Wahlkampf um den CDU-Vorsitz: Friedrich Merz: Die Rückkehr des Zeigefingers
Das Grundrecht auf Asyl wollte er kippen, dann dementiert Friedrich Merz alles. In der CDU rätseln sie: Kann man das eine Strategie nennen? Eine Reportage.
Herr Voss am Mikrofon in Messehalle 4 bangt sehr um seinen Helden. Das Waffenrecht in Amerika, sagt Herr Voss, sei ja aus einer Tradition entstanden, die sich überlebt habe. „Heute würde doch in Europa keiner mehr sagen, dass es was Gutes ist, wenn jeder mit einer Waffe herumläuft.“ So müsse man den deutschen Asylrechtsparagrafen auch diskutieren, ohne Denkverbote. „Ich fand das sehr, sehr erfrischend“, lobt er den hochgewachsenen Mann vorn auf dem Podium. „Ich würde mich jetzt freuen, wenn Sie in dieser Sache offen bleiben und nicht heute schon wieder zurückrudern.“ Da muss ihn Friedrich Merz aber etwas enttäuschen: „Für alle Interessierten noch einmal zum Mitschreiben: Ich bin für die Beibehaltung des Grundrechts auf Asyl! Punkt!“
Man wüsste wirklich gerne, welcher Teufel ihn geritten hat. Am Abend vorher, dem Mittwoch, hat Merz in einer anderen Halle gestanden; Seebach bei Eisenach, dritte CDU-Regionalkonferenz für die Landesverbände Hessen und Thüringen. Er begrüßt „Hessen und Sachsen“, was ihm nachsichtiges Gelächter einträgt – man kann bei dieser Kandidatentournee um den CDU-Vorsitz ja wirklich schon mal durcheinander kommen. Wobei, Jens Spahn macht sich immer vorher schlau, was in der Region aktuell ansteht, und Annegret Kramp-Karrenbauer war als Generalsekretärin auf „Zuhörtour“ fürs Grundsatzprogramm sowieso gerade erst überall und grüßt bekannte Gesichter im Publikum.
Der Beifall fällt stramm aus
Das Reizthema „Migration“ kommt in Seebach erst am Ende der zwei Fragestunden dran. Und erst gegen Ende seiner Antworten rückt Merz mit etwas heraus, was ihn, sagt er, schon lange umtreibt: „Deutschland ist das einzige Land der Welt, das ein Individualgrundrecht auf Asyl in der Verfassung hat.“ Darüber müsse man offen reden, „ob es in dieser Form fortbestehen kann“, wenn man ein europäisches Einwanderungs- und Flüchtlingsrecht wolle. „Das ist nicht zu schaffen“, doziert Merz, „denn dann bleibt immer noch für jeden, der nach Deutschland kommen will, jenseits aller europäischen Lösungen das Individualgrundrecht auf Asyl in Deutschland.“
Der Beifall fällt stramm aus. Leider stimmt von diesen ganzen Sätzen nur ein einziger. In der Sache sind die Ausführungen des Juristen Merz schlicht falsch. Sie werden nicht richtiger dadurch, dass er anderntags in der Messe in Halle an der Saale nachschiebt, er wolle doch nur einen Gesetzesvorbehalt. Ohne die ganze Fachdebatte zu wiederholen, nur so viel: Seit der Asylreform von 1993 gilt Artikel 16a nur noch unter Vorbehalt und nur für eine verschwindend kleine Zahl von Flüchtlingen, die per Flugzeug, im U-Boot oder eventuell aus dem All deutschen Boden erreichen. Alle anderen sind deshalb hier, weil Europa- und Völkerrecht es so vorschreiben.
Nur ein Satz also stimmte: dass ihn das Thema lange umtreibt. Er hat schon am Asylrecht gerüttelt, bevor er sich das erste Mal aus der Politik verabschiedete. Ganz geheuer scheint es ihm selbst nicht zu sein, das alte Fass wieder aufzumachen. „Wahlkampfzeiten sind für eine solche Debatte wahrscheinlich ungeeignet“, schob Merz in Seebach ein.
Spahn lobt den Artikel 16a als "große Errungenschaft"
Nur darf man sie als Wahlkämpfer dann eben nicht eröffnen. Die Empörungswelle rollt los. Sie wird nicht nur von den üblichen Verdächtigen getragen, auch in der CDU gehen viele auf Abstand. Kramp-Karrenbauer zitiert Helmut Kohl: Ein „Kahlschlag des Asylrechts“ sei niemals Politik der CDU. Spahn lobt den Artikel 16a als „große Errungenschaft“, die es nur in der Praxis gegen Missbrauch zu verteidigen gelte. Am Donnerstag rudert Merz zurück. Er braucht dafür vier Tweets hintereinander auf seinem nagelneuen Twitter-Account. Inzwischen sind sie fest oben in seiner Nachrichtenschlange angeheftet, damit sie jeder gleich lesen kann.
Seither rätseln alle, was ihn getrieben hat. Anhänger versuchen eine Strategie zu erkennen, den Versuch, sich vom forschen Spahn in der Flüchtlingsfrage nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Aber eine Strategie, die keine 24 Stunden hält, ist keine.
Wahrscheinlich ist die Erklärung simpler. Er hat sich wohlgefühlt unter den gut 800 Parteifreunden, auch zunehmend sicher in der Rolle des Auswanderers, der jetzt doch zurück in die Heimat will. Beim ersten gemeinsamen Auftritt der Drei hat er die Konkurrenten ja noch nach Vorstandsvorsitzendenmanier mit „liebe Mitbewerberin, lieber Mitbewerber“ angeredet; inzwischen duzt man sich auf dem Podium. Alles lief gut. Und da ist ihm dann eben der alte Besserwisser-Zeigefinger hochgeschnellt.
Das muss man jetzt für die unter 40-Jährigen kurz erklären. Merz, als er noch Fraktionsvorsitzender war, hat seinen Reden oft mit dem erhobenen Zeigefinger Nachdruck verliehen. Der ist so lang wie der ganze Kerl, was der Geste erst recht etwas unangenehm Oberlehrerhaftes verlieh. Dann hat aber einmal ein Journalist im Bundestag aus Spaß bei einer Rede mitgezählt und die Merzsche Zeigefinger-Statistik veröffentlicht. Seit dem Tag und bis heute bleibt das vorwitzige Organ eingeklemmt. Der Friedrich Merz ist nämlich, anders als sein Ruf vermuten lässt, gar kein hartgesottener Kerl.
Dieser Ruf ist sein wichtigstes Argument in eigener Sache und sein Fluch zugleich. Der Ruf gründet sich auf eine recht kurze Zeit, in der der Finanzpolitiker mit der phänomenalen Redebegabung und dem „Bierdeckel“-Steuerreformplan raketenartig zum Fraktionschef aufstieg. Seit ihm Merkel 2002 das Spitzenamt abnahm, kam der Märtyrer-Status dazu. Alle Merkel-Gegner – die damals eher noch zahlreicher waren als heutzutage – klopften ihm tröstend auf die Schulter, was ihn nur in dem Gefühl bestärkte, er sei Opfer einer Hinterlist geworden und nicht einfach nur Opfer eines logischen politischen Schachzugs.
"Er ist der James Dean der deutschen Politik", spottet einer
Je länger er weg war, desto donnernder wurde sein Ruf. Der Wirtschaftsrat, als Hort der Marktideologen selbst etlichen CDU-Wirtschaftsleuten suspekt, schmückte sich zeitweise mit dem Mottospruch: „Wir sind radikaler als der radikalste Merz!“ Unter Konservativen trauerten sie dem Erfinder der „Leitkultur“ nach. „Er ist der James Dean der deutschen Politik“, spottete ein altgedienter CDU-Mann, als Merz gleich nach Merkels Rückzug den Hut in den Ring warf. „Zu jung gestorben, um treue Fans enttäuschen zu können.“
Aber die treuen Fans reichen nicht, um beim Hamburger Parteitag am 7. Dezember die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen zu bekommen. Die CDU ist bei aller gelegentlichen Erregung im Kern eine harmoniebedürftige Partei. Sie leidet unter der Spaltung, die sie seit der Flüchtlingskrise durchzieht. Es ist ja kein Zufall, dass im jüngsten Politbarometer selbst unter Unionsanhängern die freundliche Frau AKK die Nase vorn hat.
Merz ist das offenkundig klar. Seinen Beratern auch. Es handelt sich dabei übrigens eher nicht um Wolfgang Schäuble oder die Mitglieder des „Andenpakts“ – die Geschichte vom rachsüchtigen Altmännerclub der Merkel-Gegner, die Merz’ Kandidatur eingefädelt haben sollen, zählt weitgehend unter die Märchen. Die aktuellen Ratgeber sieht man nur zufällig. Nach der ersten Regionalkonferenz in Lübeck stiefelte Merz mit langen Schritten durchs halbleere Foyer, hastig umschwirrt von sechs Herren in dunklen Anzügen – von der Firma Gauly Advisors, einer professionellen Agentur für Strategieberatung.
Seine Strategie funktionierte gut
Bis zu diesem womöglich schicksalhaften Mittwoch im Thüringer Wald ließ sich die Strategie des Kandidaten auf eine relativ einfache Formel bringen: Friedrich Merz erklärte, dass er gar nicht der Friedrich Merz sei. Der Bierdeckel tauchte als Bilder-Gag in seinem ersten Tweet auf, spielt aber ansonsten keine Rolle mehr – das Konzept sei so nicht mehr aktuell.
Kritik in der Sache an den umstrittenen Entscheidungen der Ära Merkel? Fehlanzeige. Wehrpflicht? Zu wenig diskutiert, aber richtig. Der Tag im Herbst 2015, als Angela Merkel den Flüchtlingskarawanen aus Ungarn die Aufnahme zusagte? Eine „großartige humanitäre Geste“, die allerdings die Ausnahme hätte bleiben müssen. Also die Grenzen schließen? Das sagt er so klar dann auch nicht. Als er sich bei „Anne Will“ von der Grünen Annalena Baerbock belehren lassen musste, dass Merkel keine Grenzen „geöffnet“ hat, weil die im Schengen-Europa offen standen, trat er den Rückzug an – man müsse nach vorn schauen.
Die Strategie funktionierte sehr gut. Selbst Leute, die der CDU nicht nahe stehen, fanden den verbindlichen Mann mit dem kaum vom Leben gezeichneten Jungsgesicht überraschend nett, zumal er so gar keine Verbissenheit ausstrahlte und verständnisvoll über junge Leute sprach, die sich nicht mit Kükenschreddern abfinden wollen. Es funktionierte auch, weil so viel Strategie gar nicht darin steckt. Der wirkliche Merz war immer anders, als seine Jünger glauben wollen – weicher, weltoffener, zugleich sauerländisch-sturer.
Der ganz alte Merz ist zurück
Aber seit diesem Mittwochabend in Seebach ist ein ganz alter Merz wieder da. Der Mann, der auch deshalb so klar und geradeheraus reden kann, weil er an sich selbst und seiner Sicht auf die Dinge selten zweifelt. Der Mann, der Kontroversen entzündete, so hitzig, dass es zuletzt egal war, dass mit der „Leitkultur“ im Grunde bloß das Weltbild des Kleinstadt-Bürgers aus dem katholischen Westfalen gemeint war und kein reaktionäres Rollback. Kurz: der Friedrich, der eben doch Merz ist.
Er spürt die Gefahr. Ganz zurückziehen geht nicht, dann enttäuscht er mindestens den Herrn Voss. Aber als Polarisierer zu gelten oder als sprichwörtliche „loose cannon“ – die Kanone, die sich losgerissen hat und das eigene Schiff verwüstet –, das wäre erst recht fatal. In Halle nimmt ihn Kramp-Karrenbauer in Schutz: Keiner in der CDU wolle den Kahlschlag des Asylrechts, auch keiner der drei auf der Bühne. „Vielen Dank, das ist wirklich ein guter Umgang“, sagt Merz. Er klingt erleichtert. Nur steckt in der Art, wie ihn die Frau von der Saar in den Familienkreis zurückholt, eine kleine Doppelbotschaft: Sie ist mannschaftstreu und selbstbewusst genug für eine großmütige Geste. Und er hat sie nötig.