„Ist halt asozial“: Ein Streifzug durchs Berliner Nachtleben nach der Sperrstunde
Das erste Wochenende nach der Sperrstunde: Manche Kneipiers bemühen sich um größtmögliche Sicherheit. Anderswo wird gedrängelt und getanzt.
Wer einen Überblick bekommen möchte, wie viele Corona-Sicherheitsregeln sich aktuell gleichzeitig brechen lassen, dem empfiehlt sich ein Besuch der „Paris Bar“ in der Charlottenburger Kantstraße. Freitagabend tragen Kellner dort ihre Masken auf Kinnhöhe, bedecken weder Nase noch Mund. Der Barkeeper hält es genauso.
Auf dem Bürgersteig sind die Tische teilweise so eng aneinandergereiht, dass Gäste Rücken an Rücken sitzen, die Mindestabstände werden systematisch unterschritten. Die Regel, dass Gäste Masken aufziehen müssen, wenn sie etwa auf die Toilette wollen, wird ebenfalls ignoriert.
Dafür stehen sie dicht gedrängt auf dem Bürgersteig beieinander. Der Kellner füllt sogar den dort Stehenden ihre Gläser auf. Für all das sieht der Berliner Senat empfindliche Strafen vor. Doch der Betreiber der Paris Bar braucht nichts zu fürchten, solange keiner kontrolliert.
Bettina alias Betty, etwa Mitte 30, nach eigenen Angaben „fast schon Stammgast“ des Ladens, sagt, sie habe Verständnis für die versammelten Regelbrüche. Angesichts der Härten der vergangenen Monate, der ganzen Schwere, gebe es Nachholbedarf an Ausgelassenheit, beziehungsweise: „Heute wollen wir feiern.“ Außerdem fühle sie sich sicher, sagt Betty. Sie vertraue in dieser Frage ihrer Intuition. Damit sei sie bisher gut durch die Krise gekommen.
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Es ist das erste Wochenende nach Wegfall der Sperrstunde. Restaurants, Kneipen und Bars dürfen wieder selbst bestimmen, ob und wann sie über Nacht schließen. Der Senat hat es so entschieden, notgedrungen, weil das Oberverwaltungsgericht andernfalls der Klage eines Gastronomen stattgegeben hätte.
Es ist auch ein Wochenende, das durch eine alarmierende Zahl eingeleitet wird: 87 Neuinfektionen innerhalb eines Tages meldet die Gesundheitsverwaltung am Freitagabend, seit dem 23. April waren es nicht mehr so viele. Gleichzeitig stehen alle drei Kennzahlen der sogenannten Corona-Ampel weiter auf Grün, daran haben weder die wiedereröffneten Fitnessstudios noch Demonstrationen noch die vielen, auffällig oft männlichen Maskenverweigerer im Nahverkehr etwas geändert.
Geht es auch ohne Sperrstunde?
Die Sperrstunde sollte verhindern, dass Feiernde spätnachts, bei fortgeschrittener Angetrunkenheit, all ihre Disziplin und den Willen zum Abstandhalten vergessen. Prämisse dieser Überlegung war, dass diese Disziplin und dieser Wille zumindest im nüchternen Zustand weitverbreitet sind.
Ein Streifzug am späten Samstagabend. Viele Läden haben noch gar nicht wieder geöffnet. Wer insolvent gegangen ist und wer bloß auf bessere Zeiten wartet, ist selten auszumachen. Unter Berliner Gastronomen kursiert derzeit die Zahl 20. So viel Prozent der Kneipen hätten die Krise nicht überlebt. Oder besser: die Krise bis jetzt. Betroffen seien vor allem jene, die auf Touristen angewiesen seien.
Manche Läden haben Lebenszeichen in Form von Zetteln an ihrer Eingangstür hinterlassen. Das überaus beliebte „Möbel Olfe“ am Kottbusser Tor in Kreuzberg informiert darüber, man habe die Corona-Zeit für eine Runderneuerung genutzt, bereits den Boden ausgetauscht und „so einige Nikotinschichten von den Wänden geholt“. Ende Juni sei alles fertig, dann dürfe wieder gefeiert werden.
Auf einer Holzbank vor dem Lokal haben trotzdem drei junge Männer Platz genommen, genießen ihr mitgebrachtes Bier. Sie wirken wie jene Hardcore-Fans, die bei Konzerten ihrer Lieblingsband schon morgens am Halleneingang kauern, damit ihnen, wenn die Pforten dann öffnen, die besten Plätze sicher sind.
Eine Kneipe, die es ernst meint
Einen Kilometer südöstlich in der Weserstraße, vor Corona Neuköllns wichtigste Feiermeile. Die meisten Lokale sind wieder geöffnet. Und es wird deutlich, wie unterschiedlich Gastronomen die Sicherheitsregeln befolgen. Im „Silver Future“ etwa sind die Thekenhocker mit Stoffbahnen verdeckt, am Tresen darf laut Senatsbeschluss niemand sitzen.
Alle Mitarbeiterinnen tragen Masken. Gäste, die den Laden betreten, werden darauf hingewiesen, dass auch sie welche tragen müssen, jedenfalls so lange, bis sie ihren Platz eingenommen haben. Ein Schild erklärt, dass die Regeln nicht nur befolgt werden, weil Politiker es so wollen, sondern aus Überzeugung: „Wir solidarisieren uns mit den Menschen, für die Corona lebensgefährlich ist“, steht da.
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Eine Kneipe weiter links, im „Kaduka“, dürfen die Gäste an der Theke stehen, auch dicht gedrängt, die Wirte unterhalten sich angeregt mit ihnen, ohne Maskenschutz. Ist es spießig, sich darüber zu mokieren? Ist das Erbsenzählerei? Im Laden links daneben sind sie längst weiter: Dort wird nach Mitternacht ausgiebig im gesamten Raum getanzt. Auch die Menschen hinter der Theke machen mit.
„Ist halt asozial“, sagt Kenneth, der mit zwei Freunden vor dem nahe gelegenen Späti steht. Er hat die Tänzer im Vorbeigehen durch die Fensterscheiben gesehen und sich über das Alter der Feiernden gewundert. „Es sah nicht so aus, als wären die gerade 18 geworden.“ Die stünden sicher alle längst im Berufsleben, hätten vielleicht Kinder. Kenneth sagt: „Kann man sich da nicht ein bisschen zusammenreißen?“
Der Mann, der den Wegfall der Sperrstunde durchgesetzt hat, heißt Antonio Bragato. Sein Restaurant „Il Calice“ liegt am Charlottenburger Walter-Benjamin- Platz. Zur Begrüßung gibt er den Ellenbogen, die Tische stehen weit auseinander, die Kellner tragen Masken. Es sieht aus wie der exakte Gegenentwurf zur Paris Bar.
Die Sperrstunde habe seinem Restaurant massiv geschadet, sagt Bragato. Weil erstens viele seiner Gäste lange arbeiteten und daher spät kämen und diese zweitens für das Genießen der Weine, die er hier anbiete, Zeit bräuchten. Ein Viertel seines Umsatzes generiere er nach 23 Uhr. Auf die Idee, vor Gericht zu ziehen, hätten ihn Anwälte gebracht, die zu seinen Stammgästen zählen. Die hätten dann auch gleich die Klage formuliert.
Antonio Bragato ist kein Corona-Skeptiker, im Gegenteil: „Abgesehen von der Sperrstunde finde ich alle Sicherheitsregeln für Gastronomen sinnvoll.“ Deshalb hat er für seine Angestellten und die Gäste mehrere Spender mit Desinfektionsgel aufgestellt, Tische und Speisekarten werden regelmäßig desinfiziert, wem es lieber ist, kann die Speisekarte virtuell durchblättern, es gibt einen QR-Code fürs Smartphone.
Das Maskentragen strenge seine Mitarbeiter sehr an, sagt Bragato, gerade bei diesem Wetter, nach ein paar Stunden sei der Stoff regelrecht durchgesuppt. Deshalb habe jeder Kellner zwei Masken pro Schicht dabei.
Nicht alle Gastronomen begrüßen den Wegfall
Für seinen Gang vors Gericht und das Einlenken des Senats habe Antonio Bragato in den vergangenen Tagen viel Applaus von anderen Gastronomen bekommen. Einer habe ihm ein Rosmarinbäumchen vorbeigebracht, „das fand ich rührend“. Doch es gebe auch Kollegen, die ihm sagten, sie hätten die Sperrstundenregel gutgeheißen, weil sie so weniger arbeiten mussten.
Würde das Il Calice überleben, sollte es zu neuen Kontaktbeschränkungen, Restaurantschließungen kommen? Antonio Bragato zögert. Dann sagt er: „Ich würde jedenfalls nicht aufgeben“, sagt er. Aber ja, es wäre eine Katastrophe.
Noch schlimmer als Bars und Restaurants hat Corona die Clubszene getroffen. Berlins Tanzflächen bleiben weiterhin geschlossen, und wohl keiner in der Branche glaubt ernsthaft, dass sich dies in den kommenden Monaten ändert. Prominente Clubbetreiber sprechen bereits von nicht weniger als dem „Untergang der Nachtkultur“ oder einem „Identitätsverlust Berlins“, weil die Stadt, wenn die Clubs dauerhaft weg seien, ihre Coolness und Anziehungskraft verliere. Andere sagen: Natürlich werden die Clubs irgendwann, nach der Krise, wieder öffnen. Nur werden sie dann vielleicht neuen Leuten gehören. Einer neuen Generation von Partymachern, die von der Insolvenz ihrer Vorgänger profitieren und die Lokale schuldenfrei übernehmen.
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Sympathien hat die Szene mit der Schlauchbootdemonstration am Pfingstsonntag verspielt, die eigentlich auf die Nöte der Clubbetreiber, Veranstalter und DJs aufmerksam machen sollte und stattdessen in eine Massenparty betrunkener, dicht gedrängter Feiernder auf und am Ufer des Landwehrkanals ausartete – vor dem Kreuzberger Urban-Krankenhaus, in dem Patienten um ihr Leben kämpfen und Ruhe brauchen. Wenn eine Meute derart rücksichtslos nur auf das eigene Vergnügen fixiert ist, warum sollte sich jemand mit ihr solidarisch zeigen?
Clubs, die zu der Demo aufgerufen hatten, baten anschließend um Entschuldigung. Das „Kater Blau“ schrieb in einer Erklärung von „vollkommen unakzeptablen Szenen“ und Massenansammlungen, die eine eigentlich sinnvolle Idee ad absurdum geführt hätten. Die schonungsloseste Selbstkritik kam vom Kollektiv „Rebellion der Träumer“, das ebenfalls zur Teilnahme aufgerufen hatte. Vor allem die Wahl des Demo-Endpunkts in der Nähe eines Krankenhauses sei eine „Kopflosigkeit“, die dem Kollektiv unendlich leidtue: „Wir hätten die Musik ausmachen und sofort umdrehen müssen.“
Die Demo war ein schwerer Fehler, sie habe einen Scherbenhaufen hinterlassen, sagt Lutz Leichsenring von der Berliner Clubcommission, der Interessenvertretung der Clubszene. Am frühen Samstagabend sitzt er im Café „Tante Emma“ am Schlesischen Tor, draußen regnet es seit Stunden. In die Planung der desaströsen Schlauchbootparty war er nicht involviert, doch er sagt, durch viele Gespräche mit geknickten und erschrockenen Dabeigewesenen habe sich für ihn ein plausibles Bild ergeben, wie es derart eskalieren konnte.
Die Grundidee hatten zwei Barkeeper gehabt, sie schickten ein vernünftiges Konzept herum, mit Mindestabständen und allem. Kurz vor dem Ereignis hob der Senat dann die Teilnehmerbegrenzung für Demos auf, was ein Aktivist leider zum Anlass nahm, das Ganze auf Facebook als Veranstaltung zu bewerben, die jedem offenstehe.
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Leichsenring wirkt nicht wie einer, der das Interesse seiner Branche über jenes der Allgemeinheit stellt. „Unser Geschäft besteht nun mal darin, Menschen auf engem Raum zusammenzubringen, zum gemeinsamen Tanzen und Feiern, perfekt für die Übertragung des Virus.“ Selbstverständlich dürfe man die Clubs jetzt nicht öffnen. Daran werde sich wohl auch nichts ändern, bis ein Impfstoff da ist.
Wie viel wird dann noch übrig sein von Berlins Partyinfrastruktur?
„Die Gretchenfrage ist, ob wir es schaffen, die Räume zu halten“, sagt er. Dazu brauche es weitere finanzielle Unterstützung durch die Stadt. Lutz Leichsenring hofft, dass in diesem Sommer Draußen-Veranstaltungen mit DJs möglich sein werden, in kleinem Rahmen, 100 bis 200 Leute vielleicht, mit viel Abstand zueinander. Man sei diesbezüglich in Gesprächen mit dem Senat. „Das war es dann aber auch“, sagt Leichsenring. „Alles andere wäre, nach derzeitigem Stand der Wissenschaft, unverantwortlich.“