Oktober.
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