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Gefahrenabwehr. Frankreichs Evra und Umtiti.
© AFP/Lopez

Halbfinale gegen Deutschland: Frankreichs "Defense" wackelt

So schön die Franzosen stürmen, ihre Schwächen liegen in der Abwehr. Eine Viererkette aus Stammkräften fehlt verletzt. Nun treffen sie zum ersten Mal auf einen Gegner, der sie auch wirklich attackiert.

Alors, wie war das noch mal mit den Deutschen, Monsieur Evra? Patrice Evra denkt nicht gern zurück an das letzte Rencontre mit den lieben Nachbarn, es liegt gerade ein Vierteljahr zurück. Im Achtelfinale der Champions League trat der französische Nationalspieler mit Juventus Turin zum Rückspiel beim FC Bayern München an. Es lief schon die Nachspielzeit, Juventus führte 2:1 und war nur noch einen Befreiungsschlag vom Weiterkommen entfernt. Evra aber wollte die Situation lieber spielerisch lösen, als ihm der Ball nach einem missratenen Münchner Angriff vor die Füße fiel.

Sein Dribbling endete bei Arturo Vidal, und ein paar Sekunden später traf Thomas Müller zum Ausgleich. In der Verlängerung siegten die Bayern 4:2 und Patrice Evra hätte sich am liebsten ein Loch auf dem Münchner Rasen gegraben.

Mit Frankreich sind die Franzosen bei dieser EM noch nicht so glücklich

Am Donnerstag hat er es wieder mit Thomas Müller zu tun, dieses Mal mit der Nationalmannschaft im Halbfinale der Europameisterschaft. Evra ist 35 Jahre alt, aber für Trainer Didier Deschamps immer noch unverzichtbar, und das sagt einiges über Frankreich. Über das andere Frankreich, mit dem die Franzosen bei dieser Europameisterschaft noch nicht so glücklich sind. Sie stürmen so schön und wuchtig und erfolgreich wie seit Jahren nicht, sind aber nur bedingt abwehrbereit.

Der listige Deschamps betont lieber das Positive: „Um ein Turnier zu gewinnen, ist die Defensive wichtig, aber noch wichtiger ist es, ein Tor mehr zu erzielen als der Gegner.“ Das hat bei der EM bisher noch fast immer geklappt, was allerdings allein der großartigen Offensive zuzuschreiben war. Die französische Viererkette bietet zuweilen nicht viel Schutz. Man würde sich die Verteidger Bacary Sagna, Laurent Koscielny, Adil Rami und eben Patrice Evra schon mal ganz gern im Training gegen die angreifenden Kollegen Antoine Griezmann, Dimitri Payet und Olivier Giroud anschauen.

Frankreichs Defensive? Anfällig.

Frankreichs Defensive ist anfällig bei Flanken und Standards, auf diese Weise fielen beide Gegentore beim 5:2 im Viertelfinale gegen Island. Durch ihr riskantes Offensivspiel lassen die Franzosen allzu oft Konterchancen zu, bei denen besonders der linke Außenverteidiger Evra seine liebe Mühe hat. Dabei ging es noch kein einziges Mal gegen gehobene Konkurrenz. Wenn nun schon Rumänen, Albaner, Schweizer, Iren und Isländer den blau-weiß-roten Abwehrverbund in Verlegenheit bringen – was soll dann erst gegen den Weltmeister passieren?

Französische Zeitungen hatten schon vor dem Turnier „La France sans Defense“ ausgemacht, ein Frankreich ohne Verteidigung. Das war weniger ein Vorwurf an Trainer Deschamps denn ein Verweis auf das Verletzungspech. Pünktlich zur EM fielen gleich vier Innenverteidiger aus, namentlich Raphael Varane (Real Madrid), Jeremy Mathieu (FC Barcelona), Kurt Zouma (FC Chelsea) und Aymeric Laporte (Athletic Bilbao). Mamadou Sakho (FC Liverpool) fehlt dazu wegen einer Dopingsperre.

Für Umitit war es das erste Länderspiel überhaupt

Der unversehens zum Stammspieler beförderte Adil Rami (FC Sevilla) war erst als Nachrücker in den EM-Kader aufgenommen, wie auch Samuel Umtiti, der zur neuen Saison von Olympique Lyon zum FC Barcelona wechselt und den gesperrten Rami im Viertelfinale gegen Island vertreten durfte. Für Umitit war es das erste Länderspiel überhaupt und so richtig zufrieden konnte er mit seinem Debüt nicht sein. Er fing sich eine Gelbe Karte ein, stand beim ersten Gegentor ehrfürchtig Spalier und verfiel auch ansonsten einige Male in Disharmonie mit seinen Kollegen.

Deschamps sagt über Umtiti, was ein fürsorglicher Trainer halt so sagt: vielversprechender Spieler, gut ausgebildet, steht vor einer großen Zukunft. Der Donnerstag wird zeigen, was er wirklich von dem 22-Jährigen hält. Wahrscheinlicher ist, dass Rami in die Viererkette zurückkehrt, aber auch seine Leistungen waren bisher keine Offenbarung. Zudem steht Didier Deschamps vor der Frage, ob er den gegen Island gesperrten N’Golo Kanté ins defensive Mittelfeld zurückholt oder Moussa Sissoko in der Startelf belässt. Kanté, der überragende Antreiber vom englischen Sensationsmeister Leicester City, wäre die offensive Variante, aber Deschamps scheint sich eher defensiv mit Southamptons Sissoko zu orientieren. „Bisher hatten wir immer Gegner, die vor allem verteidigen wollten“, sagt der Trainer. Am Donnerstag wird das anders aussehen.

Die Franzosen haben die Niederlage in Rio nicht vergessen - jetzt gibt es Revanche

Aus dem Defensivverband, mit dem Frankreich vor zwei Jahren im Viertelfinale der WM von Brasilien gegen die Deutschen antrat, ist nur noch Evra übrig. Neben ihm verteidigten damals Mathieu Debuchy, Raphael Varane und Mamadou Sakho. Die Franzosen waren in der Gluthitze von Rio de Janeiro keineswegs die schlechtere Mannschaft, sie haben diese Niederlage nicht vergessen und freuen sich über die Möglichkeit zur Revanche. „Aber dafür müssen wir unsere Fehler in der Defensive abstellen“, sagt Oliver Giroud, was nur oberflächlich als Selbstkritik durchgeht, denn er ist als Stürmer auf der anderen Seite des Platzes zu Hause.

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