Krise des Berliner Senats: Die drei Fragezeichen von Rot-Rot-Grün
Die Senatorinnen Sandra Scheeres, Regine Günther und Katrin Lompscher enttäuschen immer wieder. Das Paradox: Die Schwäche des Trios stabilisiert die Koalition.
Sandra Scheeres strahlt, als sie am Montag in Mahlsdorf, am östlichen Rand Berlins, die neue Sekundarschule eröffnet. Den symbolischen Schlüssel in der Hand, lobt die sozialdemokratische Bildungssenatorin diese „Wahnsinnsarbeit“. Neben ihr die Kollegin Katrin Lompscher, im Senat zuständig für die Stadtentwicklung. Sie hat, frisch aus den Ferien zurück, ebenfalls gute Laune. Denn Rot-Rot-Grün kann auch schnell und schön bauen – ausnahmsweise.
Es sieht wirklich schick aus, was in Marzahn-Hellersdorf innerhalb eines Jahres aus dem märkischen Sand gestampft wurde. Die erste neue Oberschule im Bezirk, gebaut aus Fichtenholzmodulen mit bodentiefen Fenstern. Es ist das erste Projekt der milliardenschweren Schulbauoffensive, das endlich fertig wurde. Leider ist das nicht typisch für eine Koalition, die sich nach der Berliner Wahl im September 2016 viel vorgenommen hatte. Gute Bildung, bezahlbares Wohnen, sichere Radwege und ein attraktiver öffentlicher Nahverkehr – so oder ähnlich stand es in den Wahlprogrammen von SPD, Linken und Grünen. So lässt es sich auch in der Koalitionsvereinbarung von SPD, Linken und Grünen nachlesen.
Verbunden sind diese großen stadtpolitischen Projekte, die der rot-rot-grünen Koalition Glanz verleihen sollten, mit den Namen von Sandra Scheeres und Katrin Lompscher, aber auch mit Verkehrssenatorin Regine Günther. Bislang stehen die Namen der drei Frauen allerdings nicht für Erfolge der Berliner Politik, sondern für rot-rot-grünes Scheitern.
Daraus folgt – nichts. Kein Koalitionsbruch, kein Rauswurf. Erst recht keine vorgezogene Wahl zum Abgeordnetenhaus, um einen möglichen Neustart in die Hände der Wähler zu legen. Es klingt paradox, aber die Schwäche des Trios ist das stabilisierende Element dieses Senats.
Zähes Ringen um die Ressorts
Im Zuge der Regierungsbildung, in einem zähen Ringen um die Senatsressorts, waren die Aufgaben zu Beginn der Wahlperiode so verteilt worden, dass sich jeder Koalitionspartner gut hätte profilieren können. Die SPD behielt mit Sandra Scheeres das Bildungsressort. Die Linke wollte sich mit Lompscher ums Wohnen kümmern. Die Grünen, die schon in der Opposition den Fahrradvolksentscheid unterstützt hatten, übernahmen mit der Klimafachfrau Regine Günther das Verkehrsressort.
Die drei Senatorinnen sollten durchsetzen, wofür dieses Bündnis gewählt worden ist, wenn auch nur von einer knappen Mehrheit der Berliner. Bis zur Abgeordnetenhauswahl im Herbst 2021 will Rot-Rot-Grün den hehren Anspruch erfüllen, die Schule, den Wohnungsbau und den Stadtverkehr grundlegend zu reformieren. Wenn das mal klappt.
Denn nach zweieinhalb Jahren rot-rot-grüner Regierungszeit sind viele Bürger, die große Erwartungen an diese Koalition mit ihrer Stimme knüpften, schwer enttäuscht. Schöne Konzepte wurden beschlossen, viele Ideen zu Papier gebracht. Doch alle drei Politikerinnen, die die strategisch wichtigen Senatsressorts besetzen, haben es bisher nicht geschafft, die rot-rot-grüne Programmatik mit Leben zu erfüllen.
Gleich nach den Sommerferien der erste Fehlstart: „Das neue Schuljahr fängt ja gut an“, stöhnt einer von denen, die in der Chefetage der Bildungsverwaltung sitzen. Kaum waren die Urlaubskoffer ausgepackt und die Schultüten gefüllt, meldete sich der Berliner Elternausschuss mit einem Brandbrief zu Wort. Die sozialdemokratische Bildungssenatorin Sandra Scheeres habe „in Kernthemen die Glaubwürdigkeit verloren“, schrieben die organisierten Eltern. Notfalls solle der Regierende Bürgermeister Michael Müller ihre Aufgaben übernehmen.
Ein interner Bericht, von den Grünen lanciert
Der wird sich hüten. Mit stoischer Ruhe und nettem Lächeln hat Scheeres, gelernte Erzieherin aus Düsseldorf, in fast achtjähriger Amtszeit so viele Probleme angehäuft, dass derzeit wohl niemand zu finden wäre, der diesen Scherbenhaufen zusammenkehrt. Jetzt wird Scheeres auch noch von der eigenen Verwaltung bescheinigt, dass in den nächsten zwei Jahren bis zu 26.000 Schulplätze fehlen könnten. Der interne Bericht wurde sogleich von den Grünen lanciert. Die milliardenschwere Schulbauoffensive kommt nicht voran, so die Botschaft.
Aber auch die am Montag noch so gut gelaunte Lompscher ist schon wieder im politischen Alltag angekommen. Am Mittwoch befasste sich der Koalitionsausschuss von SPD, Linken und Grünen nicht nur mit den Schulproblemen, sondern auch mit dem Stadtentwicklungsplan „Wohnen“. Dem Regierungschef Müller geht das Bauen nicht schnell genug, er stoppte vor zwei Wochen Lompschers großen Plan, der koalitionsintern eigentlich Konsens ist. Aber er will eine zusätzliche Liste mit beschleunigten Neubauprojekten durchsetzen.
Eine "Kriegserklärung"
In der Linksfraktion des Abgeordnetenhauses liegen die Nerven seitdem blank. Deren Abgeordnete sprechen von einer „Kriegserklärung“ und rücken von ihrer Verteidigungshaltung zugunsten Lompschers keinen Deut ab.
Im Koalitionsausschuss einigte man sich nicht. Die Stimmung im Roten Rathaus war durchwachsen, Müller beharrte auf seiner Position. „Eine Schippe mehr beim Wohnungsbau“, das müsse schon sein. Man darf jetzt schon gespannt sein, ob und wie es SPD, Linken und Grünen gelingt, sich in dieser aufgeladenen Atmosphäre bis Mitte Oktober auf ein Landesgesetz für den „Mietendeckel“ zu einigen.
Die Verkehrssenatorin Regine Günther kann froh sein, dass sie wegen der Mega-Probleme, die ihre beiden Kolleginnen mit sich herumschleppen, kurzzeitig aus der Schusslinie geraten ist. Noch vor einer Woche musste sich die ehemalige Generaldirektorin des World Wildlife Funds dafür öffentlich rechtfertigen, dass das vor einem Jahr beschlossene Berliner Mobilitätsgesetz bisher kaum Wirkung zeigte. Neue Radwege, mehr Sicherheit für Fußgänger und ein attraktiverer Bus- und Bahnverkehr – von all dem ist bislang wenig zu sehen. Günther musste die Mängel in einer Antwort auf die parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Sven Kohlmeier zugeben. Der Mann ist SPD-Mitglied. Die Verkehrswende sei nun mal nicht „von heute auf morgen“ zu realisieren, verteidigte sich die Senatorin.
Günther macht geltend, was auch ihre Senatskolleginnen immer wieder erklären: fehlendes Personal in der Verwaltung, ineffektive Strukturen, schlecht aufgestellte und eigene politische Interessen verfolgende Bezirke. Alles dies erschwere seit vielen Jahren das Regieren ganz besonders. Die Berliner Misere hat Tradition – und verführt dazu, die eigene politische Verantwortung für akute Probleme umzuverteilen.
Anerkennung für gute Arbeit würde sich anders abbilden
Die Wähler haben allerdings meistens ein gutes Gespür dafür, welchen Regierungspolitikern sie vertrauen dürfen. Auf der Beliebtheitsskala des Meinungsforschungsinstituts Forsa, das dieses Bauchgefühl wiedergibt, stehen die Senatorinnen Günther, Lompscher und Scheeres inzwischen ganz unten. Anerkennung für gute Arbeit würde sich anders abbilden. Und die Spannungen im Bündnis, die regelmäßigen Streitereien, die latenten und offenen gegenseitigen Aggressionen und Durchstechereien sind mit den Großvorhaben und den dabei politisch versagenden Senatorinnen eng verbunden.
Einen personellen Umbruch wagt dennoch niemand, denn es wäre der Anfang vom Ende der rot-rot-grünen Koalition. Sozialdemokraten, Linke und Grüne nehmen sich gegenseitig in Haftung. Forderte Michael Müller zum Beispiel eine Ablösung Lompschers, würde die Linke nachziehen und eine neue Schulsenatorin sehen wollen. Stünde Günther zur Disposition, würden die Grünen mit Sicherheit am Status quo im Senat rütteln.
Ihre Partei trägt Lompscher auf Händen
Auch wenn die Bildungssenatorin Scheeres in der eigenen Partei höchst umstritten ist und in Bezirksgremien der SPD sogar ihr Rücktritt gefordert wurde. Auch wenn die Verkehrssenatorin Günther wegen der rüden Entlassung ihres Staatssekretärs Jens-Holger Kirchner selbst von den eigenen Leuten stark angefeindet wurde. Da hat die Stadtentwicklungssenatorin Lompscher geradezu Glück, denn die Diplom-Ingenieurin, die ein unbändig starker Wille prägt, wird von ihrer Partei auf Händen getragen.
Vielleicht wäre ein einvernehmlicher Kabinettswechsel zur Halbzeit der Wahlperiode gelungen – mit einem entscheidungsstarken Regierungschef an der Spitze, der gut moderieren kann. Michael Müller hat sich das aber nicht getraut, obwohl es Vertraute gab, die ihm eine personelle Frischekur im Frühjahr dieses Jahres angeraten haben. Die Chance wurde vertan, es hätte in der Koalition sicher auch gezischt und geraucht, doch es wäre ein Versuch gewesen, Schwäche in Stärke umzuwandeln.
Unter Müllers Amtsvorgänger Klaus Wowereit gab es personelle Wechsel. Auf den umstrittenen sozialdemokratischen Finanzsenator Thilo Sarrazin folgte der parteilose Ulrich Nußbaum. Ebenfalls 2009 kam für die Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner die heutige Linksfraktion-Chefin Carola Bluhm. Und der Koalitionspartner CDU wechselte 2012 die Wirtschaftssenatorin Sybille von Obernitz gegen Cornelia Yzer aus. Schon 2004 stieg der damalige Stadtentwicklungssenator und SPD-Landeschef Peter Strieder komplett aus der Politik aus. Ihm folgte Ingeborg Junge-Reyer.
Durchgreifende Kabinettsauffrischungen waren dies nicht. Aber Veränderungen sind möglich, ohne Koalitionen zu gefährden. Das zeigt sich in anderen Bundesländern. Doch in Berlin verharrt die Landespolitik in der Bewegungslosigkeit. Wenn man einflussreiche Koalitionspolitiker nach einem Personalwechsel fragt, lautet die Standardantwort: Wer hätte denn jetzt noch Lust, gute zwei Jahre vor der nächsten Abgeordnetenhauswahl, ein schwieriges Spitzenamt zu übernehmen?
Die wichtigsten Ziele: mehr Deutsch und Mathe
Also bleibt in Berlin vorerst alles, wie es ist. Bildungssenatorin Scheeres lässt sich in ihrem unerschütterlichen Glauben an die eigene Kompetenz nicht beirren. Bei Bedarf, sagen Kritiker, kuriere sie Symptome. Jetzt soll eine „Qualitätskommission“ mit dem Bildungsforscher Olaf Köller an der Spitze helfen, die Qualität des Berliner Schulunterrichts zu steigern. Die wichtigsten Ziele: mehr Deutsch und Mathe an den Grundschulen, regelmäßige Überprüfung des „Lernstands“ der Schüler, die im bundesweiten Vergleich regelmäßig schlecht abschneiden. Die CDU fordert unterdessen einen Krisengipfel und den Rücktritt von Scheeres, aber der Ruf verhallt.
Sie trotzt aller Kritik
Der Bausenatorin Katrin Lompscher fällt unterdessen auf die Füße, dass ihre Planzahlen für den Wohnungsneubau erstens nicht mit dem Bevölkerungswachstum Berlins mithalten und zweitens in der Praxis nicht erreicht werden. Die Linken-Politikerin ist längst der Lieblingsfeind der Sozialdemokraten, allen voran deren Spitzenmann Müller. Sie arbeite zu wenig mit privaten Investoren zusammen und lege zu viel Wert auf zeitraubende Beteiligungsverfahren. Lompscher trotzt bis heute fast jeder Kritik, ohne mit der Wimper zu zucken.
Auch das Vorzeigeprojekt der grünen Verkehrssenatorin Regine Günther, die gesetzlich verankerte Mobilitätswende, kommt nicht voran. Beim letzten Sturzregen musste sie sogar mit ansehen, dass die grüne Markierung von Radwegen in Pankow weggespült wurden. Ein eher technisches Problem, aber von großer Symbolkraft. Mit dem Bau der ersten Radschnellwege kann frühestens 2022 begonnen werden. Noch immer kommen Radler und Fußgänger an lebensgefährlichen Kreuzungen zu Tode. Und jetzt wird in Berlin über die E-Scooter debattiert, die sich als Touristen-Bespaßung entpuppen. Die Verkehrswende ist das nicht.
Noch bleibt der Senatorin, die aus dem Wissenschaftsbetrieb kommt und keine durchsetzungsfähige Politik-Managerin ist, ein Hoffnungsschimmer: Der neue Plan für den öffentlichen Personennahverkehr bis 2035. Eine 28 Milliarden Euro teure Komplettrenovierung von Bussen, Tram und S-Bahn. Nur die Erweiterung des U-Bahnnetzes liegt außerhalb der Günther-Welt, zum großen Verdruss der SPD. Fürs Erste kann sich die Senatorin aber auch in diesem Konflikt auf den Geleitschutz der Grünen-Parteigremien verlassen.
Die Zufriedenheit der Bürger ist sogar leicht gestiegen
Es ist schon verrückt, dass Rot-Rot-Grün insgesamt so gut dasteht – trotz der vielen Schwachstellen und Konflikte, die Bildung, Bauen und Verkehr im politischen Alltag regelmäßig offenbaren. Würde das Abgeordnetenhaus am Sonntag neu gewählt, hätte die Koalition fast 60 Prozent der Berliner hinter sich. Mit leicht steigender Tendenz in den vergangenen Wochen. Sogar die Zufriedenheit der Bürger mit diesem Senat ist leicht gestiegen. Es ist ein Bündnis, das nach dem Prinzip kommunizierender Röhren funktioniert: Schwächelt die eine Partei, zeigt mindestens eine der beiden Partner neue Stärke. Momentan sind es die Grünen, die vor Kraft kaum laufen können, sehr zum Ärger der Sozialdemokraten.
Die Opposition in Berlin hat dem nichts entgegenzusetzen. Parlamentarische Missbilligungsanträge gegen Günther und gegen Lompscher perlten an der Koalition wirkungslos ab. Da hält man zusammen. Gewiss werden CDU, FDP und AfD in der ersten Parlamentssitzung nach der Sommerpause am 15. August versuchen, daraus ein Tribunal gegen das weibliche Trio im Senat zu machen. Besonders im Visier steht Scheeres. Nützen wird das aber nichts.