Brasilien nach der Wahl: Jair Bolsonaro will Brasilien radikal anders
Brasiliens neu gewählter Präsident Jair Bolsonaro ist noch nicht im Amt, da ist sein Land bereits wie verwandelt. Und für Menschen wie Jean Wyllys lebensgefährlich.
Er traut sich nicht mehr aus dem Haus, verlässt seine Wohnung nur noch zu offiziellen Terminen. Rund um die Uhr wird er von drei Leibwächtern beschützt. Wenn er auf die Straße geht, brüllt trotzdem immer irgendeiner: „Schwuchtel, hau ab!“ oder: „Kommunistensau!“ Hunderte von Morddrohungen hat er in den vergangenen Wochen erhalten, die Sicherheitsdienste sagen, dass sie ernst zu nehmen sind. „Ich fühle mich wie im Gefängnis“, sagt Jean Wyllys.
Der 44-Jährige ist Abgeordneter im brasilianischen Parlament, vertritt dort den Bundesstaat Rio de Janeiro. Er ist der einzige bekennende Homosexuelle der 513 Volksvertreter. Und der Lieblingsfeind des künftigen brasilianischen Präsidenten, Jair Bolsonaro. Der hat ihn über Jahre hinweg beschimpft und verspottet, in den Medien und im Parlament, hat ihn „Schwuchtel“ und „Hinterlader“ gerufen. Im Gegenzug hat der linke Wyllys Bolsonaro als „Faschisten“ und seine Anhänger als „Hirnlose“ bezeichnet.
Brasilien galt einst als tolerant und gelassen, erlebt nun aber eine Welle von Intoleranz und Aggressivität. Die Lager im Land scheinen sich so unversöhnlich gegenüberzustehen wie Jean Wyllys und Jair Bolsonaro.
Dabei zeigt sich immer wieder, wie dünn die Firnis der Zivilisation ist. Ein über Twitter geteiltes Video, wenige Tage alt: Polizisten in Rio de Janeiro schmeißen die Leichen zweier junger Männer auf die Ladefläche eines Pick-up-Trucks. Es handelt sich um Kriminelle, die sie gerade erschossen haben. Schaulustige applaudieren. Das Video wird auch von einem rechten Parlamentsabgeordneten verbreitet, der kommentiert: „Die Säuberung muss gemacht werden.“ Er gehört zu Jair Bolsonaros Sozial-Liberaler Partei. Ganz oben auf deren Programm: Polizisten sollen einen Freibrief zum Töten bekommen. Es soll, wenn ein Polizist jemanden umbringt, anschließend keine Untersuchung mehr geben. Kaum irgendwo sterben schon jetzt so viele Menschen durch die Polizei wie in Brasilien. 2017 tötete sie 5012 Menschen, 19 Prozent mehr als im Jahr davor.
Jair Bolsonaro verkörpert die Radikalisierung seines Landes wie kein anderer. Der Ex-Militär wurde Ende Oktober mit 55 Prozent der gültigen Stimmen zum nächsten Präsidenten Brasiliens gewählt. Zuvor war er 27 Jahre lang Abgeordneter ohne bemerkenswerte Verdienste – seine Bekanntheit erlangte er durch die Verherrlichung der Militärdiktatur sowie die Beschimpfung von Homosexuellen und politischen Gegnern. So sollte man Schwule laut Bolsonaro schlagen, um sie zu heilen. Linke an die Wand stellen.
Autoritär, religiös-fundamentalistisch und ignorant
In Deutschland hätte Bolsonaro Dutzende Prozesse wegen Anstiftung zur Gewalt am Hals. In Brasilien aber zieht er nun in den Präsidentenpalast ein, weil er den Brasilianern einen kompromisslosen Wandel versprochen hat. Er sagt, dass er Schluss machen werde mit der Korruption im Parlament und der Kriminalität auf der Straße. Und er will wieder Ordnung in eine Gesellschaft bringen, die in den Augen vieler Brasilianer aus den Fugen geraten ist. Zur Unordnung gehört für sie auch die zunehmende Sichtbarkeit und der Einfluss von Schwulen. Von Männern wie Jean Wyllys.
Wyllys meldet sich über Whatsapp-Video aus seinem fensterlosen Abgeordnetenbüro in Brasilía. Er trägt einen Vollbart und ein leicht geöffnetes Hemd, darunter schaut eine Brusttätowierung hervor. Die Menschen seien „zum Leuchten geboren, nicht, um vor Hunger zu sterben.“ In einer Ecke hinter Wyllys steht die Fahne Brasiliens. Niemand soll sagen, er sei kein Patriot.
„Ich habe Angst vor dem, was da auf uns zukommt“, sagt Wyllys. Er meint den Rechtsruck der Gesellschaft, dessen Symptom und Beschleuniger zugleich Bolsonaro ist. Denn unter der Oberfläche von Fußball, Samba und Karneval ist ein anderes Brasilien hervorgetreten. Es ist autoritär, religiös-fundamentalistisch und ignorant. Und für Menschen wie Wyllys lebensgefährlich.
Alltägliche Situationen verdeutlichen, wie sehr sich die Stimmung bereits vor dem offiziellen Amtsantritt Bolsonaros am 1. Januar verändert hat: In den Kinos buht das Publikum, wenn im Film „Bohemian Rhapsody“ gezeigt wird, dass Freddie Mercury schwul war. Wissenschaftler und Lehrer sehen sich immer öfter dem Vorwurf ausgesetzt, sie indoktrinierten ihre Schüler mit linkem Gedankengut. Kurz vor der Wahl drangen Polizisten in brasilianische Universitäten ein, beschlagnahmten Banner gegen den Faschismus und untersagten Diskussionsveranstaltungen. Sie nahmen Unterlagen von Dozenten mit und fotografierten Studenten.
Den Ureinwohnern hat Bolsonaro angedroht, ihnen keinen Zentimeter Land mehr zur Verfügung zu stellen. Ein Kulturzentrum, in dem man sich für die Indios einsetzt, wurde verwüstet. Künstler wiederum bezeichnet Bolsonaro als „unnützes Pack“, das nur Fördergelder abgreifen würde. Er hat deshalb einen „großen Kulturwandel“ angekündigt. Tatsächlich findet dieser bereits statt: Ausstellungen mit angeblich blasphemischer Kunst werden abgesagt und Performance-Künstler als „Dreckschweine“ beschimpft, weil sie die menschliche Nacktheit thematisieren. Bolsonaro nennt das „Pädophilie im Namen der Kultur“ – und das christlich-konservative Brasilien applaudiert.
Welle der Popularität
„Fahr zur Hölle, Nutte. Du wirst bereuen, dass du geboren wurdest. Ich warne dich. Noch ein Wort und ich beende dein Leben.“ Diese Sätze schrieb Jair Bolsonaros Sohn Eduardo einer Journalistin in einem Chat. Eduardo Bolsonaro ist ebenfalls Parlamentarier. Bei den Wahlen im Oktober stimmten 1,8 Millionen Menschen für ihn. Damit ist er der Repräsentant mit den meisten Stimmen in der Geschichte Brasiliens.
Jean Wyllys’ Stimmenanteil in Rio brach hingegen dramatisch ein: von 145 000 im Jahr 2014 auf diesmal lediglich 24 000. Auch das lässt ihn niedergeschlagen sein. „Dieser Schweinehund hat mich für seinen Aufstieg benutzt", sagt Wyllys. Er erinnert sich an die Flugzeug-Episode vom April 2015: Es war vor dem Start in der Maschine von Rio nach Brasília. Jean Wyllys saß auf Platz 12C und las, als Jair Bolsonaro gut gelaunt den Mittelgang entlanggelaufen kam. Wyllys war damals von Bolsonaro schon oft homophob beschimpft worden, etwa als „vagabundierendes Arschloch“.
Ob Zufall oder nicht: An diesem Dienstag hat Jair Bolsonaro den Sitz 12B, direkt neben Wyllys. Eine weitere Merkwürdigkeit: Bolsonaro filmt mit seinem Smartphone. So hält er fest, wie er Wyllys zuruft: „Hey, Wyllys, ich bin da neben dir!“ Und wie Wyllys wortlos aufsteht und sich auf die andere Seite des Gangs setzt. Bolsonaro nutzt die Reaktion, um ins Handy zu sagen, dass er sich von Wyllys diskriminiert fühle. Noch am selben Tag veröffentlicht er das Video mit einem kurzen Text, in dem er Wyllys „Heterophobie“ vorwirft.
Millionen von Brasilianern sahen das Video und viele stimmten zu: Der Wyllys ist arrogant. „Das war ein wichtiger Baustein in seiner Hasskampagne“, sagt Jean Wyllys.
Seit der Wahl schwimmt Bolsonaro auf einer Welle der Popularität. Vor seinem Haus warten Fernsehteams und Fans mit gezückten Handys, wo immer er auftaucht, wird er bejubelt. Die Pastoren der konservativen evangelikalen Kirchen beten inbrünstig für ihn, die Fernsehsender widmen ihm Dokumentationen, die an Propaganda grenzen. Einem Mann, der noch kurz vor der Wahl brüllte: „Die Minderheiten müssen sich den Mehrheiten unterwerfen.“
Jean Wyllys ist in akuter Gefahr
Dieser Bolsonaro ist auch das Produkt einer riesigen Enttäuschung. Vor nicht einmal zehn Jahren galt Brasilien noch als die Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts. Die Wirtschaft brummte, die Mittelklasse wuchs, das Land wurde Ausrichter von Fußball-WM und Olympischen Spielen. Doch die Mega-Events und eine beginnende Wirtschaftskrise brachten die riesigen Defizite Brasiliens bei Sicherheit, Bildung und Gesundheit sowie die epidemische Korruption zum Vorschein. Viele machten dafür die linke Arbeiterpartei Brasiliens verantwortlich, die zwischen 2002 und 2016 regiert hatte. Keinem anderen gelang es besser, den Zorn der Brasilianer für sich zu nutzen, als dem rechten Außenseiter Jair Bolsonaro.
Auch Jean Wyllys schien einmal ein sehr beliebter Politiker zu sein. Mit einer ungewöhnlichen Karriere: Wyllys stammt aus einer armen schwarzen Familie im nordöstlichen Bundesstaat Bahia. „Mein Vater war Alkoholiker und zu Hause gab es kein fließendes Wasser“, sagt er. Zu Prominenz kam Jean Wyllys, als er 2005 die fünfte Staffel von „Big Brother Brasil“ gewann. Anschließend arbeitete er als Professor für Medientheorie und veröffentlichte vier Bücher mit Erzählungen und Erinnerungen, eins davon gewann einen Preis.
Im Parlament sitzt er seit 2011. Zwei Mal wählten Leser der Website „Kongress im Fokus“ ihn zum besten Volksvertreter Brasiliens. 2015 nahm ihn der britische „Economist“ sogar in die Liste der 50 wichtigsten Vorkämpfer für Vielfalt und Toleranz auf. Auch auf der Liste: Barack Obama und der Dalai Lama.
Die Personenschützer wurden Wyllys im März vom brasilianischen Parlamentspräsidenten zugeteilt, nachdem die linke Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro mit vier Kopfschüssen getötet worden war. Die 38-Jährige gehörte wie Wyllys zur kleinen linken Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) und galt als politische Hoffnungsträgerin. Auch sie unterschied sich wie Wyllys erfrischend von den üblichen Politikern Brasiliens. Sie war schwarz, bisexuell und stammte aus einer der vielen Favelas von Rio, für deren Bewohner sie sich einsetzte.
Bis heute ist nicht klar, wer Marielle Francos Mörder sind. Aber sie werden im Umfeld rechter Milizen vermutet, die Verbindungen in Rios Sicherheitsapparat haben. Jean Wyllys, schlossen die Ermittler, steht auch auf ihrer Abschussliste. Er ist in akuter Gefahr.
Im Netz kursieren Lügen über ihn
„Meine Eltern brachten mir bei, dass man sich wehren muss“, sagt Wyllys. Anfangs nahm er Bolsonaro nicht ernst, machte sich über dessen vermeintliche intellektuelle Beschränktheit lustig. Gleichzeitig bot Wyllys leichte Angriffsflächen, indem er etwa in einem Interview erklärte: „Bevor die Welt endet, würde ich alle illegalen Drogen der Welt nehmen und es mit allen treiben, die wollen.“
Jair Bolsonaro erkannte in Wyllys schnell ein perfektes Feindbild, um seine rechte Basis zu mobilisieren.
Mittlerweile zirkulieren Dutzende Lügen über Wyllys im Netz, deren Urheber aus dem Dunstkreis Bolsonaros stammen: Wyllys will Kindern erlauben, ihr Geschlecht zu ändern. Wyllys ist für die Pädophilie. Wyllys will Teile der Bibel verbieten lassen. Wyllys will Kindern in der Schule das Schwulsein beibringen.
Während der tumultuösen Abstimmung zur Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff 2016 trat jeder Abgeordnete einzeln ans Mikrofon. Jair Bolsonaro, der sich gegen Rousseff aussprach, widmete sein Votum einem Folterknecht der Militärdiktatur. Als Wyllys an die Reihe kam, warf er sich einen roten Schal um und beschimpfte die Parlamentskollegen, die gegen Rousseff stimmten, als „Kanaillen“. Als er abtrat, rief Bolsonaro ihm hinterher: „Tschüss, Schätzchen.“ Wyllys drehte sich um und spuckte Bolsonaro vor Millionen Fernsehzuschauern ins Gesicht. Bolsonaros Sohn Eduardo spuckte daraufhin Wyllys an. Der Einzige, der später von der Ethikkommission gerügt wurde, war Wyllys.
Heute sagt er: „Ich würde es wieder tun. Ich bin ein Mensch, ich habe Blut in den Adern, und die Respektlosigkeit, die ich in diesem Haus erlebe, ist nicht mehr auszuhalten.“ Jean Wyllys sagt auch, dass all das ihn krank mache.
Es kann sein, dass der nächste Parlamentspräsident ihm den Personenschutz entzieht. „Dann“, glaubt Jean Wyllys, „müsste ich Brasilien verlassen.“