Halbfinale gegen Deutschland: Équipe, mon amour - Les Bleus einen Frankreich
Streiks, Terror und der Front National haben die Gesellschaft in Frankreich zerrissen. Nun eint sie doch wieder die Liebe zum Fußball. Und die Vorfreude auf das Spiel der Spiele - Gastgeber gegen Weltmeister.
Didier Deschamps hat auch mal Fußball gespielt, ist gar nicht so lange her. Er war zuständig für die Abwehr und die Einleitung von Attacken, man sieht es ihm heute noch an. Im scharf geschnittenen Gesicht, in den angriffslustigen Augen. Deschamps wittert Überfälle, und er ist bereit, jederzeit zum Gegenangriff überzugehen.
Sonntagabend in Paris. Frankreich hat 5:2 gegen Island gewonnen und das Halbfinale der Europameisterschaft erreicht. Deschamps schwitzt im Scheinwerferlicht der Kameras. Das weiße Oberhemd ist weit geöffnet und er pariert die Fragen der französischen Reporter, wie seine Spieler vorher den Grätschen der Isländer ausgewichen sind. Ist die französische Mannschaft jetzt endlich angekommen bei der EM und, noch wichtiger, in Frankreich? Blöde Frage. „Unsere Leute lieben diese Mannschaft!“ Und was bringt diese EM der Nation? Deschamps rollt mit den Augen. „Wir sind glücklich, dass wir unserem Land in dieser schwierigen Zeit ein bisschen Frieden und Freude geben können“, und das sei doch schon einiges, oder?
Französischer Nationaltrainer - das war mal ein Traumjob
Der Fußballtrainer Deschamps betreut seit vier Jahren die französische Nationalmannschaft. Er hat den Posten von Laurent Blanc übernommen, der die hochbegabten, zuweilen aber auch schwierigen Spieler nicht in den Griff bekommen hatte. Bei Deschamps tanzt keiner aus der Reihe. Und wenn doch, dann landet er auf der Ersatzbank oder fliegt ganz raus wie der Stürmer Karim Benzema, der in die Erpressung eines Mannschaftskollegen verwickelt war. Das hatte auch für Deschamps unangenehme Folgen. Da Benzema algerische Wurzeln hat, wurde dem Trainer die Affäre als rassistischer Akt ausgelegt. Kurz vor der EM schmierten Unbekannte „Raciste“ an seine Haustür.
Französischer Nationaltrainer, das war einmal ein Traumjob. Aber in Zeiten wie diesen, da Fußball nicht mehr nur Fußball ist, sondern die Fortsetzung von Politik mit den Füßen, ist der kleine Asket aus dem Baskenland so etwas wie ein Staatspräsident. Und er hat den Auftrag, die Nation in eine bessere Zukunft zu führen. Frankreich ist zerrissen von Streiks und Demonstrationen. Nacht für Nacht protestiert die Jugend auf dem Place de la République im Pariser Zentrum für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. In den Straßen patrouillieren Militärs. Die Pariser nehmen die Männer in ihren Tarnanzügen kaum noch wahr. Aber sie sind doch allgegenwärtig und deuten darauf hin, dass es um mehr als Fußball geht.
Während der EM hat sich Deschamps mit seiner Mannschaft in Clairefontaine verschanzt. Im nationalen Fußballzentrum, es liegt 50 Kilometer südwestlich von Paris mitten im Wald. Der Weg dorthin führt über eine zweispurige Straße, am Rand warnen Verkehrsschilder vor kreuzenden Rehen. Es duftet nach Land. Clairefontaine ist ein kleines Paradies mit neun Fußballplätzen und einem Schloss. Der Selectionneur, wie die Franzosen ihren Nationaltrainer nennen, lässt sich trotz der Abgeschiedenheit nur selten in der Öffentlichkeit blicken. Deschamps gibt sich scheu wie die Rehe im Wald. Er redet nur bei offiziellen Terminen und nach den EM-Spielen mit den Journalisten. Ansonsten spricht seine Mannschaft für ihn. Auf dem Platz.
Didier Deschamps und Joachim Löw - wie einst Charles de Gaulle und Konrad Adenauer
An diesem Donnerstag spielt Frankreich im Halbfinale gegen Deutschland. Die einstigen Erbfeinde stehen heute für das Kerneuropa, beide Länder haben nach dem Brexit eine besondere Verantwortung. Frankreich und Deutschland stehen für das alte Europa und eine Idee, die nicht mehr überall geteilt wird. Aber ebenso für eine Solidarität, wie sie nirgendwo sonst so plakativ ausgelebt worden ist.
Auch im Fußball. Das Freundschaftsspiel im vergangenen November hat das gezeigt. Als in Paris der Terror über den Fußball und die Lebensfreude kam, mit Bomben und Maschinenpistolen am Stade de France und im Bataclan.
Ein Foto mit Didier Deschamps und Joachim Löw ist in jenem November um die Welt gegangen. Deschamps klammert sich an seinen deutschen Kollegen, er legt den Kopf an die Brust von Joachim Löw. Beide Trainer waren schon in der Halbzeitpause des Spiels informiert worden, „aber wir waren so auf das Spiel fokussiert, dass wir es gar nicht realisiert haben“, hat Deschamps später erzählt. Die Wucht des Unfassbaren traf ihn so hart, dass er Löws Beistand brauchte. Wie sich die beiden da umarmten, wirkten sie wie eine generationenübergreifende Variante von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Wie eine späte Demonstration der deutsch-französischen Freundschaft, nur ohne alle protokollarischen Zwänge.
Am Donnerstag treffen sie nun wieder aufeinander, im Halbfinale von Marseille. Es ist das Spiel aller Spiele, der Gastgeber gegen den Weltmeister. „Deutschland ist Deutschland, die beste Mannschaft der Welt“, sagt Didier Deschamps, er war selbst Kapitän der Weltmeistermannschaft von 1998. Damals hat der Fußball geholfen, das Land zu einen. Frankreichs Mannschaft war eine bunt durcheinandergewürfelte Mannschaft von Ur-Franzosen und Einwandererkindern, von Spielern wie dem Basken Deschamps und Zinedine Zidane, dem Sohn algerischer Eltern aus der berüchtigten Nordstadt von Marseille. Nach dem Triumph von 1998 war Frankreich einen Sommer lang ein anderes Land. Ein Land, das seine Diversität feierte und sich glücklich damit schätzte.
Wenn Bomben explodieren, sind Tore nicht so wichtig
Es ist dann wieder viel kaputtgegangen in jenen Tagen der WM 2010 in Südafrika, als die Franzosen sich vor den Augen der Welt blamiert fühlten von einer Mannschaft, die gegen ihren Trainer streikte und sich in der Diktion von Gangster-Rappern der Öffentlichkeit mitteilte. Frankreich hat den Fußball damals verstoßen.
Durch das Frankreich von 2016 geht ein tiefer Riss. Attackiert von religiösen Terroristen des „Islamischen Staats“, unter Druck durch den Front National am rechten Rand. Wenn Bomben die Existenz bedrohen, sind Tore nicht mehr so wichtig. Paris hat auf diese Europameisterschaft nicht gewartet. Das Land tat sich schwer mit der Rehabilitierung seiner Elf, die EM war den Franzosen lange Zeit ziemlich egal. Frankreichs Multikulti-Auswahl spielt für eine tolerante Nation, aber sie spielt auch gegen einen Hang zur Gleichgültigkeit. Am vergangenen Sonntag hat das Land die Versöhnung mit seiner Nationalmannschaft gefeiert. Dass Frankreich sich spät, aber immerhin ein bisschen in das Turnier verliebt hat, bezeichnen selbst die Franzosen als eine kleine Sensation.
Die Stimmungswende hatte im Achtelfinale begonnen, als Frankreich gegen Irland spielte. Die Iren, eine nicht eben mit übermäßig viel Talent gesegnete Truppe, lagen zur Halbzeit 1:0 in Führung. Schwer traumatisiert trotteten die Franzosen in die Kabine, von den Tribünen gab es Pfiffe. Ironischerweise waren es die irischen Fans, die Frankreich daran erinnerten, welchen Spaß man beim Fußball haben kann. Sie adaptierten sogar die Stadionhymne ihrer Kombattanten aus dem nördlichen Teil der grünen Insel, das sensationelle „Will Grigg’s on fire“, in feinster Selbstironie gedichtet für einen nordirischen Stürmer, der immer nur auf der Ersatzbank saß.
Diese Strophe schallte durch das Vergnügungsviertel Pigalle, wo sich die Fans versammelten, die keine Tickets für das Spiel gegen Frankreich bekommen hatten. Und das waren einige Tausend, die ausgestattet mit grünen Hemden und reichlich Bierkästen, das Achtelfinale verfolgten. Zu Beginn der zweiten Halbzeit kam es dann zu einem Moment, der den Charakter des Turniers grundlegend verändern sollte. Frankreichs Stürmer Antoine Griezmann schoss in drei Minuten zwei Tore, worauf die wenigen französischen Fans schüchtern die Marseillaise anstimmten. Die Iren sammelten sich kurz, dann sang einer von ihnen: „Griezmann’s on fire!“, und alle grölten mit. Es wurde eine großartige Party, gelebte Völkerverständigung an der Basis. Die Europameisterschaft nahm Fahrt auf.
Eine Woche nach diesem Urknall machten die Franzosen, was gute Gastgeber eigentlich nicht machen. Sie schickten die nächsten lustigen Partygäste vorzeitig nach Hause – die Isländer, die mit ihrem nordischen Partisanenstil dem Turnier einen ganz eigenen Glanz beschert und im Achtelfinale die Engländer besiegt hatten. Ganz Europa hat Island dafür gefeiert, allen voran die Franzosen. Aber als es zum Duell kam, standen sie hinter ihrer Elf, begeisterten sich an dem mit ungeahnter Leichtigkeit und Leidenschaft herausgespielten Sieg.
Nun wird dort gespielt, woher die französische Nationalhymne stammt: in Marseille
Nach dem Abpfiff hüllten sich die Spieler in blau-weiß-rote Fahnen und drehten eine Ehrenrunde. Sogar Didier Deschamps rang sich ein Lächeln ab. Es waren Szenen wie zuletzt 1998, nach dem Sieg im WM-Finale gegen Brasilien. Das Publikum sang die Marseillaise so laut und überzeugt, wie es der Rest der Welt aus Casablanca mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman kennt. Frankreich und der Fußball hatten sich wieder gern.
Es ist eine hübsche Pointe, dass die Steigerung nun in der Stadt erklingen soll, der die französische Nationalhymne ihren Namen verdankt. In Marseille, der rebellischen Metropole des Südens, wo die Franzosen im Halbfinale auf die Deutschen treffen. „Wir können die Geschichte nicht verändern“, sagt Deschamps. „Aber es gibt neue Kapitel, die auf leere Seiten geschrieben werden können.“ Natürlich haben sie alle Respekt vor den Deutschen, „sie sind der Weltmeister“, sagt Paul Pogba. „Aber wir sind hier zu Hause. Wir wollen gewinnen!“
Der Mittelfeldspieler Pogba spricht mit genau der Angriffslust, wie sie in der Marseillaise zum Ausdruck kommt. Das Lied erhielt seinen Namen, weil es während der französischen Revolution im späten 18. Jahrhundert von Soldaten aus Marseille beim Einzug in Paris gesungen wurde. Ein Vierteljahrtausend später wollen sie wieder Paris einnehmen, beim Finale am kommenden Sonntag. Aber davor steht Deutschland, der Angstgegner, den die Franzosen erst ein einziges Mal bei einem großen Turnier besiegt haben, aber das liegt 58 Jahre zurück. „Jetzt geht es auf den Mount Everest“, titelte die Sportzeitung „L’Équipe“.
Schönes, französisches Spielen half wenig gegen die Deutschen
In der Vergangenheit stand Frankreich stets für die Schönheit des Spiels, aber die B-Note für den künstlerischen Ausdruck half wenig, wenn es gegen die Deutschen ging. Bei den Weltmeisterschaften 1982 und 1986 zeigten die Franzosen den schönsten Fußball ihrer Geschichte und scheiterten doch beide Male im Halbfinale an den Deutschen. Danach kam die Generation um das Genie Zinedine Zidane und den Einpeitscher Didier Deschamps, die 1998 Weltmeister und 2000 Europameister wurden – vielleicht auch, weil sie in beiden Turnieren nie gegen die Deutschen spielten.
Die tradierten Muster stimmen längst nicht mehr. Die Franzosen sind keine allein kickenden Schöngeister, und die Deutschen keine Panzer mehr. Aber Letztere gewinnen immer noch. Vor zwei Jahren in Rio waren die Franzosen im Achtelfinale keinesfalls die schlechtere Mannschaft, verloren aber 0:1. „Dafür wollen wir jetzt Revanche“, sagt Paul Pogba. Und welche Stadt wäre wohl geeigneter dafür als Marseille, wo der Fußball so intensiv gelebt wird wie nirgendwo sonst in Frankreich?
Der Fußball und Marseille führen eine über Jahrzehnte gewachsene Beziehung. Zinedine Zidane ist hier aufgewachsen, Didier Deschamps hat als Trainer beim lokalen Klub Olympique gearbeitet, bevor er die Nationalmannschaft übernahm. Das Stade de Vélodrome mitten in der Stadt ist das aufregendste in ganz Frankreich, gezeichnet mit einer atemberaubenden Dachkonstruktion. Nirgendwo sonst geht das Publikum so laut und leidenschaftlich mit. „Wir werden die Unterstützung der Zuschauer brauchen, denn es wird schwierige Momente geben“, sagt Didier Deschamps und ist wohl ganz froh, dass er das Halbfinale in der alten Heimat spielen darf. „Das ist ein spezieller Ort. Marseille zeichnet jeden, der einmal hier war, und zwar für immer. Marseille lässt dich nie mehr los.“
Die Deutschen sollen es heute zu spüren bekommen.