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Standbild. Olaf Scholz ist der Klassenbeste unter den SPD-Ministerpräsidenten. Seine Partei respektiert ihn dafür, geliebt wird er nicht.
© Daniel Reinhardt/dpa

Niedersachsenwahl: Greift Olaf Scholz nach dem SPD-Parteivorsitz?

Kühl, pragmatisch, durchsetzungsstark: Olaf Scholz geht Politik anders an als der amtierende SPD-Chef. Hamburgs Bürgermeister kann viel und traut sich vieles zu – sogar die Rettung der Sozialdemokratie.

Sie können ihn jetzt beim Vorwort nehmen. Er hat es seinem Buch „Hoffnungsland“ vorangestellt, einer Art politischem Manifest, mit dem er „Orientierung geben will in bewegter Zeit“. Die Welt, so schreibt Olaf Scholz auf Seite zehn, lässt sich gestalten, wenn man es nur richtig anpackt: „Wir dürfen nicht abwarten, bis uns die Umstände das Handeln aufzwingen, sondern müssen handeln, um die Umstände zu prägen.“

Die Umstände, sie könnten kaum schlechter sein für die SPD im Herbst 2017. Der Absturz auf 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl, mehr als ein Viertel der Mandate verloren, im Osten hinter die AfD zurückgefallen. Und keine Haltelinie in Sicht. Die Existenz als Volkspartei steht auf dem Spiel, das ist den meisten Sozialdemokraten klargeworden. Klar ist auch, dass sich etwas ändern muss in der ältesten Partei Deutschlands, wenn sie nicht den Weg mancher ihrer europäischen Schwestern gehen will. In Frankreich oder den Niederlanden sind die Sozialdemokraten unter zehn Prozent gerutscht, in Polen nicht mehr im Parlament vertreten.

„Erneuerung“ heißt nun das Zauberwort. Aber wie? Und mit wem?

Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit

An dem Abend, am dem seine Partei zu Boden geht, steht Olaf Scholz im Berliner Willy-Brandt-Haus vor einer Fernsehkamera und drückt das Kreuz durch. Der Hamburger ist keiner, in dessen Gesicht sich leicht ablesen lässt, wie es ihn ihm aussieht. Scholz sagt, was sie gerade alle sagen: Es müsse eine gründliche Analyse geben – „das werden wir jetzt miteinander tun“ –, die SPD müsse Antworten auf „Herausforderungen“ liefern, dann könne sie bei der nächsten Wahl auch wieder den Kanzler stellen: „Wenn wir zeigen, dass man uns das Land anvertrauen kann, kann es 2021 auch klappen.“

Olaf Scholz, 59, wirkt beherrscht wie immer, die Augen fixieren den Journalisten. Nur die zusammengepressten Lippen verraten, dass es in ihm arbeitet. Der stellvertretende Parteichef weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Umstände zum Besseren zu wenden.

Kann Olaf Scholz die deutsche Sozialdemokratie retten? Wagt sich der vorsichtige Hamburger nach der Niedersachsen-Wahl an diesem Sonntag aus der Deckung? Oder bleibt er der ewige Reservist, der als Prince Charles in die SPD-Geschichte eingehen muss?

Lösungen, auf die andere nicht gekommen sind

Es gibt etliche in der Partei, die auf ihn hoffen. Aber auch viele, die alles tun würden, um seinen Durchmarsch an die Spitze zu verhindern. Lieber wollen sie mit dem geschwächten Vorsitzenden Martin Schulz weitermachen, fürs Erste jedenfalls, Existenzkrise hin oder her.

Dabei wissen auch seine Gegner, dass Scholz ein Ausnahmepolitiker ist. „Er ist mit Sicherheit der klügste Kopf der SPD“, hat Sigmar Gabriel gesagt, als er noch Parteivorsitzender war. Probleme geht Scholz mit Akribie und analytischem Verstand an, nimmt sie auseinander und findet am Ende fast immer eine Lösung, auf die andere noch nicht gekommen sind. Der Länderfinanzausgleich war so ein Beispiel: Jahrelang hatten die Regierenden aus Bund und Ländern versucht, die Geldströme neu zu ordnen, bis Scholz zusammen mit Finanzminister Wolfgang Schäuble im Mai 2017 einen Kompromiss durchsetzte.

Trotzdem oder gerade deshalb wird Scholz nicht geliebt in der SPD, nur respektiert. Er ist der Klassenbeste unter den SPD-Ministerpräsidenten, er hält im Parteipräsidium die klügsten Reden, aber auf Bundesparteitagen feiern sie ihn nicht. Sein kalter Intellekt, seine hanseatische Reserviertheit wirken auf viele arrogant. Die SPD, die sentimentalste deutsche Partei, verlangt von ihren Vorleuten eben auch Gefühl. Und Gefühle zeigen und Begeisterung wecken, das gehört zu den Dingen, die Scholz fremd sind. Er sagt es selbst: „Sie wissen, dass ich niemand bin, der in der Politik besonders emotional unterwegs ist.“

Es geht um die Zukunft von Martin Schulz

Bei Martin Schulz verhält es sich genau umgekehrt. Dem gescheiterten Kanzlerkandidaten fliegen bei seinen Auftritten an der Basis nach der Bundestagswahl immer noch die Herzen zu. Aber kaum jemand in der SPD-Spitze ist restlos überzeugt, dass Schulz der Richtige ist für den Neuanfang und er dem Erneuerungsprozess Richtung und Tiefe geben kann. Auch jene, die ihn stützen, sehen ihn ihm nur eine Art Übergangsvorsitzenden. Er soll moderieren und verwalten, bis eine starker Parteichef oder eine starke Parteichefin ihn 2019 ablöst.

Dass sich Schulz von seinem Stellvertreter Scholz herausgefordert fühlt – das spüren sie im Willy-Brandt-Haus schon am Sonntag der Bundestagswahl. Im Sitzungssaal im dritten Stock beraten an diesem Nachmittag Schulz, seine Stellvertreter und die SPD-Ministerpräsidenten.Um halb fünf ist klar, die Niederlage wird brutal. Die Stimmung ist gereizt. Es geht um eine gemeinsame Sprachregelung – und um die Zukunft von Martin Schulz.

Noch nie in der Nachkriegsgeschichte hat ein SPD-Kanzlerkandidat ein so schlechtes Ergebnis erzielt, ein Rücktritt wäre nach den Regeln des politischen Betriebs zwangsläufig. Eigentlich. Doch Schulz will im Amt bleiben, und er hat in Niedersachsens Ministerpräsidenten einen mächtigen Verbündeten. Denn Stephan Weil muss am 15. Oktober eine der letzten SPD-Bastionen im Land verteidigen und will ein Führungschaos in der Bundespartei unbedingt vermeiden.

Emotionalität als Programm

Gegen Ende der Krisensitzung fragt Weil in die Runde, ob alle einig seien, dass man sich hinter den Vorsitzenden stellen müsse. Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel äußert Bedenken, schlägt vor, dass die Spitze sich in einem Akt kollektiver Verantwortung komplett zurückzieht. Olaf Scholz signalisiert, dass die Solidaritätserklärungen für Schulz nicht auf Dauer bindend seien. Schulz selbst fasst die Debatte dann so zusammen: „Alle sind dafür, dass ich weitermache. Außer Olaf und Thorsten.“ Alle in der Runde schweigen dazu, auch Scholz.

Schulz gegen Scholz – das ist auch ein Duell der Politikstile. Der frühere Bürgermeister von Würselen sieht sich als einen, der die Welt der kleinen Leute kennt, ihre Sprache spricht, ihnen „Respekt“ erweist. Das lieben sie an der Basis, genauso wie seine pathetischen Kampfansagen an die AfD. Schulz setzt auf Gefühl und Nähe, seinen Machtanspruch leitet er von seiner Beliebtheit ab. Ohne sie bliebe ihm womöglich nicht mehr viel.

Auf einer Wahlkampfbühne der Niedersachsen-SPD in Cuxhaven erhebt er die Emotionalität sogar zum Programm. Es gehöre zum Neuanfang „dass die Menschen uns abnehmen, dass wir hier im Bauch und im Herzen bei ihnen sind, nicht nur mit dem Verstand“, ruft er – und wird dafür von 700 Genossen gefeiert. Man kann das als Kampfansage an Olaf Scholz verstehen und an dessen Art, Politik zu machen.

Eine Art Demutsoffensive

Scholz ist ein Mann der Distanz. Empathie spielt in seinem Politikverständnis eine untergeordnete Rolle. Für ihn schafft Politik nur Vertrauen, wenn sie liefert. Pathos allein ist ihm nichts wert. Beim Umgang mit der AfD zählen Begeisterungsstürme auf SPD-Parteitagen in seinen Augen wenig. Er empfiehlt, den Rechtspopulisten kühl zu begegnen, sie in der Sache zu stellen, statt sie nur moralisch zu verurteilen. Denn damit verschaffe man ihnen noch mehr Aufmerksamkeit und werte sie auf.

Manchmal überschätzt sich Scholz auch – wie beim G-20-Gipfel. Sicherheit und Kontrolle versprach er seiner Stadt vor dem Treffen der Mächtigen. Und dann sitzt er in der Elbphilharmonie, während draußen Hamburg brennt. Aus Hybris hatte Scholz seinen eigenen Markenkern als Garant von Ordnung beschädigt – und musste in einer Demutsoffensive Fehler eingestehen.

G20 mag eine Hypothek sein, aber es ist nicht die schwerste von Olaf Scholz. Hamburgs Bürgermeister macht sich keine Illusionen. Er weiß: Herzenskandidat wird er in diesem Leben nicht mehr. Er weiß auch, dass er einen offenen Machtkampf mit Schulz leicht verlieren kann.

Die SPD leidet am Königsmordtrauma

Seine Gegner planen schon für den Ernstfall. Teile des linken Flügels um Parteivize Ralf Stegner halten Scholz für einen Technokraten. Mit ihm als Chef werde die SPD schnell noch weiter verlieren, fürchten sie. Deshalb kursieren schon Szenarien, einen Mitgliederentscheid für den Fall auszurufen, dass der Hamburger den Vorsitz beansprucht. Dessen Führungsstil halten seine Gegner für autoritär. Einen Scholz-Satz haben sie nie vergessen. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.“

Ohnehin leidet die SPD nach der Demontage ihres damaligen Parteichefs Kurt Beck am brandenburgischen Schwielowsee 2008 unter einen Art Königsmordtrauma. Seither richtet sich jede Kritik an SPD-Vorsitzenden schnell gegen die Kritiker selbst. Das weiß Scholz. Andererseits ist er sich sicher, dass er – und nur er – der Richtige ist, um die Sozialdemokratie aus der Krise zu führen. Darum wird er in den kommenden Wochen parteiintern viel und ausführlich über sein Rettungskonzept sprechen. Ich bin bereit – das ist die Botschaft. Scholz will gerufen werden.

Kurz gefasst sieht sein Plan so aus: Die SPD hat eine große Zukunft vor sich, wenn sie sich darauf konzentriert, die Probleme jener Menschen zu lösen, die sich anstrengen in ihrem Beruf und in ihrem Leben. Hamburg dient ihm dabei als Referenz.

„Ich fürchte, er wird es nicht machen“

Er hat dort einen chaotischen Landesverband übernommen und wieder an die Regierung gebracht. Von seinen Wahlergebnissen weit über 40 Prozent können andere Genossen nur träumen. Er hat dazu beigetragen, dass die Wirtschaft in der Hansestadt boomt, und dafür gesorgt, dass Tausende neue Wohnungen gebaut wurden. Dass alle Flüchtlinge untergebracht werden konnten, ohne dass eine einzige Turnhalle belegt werden musste. Und dass die Elbphilharmonie trotz Planungs- und Finanzierungschaos in diesem Jahr doch noch Eröffnung feiern konnte.

Ob das genügt, damit die SPD Olaf Scholz auch ruft? Nach der Niedersachsen-Wahl darf in der Partei wieder offen diskutiert werden, Rücksicht auf die Wahlkämpfer muss dann keiner mehr nehmen. Scholz’ Anhänger fürchten, dass er auch dann zu zurückhaltend agieren wird. „Ist Olaf der Typ dafür, zu springen?“, fragt ein Genosse, der ihn gut kennt. Und gibt gleich selbst die Antwort: „Das ist seine größte Schwäche.“ Einer, der sich im Willy-Brandt-Haus gut auskennt, sagt: „Ich fürchte, er wird es nicht machen.“

Vielleicht sollte Olaf Scholz nachschlagen bei sich selbst. Wie heißt es in seinem Buch „Hoffnungsland“? „Nichts ist vorherbestimmt, sondern wir sind in der Lage, in jedem Moment den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Dafür müssen wir aber den Mut aufbringen, zu handeln, statt uns von den Ereignissen treiben zu lassen.“ Es ist ein hoher Anspruch. Er wird sich daran messen lassen müssen.

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