Frankreich im Streik: Fehlende Solidarität
Frankreichs Präsident François Hollande darf bei der Durchsetzung der Arbeitsmarktreformen nicht kneifen. Sonst fällt das Land zurück. Ein Kommentar.
Die beruhigende Nachricht ist: Frankreichs Equipe Tricolore, die Fußball-Nationalmannschaft, streikt nicht. Das Eröffnungsspiel der Europameisterschaft kann am 10. Juni in Paris stattfinden. Anderes bleibt ungewiss: ob die Fans aus ganz Europa mit dem Flieger kommen können oder Piloten und Fluglotsen im Ausstand sind; ob die Staatsbahnen SNCF eine Alternative wären oder die Lokführer die Arbeit niederlegen; ob die Tankstellen Sprit haben für Touristen, die im Auto kommen. Über allem jedoch steht die bange Hoffnung, dass das Land von neuen Terroranschlägen verschont bleiben möge.
Es ist eine Situation, in der sich vermutlich in den meisten europäischen Ländern die ganze Aufmerksamkeit und das Bestreben aller nur darauf richten würde, die Sicherheit zu garantieren, zusammenzurücken, um nicht wieder Opfer terroristischer Heimtücke zu werden. Aber in Frankreich wird gestreikt. Nationale Solidarität fehlt ausgerechnet in dem Land, dessen ausgeprägtes Nationalgefühl gerade die Deutschen so bewunderten, weil es ihnen selbst vor allem wegen der furchtbaren Brüche in ihrer Vergangenheit lange abging – eigentlich bis zu einem Fußballereignis, der WM 2006 im eigenen Land. Aber um Frankreich zu verstehen, hilft es nicht, die Reaktionen unserer Nachbarn im Westen an deutschem Verhalten unter ähnlichen Gegebenheiten zu analysieren. Es ist besser, genau hinzuschauen.
Das Land ist tief gespalten
Frankreich leidet unter einer tief sitzenden Konfrontationshaltung der Repräsentanten der gesellschaftlichen Schichten. Einen Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, einen Contrat social, ein gegenseitiges Versprechen zum allgemeinen Wohlergehen, gibt es nicht. Die Patrons sind nach wie vor in ihrer Mehrheit, weil auf besonderen Schulen und Universitäten ausgebildet, extrem elitär. Der Chef der Arbeitgeber, Pierre Gattaz, nennt die Streikenden Terroristen, Erpresser, Gauner. Die Gewerkschaftsführer haben sich in ihrer egalitären Attitüde eingenistet. Eine Variante etwa des deutschen Mitbestimmungsmodells, dessen befriedende Wirkung seit Langem erwiesen ist, lehnen beide Seiten ab. Die Unternehmer wollen ihre Macht nicht teilen, die Gewerkschafter sich nicht im übertragenen Sinne mit Managementaufgaben die Finger schmutzig machen. Die jetzt die Streiks anführende postkommunistische Gewerkschaft CGT war in ihren Bewertungen dabei schon immer hinter der Entwicklung des Landes um Jahrzehnte zurück. Als nach 1968, von der Studentenbewegung angetrieben, zehn Millionen Menschen auf den Straßen waren, ging die CGT zu dieser Volksbewegung auf Distanz: Sie hielt die Studenten und ihre Ziele für bourgeois.
François Hollande darf bei der Durchsetzung der Arbeitsmarktreformen nicht kneifen, wenn er nicht endgültig als Schwächling in die Geschichtsbücher eingehen will. Was mit ihnen erreicht werden soll, ist nicht mehr als europäischer Standard. Umfragen zeigen, dass dies den Franzosen sehr wohl bewusst ist. Dass sie die Reformen zwar mental ablehnen, aber intellektuell für richtig halten. Louis Gallois, der langjährige Chef des Luftfahrt- und Rüstungskonzerns EADS, hat seinen Landsleuten in der Wirtschaft schon vor Jahren die Leviten gelesen. Frankreich bräuchte mehr seines Kalibers. Sonst wird das Land unter Wert geschlagen. Seine Kicker wissen doch auch, dass man nur als Team Erfolg haben kann.