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Hochgeschätzt. Pfleger wie Maik Rech verdienenen in Luxemburg mehr als in jedem anderen europäischen Land.
© privat

Systemrelevant – aber davon merken sie nichts: Deutsche Krankenpfleger flüchten ins Ausland

In Deutschland fühlte sich Krankenpfleger Maik Rech unterfordert und ausgenutzt. Er wanderte nach Luxemburg aus. Dort fand er ideale Bedingungen.

Ihn besuchen? In Luxemburg? Das gehe derzeit schlecht, sagt der Krankenpfleger Maik Rech vor ein paar Tagen, kaum Zeit habe er, und die Grenzen seien ohnehin dicht. Ein Videotelefonat könnte er schaffen, aber ehrlich gesagt, der Corona-Stress im Krankenhaus, abends sei er oft zu kaputt.

Aber er könnte sich per Sprachnachricht melden, bei Whatsapp Fragen beantworten, immer wenn er gerade etwas Luft habe. Und hier und da ein Foto schicken aus dem Land, in dem er arbeitet, nicht weit weg von zu Hause und doch wie auf einem anderen Planeten gelegen, zumindest aus Sicht eines Krankenpflegers: ein Schlaraffenland.

Systemrelevant. Pflegkräfte fordern schon lange bessere Arbeitsbedingungen - und manche kehren Deutschland den Rücken.
Systemrelevant. Pflegkräfte fordern schon lange bessere Arbeitsbedingungen - und manche kehren Deutschland den Rücken.
© imago images/snapshot

Maik Rech, 40 Jahre alt, ist ausgebildeter Intensivkrankenpfleger, seit 17 Jahren im Beruf. Er kommt aus Baumholder in Rheinland-Pfalz, das liegt zwischen Trier und Kaiserslautern, er ist verheiratet, hat drei Töchter.

Seit vier Jahren arbeitet Rech am Hôpital Robert Schuman auf dem Plateau Kirchberg, einem Viertel der Stadt Luxemburg, aktuell dreht er dort Corona-Patienten auf den Bauch, überwacht Beatmungsgeräte.

Eines der Fotos, das er von sich schickt, zeigt einen Mann mit zerzausten Haaren, Maskenabdruck im Gesicht, auf der Stirn glänzt der Schweiß der Schicht. Auf einem anderen trägt er einen Ganzkörperanzug, blaue Handschuhe bis zu den Ellbogen, Schutzbrille, Maske, Kapuze, die Arme hält er angewinkelt zur Bodybuildergeste. Ein Superheld posiert als Superheld.

Das Klatschen klingt für die Pfleger nach Hohn

Viel ist derzeit zu lesen von der Systemrelevanz der Pfleger. Bürger applaudieren von Balkonen, sogar im Bundestag klatschten Parlamentarier, das allerdings klang für die Beklatschten nach Hohn – sie fordern eine Antwort auf eine der drängendsten Fragen des vergangenen und des kommenden Jahrzehnts: Was tun gegen den Pflegenotstand?

Das deutsche Pflegesystem leidet an einem Missstand: Ihm fehlen Pfleger. Vier von fünf Krankenhäusern hatten im vergangenen Jahr Stellen nicht besetzt, 12.000 fehlten auf normalen Stationen, weitere 4700 auf den Intensivstationen, und das ist nur der Mindestbedarf.

Damit Pflegekräfte in den Krankenhäusern normal arbeiten könnten, also ohne Überstunden, spontane Einsätze und unter Einhaltung der Pausen, müssten weitere 80.000 Stellen geschaffen werden, das ergab eine Erhebung der Gewerkschaft Verdi.

Doch auf neue Kollegen warten die Beschäftigten oft vergeblich, stattdessen verlassen viele selbst den Beruf – oder flüchten ins Ausland, in die Schweiz, nach Holland, Dänemark, Luxemburg. Tausende sind es, die gehen. Genaue Zahlen, so heißt es sowohl beim Bundesgesundheits- als auch beim Arbeitsministerium, lägen nicht vor.

1500 Krankenpfleger und knapp 800 Hilfspfleger sind es jedoch allein in Deutschlands kleinstem Nachbarland, Luxemburg, das teilt das dortige Gesundheitsministerium auf Nachfrage mit. Was suchen deutsche Pfleger dort, während sie zu Hause so dringlich gebraucht würden? Was kann Deutschland aus ihrem Abwandern lernen? Und können sie zurückgewonnen werden?

„Du spürst einen ständigen Stress“

Maik Rech, das erzählt er per Sprachnachricht, beginnt 2003 mit der Ausbildung zum Krankenpfleger, 2006 schließt er ab. 2008 legt er noch die Zusatzausbildung zum Anästhesie- und Intensivpfleger obendrauf und erarbeitet sich parallel eine Führungsposition als Bereichsleiter am Westpfalz-Klinikum.

Europäisches Zentrum. Auf dem Kirchberg-Plateau befinden sich viele EU-Institutionen und auch das Krankenhaus, in dem Maik Rech arbeitet.
Europäisches Zentrum. Auf dem Kirchberg-Plateau befinden sich viele EU-Institutionen und auch das Krankenhaus, in dem Maik Rech arbeitet.
© Lars Halbauer/dpa

Doch je höher er aufsteigt, desto mehr missfallen ihm die Arbeitsbedingungen. „Ich war unzufrieden, frustriert, vor allem wegen des Personalmangels. Du spürst einen ständigen Stress, musst für andere einspringen, kannst deine Ziele nicht erreichen. Dazu kommt der Spardruck von oben.“ Mehrfach habe er bei der Klinikleitung um eine Aufstockung des Personals gebettelt. Deren Antwort laut Rech: „Wir würden ja einstellen, aber es ist keiner da, der es machen will.“

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Längst hat der Fachkräftemangel zu einem der europaweit schlechtesten Pflegeschlüssel geführt. Auf einen Krankenpfleger kommen in Deutschland im Schnitt rund 13 Patienten, in Norwegen sind es nur fünf, in den Niederlanden sieben, in der Schweiz acht.

In vielen Nächten, berichten Pfleger, seien aber selbst die 13 eine Utopie, dann seien sie für bis zu 30 oder gar 40 Menschen allein zuständig.

Bald hatte der Pfleger genug vom Verhalten der Klinikleitung

Von Gesundheitsminister Jens Spahn eingeführte Personaluntergrenzen, ersonnen, um das Personal vor Überlastung zu schützen und die Sicherheit der Patienten nicht zu gefährden, wurden zu Beginn der Corona-Pandemie wieder kassiert. Der Mangel an Fachkräften führt zu immensem Stress – bereits vor Corona galt ein Drittel der Beschäftigten als Burnout-gefährdet.

„Das System wurde 15 Jahre lang gegen die Wand gefahren“, sagt Michael Isfort, Vorstand beim Deutschen Institut für angewandte Pflegewissenschaft. „Die Coronakrise wirkt jetzt wie eine Lupe, unter der all diese Probleme sichtbar werden.“

Auch Maik Rech hatte bald genug von den Absagen der Klinikleitung. 2016 trifft er einen alten Kollegen, der mittlerweile in Luxemburg arbeitete. Der schwärmt, erzählt von einer offenen Stelle. Rech arbeitet Probe, schreibt eine Liste, „Vor- und Nachteile Luxemburg“. Danach ist klar: Er geht.

Was er damals unter „Nachteile“ notierte, ist schnell abgehandelt: eineinhalb Stunden Fahrt vor und nach jeder Schicht, drei Stunden im Auto jeden Tag, eine zähe Sache. Nach Luxemburg zu ziehen, kam gar nicht infrage, zu sehr sind die Rechs verwurzelt in Baumholder, seine Frau arbeitet dort ebenfalls in der Pflege, die Töchter gehen zur Schule.

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Umso länger wurde die Vorteilsliste. In Luxemburg verdient Rech mehr als doppelt so viel wie zuvor in Deutschland, obwohl er seine Arbeitszeit auf 85 Prozent reduzierte. Steuern zahlt er jetzt weniger, statt 30 Urlaubstagen stehen ihm 35 zu, nach einem Jahr erwarb er zudem den Anspruch auf eine luxemburgische Rente. Dazu kommen Annehmlichkeiten wie ein höheres Urlaubsgeld, Schulgeld für die Kinder, höhere Kindergeldbeträge und eine jährliche Prämie im Juni, das sogenannte „Surprime“.

Nirgendwo in Europa verdienen Krankenpfleger mehr

Mit seinem Verdienst liegt Rech im Schnitt. Der liegt für eine Vollzeit-Pflegefachkraft in Luxemburg im Jahr 2018 bei 96.500 Euro brutto. In keinem anderen europäischen Land verdienen Krankenpfleger mehr. Fragt man beim luxemburgischen Gesundheitsministerium nach, warum das so ist, lautet die Antwort lapidar: „Weil die wirtschaftliche Lage dies momentan erlaubt.“

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Luxemburg auf die ausländischen Pfleger angewiesen ist. 64 Prozent der Beschäftigten kommen schon heute aus dem Ausland, 24 Prozent aus Deutschland. Als Deutschland und Frankreich Anfang März ankündigten, die Grenzen nach Luxemburg zu schließen, verhandelte das Großherzogtum hart, um Ausnahmen für die Pflegekräfte zu erwirken. „Wenn die Grenzen geschlossen werden, können wir auch die Krankenhäuser schließen“, sagte Premier Xavier Bettel.

Pflegern wie Rech bot die Regierung schnell Hotelzimmer an, um sie im Land zu behalten. „Die hatten Angst, dass Deutschland uns im Fall einer Überlastung der deutschen Krankenhäuser einbehalten hätte.“ Ihm kam das Angebot aus Luxemburg gelegen, es ersparte ihm den Stau an der Grenze.

„Fürs Arschabputzen zuständig und sonst für nicht viel“

Besonders nach Nachtschichten stieg er in einem Viersternehaus ab, nur fünf Minuten entfernt vom Krankenhaus. Ein Foto, das er schickte, zeigte ein geräumiges Hotelzimmer, Kingsizebett, Schreibtisch. „Getränke kann man nehmen, so viel man will, das Essen kommt vom Caterer“, berichtete er. Und zum Frühstück gab es Croissants.

Das mit dem Hotelzimmer ist inzwischen vorbei, seitdem die Grenzen wieder geöffnet wurden. Doch viele weitere Vorteile bleiben. „An deutschen Krankenhäusern hat man oft das Gefühl, ich sag’s, wie’s ist, fürs Arschabputzen der Leute zuständig zu sein und sonst für nicht viel“, sagt er.

In Luxemburg sei man eher rechte Hand des Arztes als Handlanger. Der Stress sei geringer, dafür die Bereitschaft höher, für Kollegen einzuspringen. „Weil die Bezahlung für Wochenenddienste so gut ist, wird sich darum gerissen“, sagt Rech. Das hohe Gehalt – es wirkt über den Kontostand hinaus.

Auch in Deutschland fordern Pfleger längst mehr Geld. Eine Petition von Pflegefachkräften, inzwischen von einer halben Million Menschen unterschrieben, stellt einen Forderungskatalog an Gesundheitsminister Jens Spahn auf. Punkt fünf: „Eine sofortige Zusage über deutliche Lohnsteigerungen für Pflegefachkräfte, die bei einem Einstiegsgehalt von 4000 Euro liegen muss. Die Refinanzierung können Sie sich für die Zeit nach dieser Krise aufheben.“

„Ein zaghafter Schritt in die richtige Richtung“

Spahn hat sich dazu bislang nicht geäußert. Zuletzt hatte der Gesundheitsminister zusammen mit Arbeitsminister Hubertus Heil eine einmalige Prämie in Höhe von 1000 Euro konzipiert – allerdings nur für Altenpfleger. Denen geht es zwar finanziell oft schlechter als den Kollegen im Krankenhaus, dass aber ausgerechnet die Krankenpfleger an der vordersten Corona-Front nicht bedacht werden, ist für viele unverständlich.

Auf konkrete Fragen zur Petition, zur Situation in Luxemburg, zu den abwandernden Pflegern antwortet das Bundesgesundheitsministerium nicht.

Ein Mitarbeiter schickt stattdessen eine allgemeine Abhandlung. Es gehe darum, den Beruf wieder attraktiver zu machen, schreibt er und verweist auf Erreichtes, zum Beispiel das Pflegepersonalstärkungsgesetz, das seit 2019 gilt. Es stellt sicher, dass die Krankenhäuser jede zusätzliche Stelle von den Krankenkassen refinanziert bekommen. Zudem gliedert es die Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen aus, was es Krankenhäusern schwerer macht, auf Kosten der Pflege zu sparen.

Bernd Riexinger, Vorsitzender der Partei Die Linke, nannte das Gesetz bei seiner Einführung „einen zaghaften Schritt in die richtige Richtung“, der das Problem jedoch nicht an der Wurzel packe. Auch vielen Pflegern geht es nicht weit genug.

Fridays for Future als Vorbild

Wollen die Pflegekräfte langfristig mehr Einfluss gewinnen auf die Politik, da sind sich alle Akteure einig, müssen sie vereinter auftreten. Bislang ist die Branche hochgradig unorganisiert. Anlaufstellen wie der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe versammeln nur einen Bruchteil der Beschäftigten.

Auch die neu gegründeten Landespflegekammern in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein sehen viele kritisch. Und selbst in der Gewerkschaft Verdi – und nur die ist tariffähig, hat also die Lizenz zum Verhandeln höherer Löhne – sind nur rund zehn Prozent der Pfleger registriert. Gerade von Verdi erhoffen sich nur die wenigsten etwas, Verdi verhandele lasch, die erkämpften Lohnerhöhungen seien marginal, heißt es.

Pflegewissenschaftler Isfort erklärt: „Das ist systemisch bedingt, die Gewerkschaft vertritt ja nicht nur die Krankenpfleger. Wenn die jetzt plötzlich 4000 Euro fordern, dann wollen andere auch mehr.“

Wie es besser gehen könnte? Eine Idee hat der Krankenpfleger Alexander Jorde gerade im Podcast „halbzehn.fm“ vorgestellt. Jorde wurde berühmt, als er 2017 Kanzlerin Merkel in der Wahlarena mit Fragen zum Pflegenotstand in die Mangel nahm.

Sie drohten mit Streiks - und hatten Erfolg

„Ich glaube tatsächlich, dass wir aktuell nicht umhinkommen, eine eigene Gewerkschaft oder eine Art Bewegung zu gründen, die mehr Menschen einsammelt“, sagt Jorde. Der Marburger Bund sei ein Vorbild, der die Ärzte gut vertrete. Aber auch Fridays for Future. Flächendeckende Streiks müssten ein Thema werden, Pfleger müssten begreifen, dass sie in einer besonderen Position seien, weil ohne sie nichts laufe. „Ich will eine Gewerkschaft, die im Verhandlungszimmer auf den Tisch haut, bis das Holz splittert.“

Wie das geht, auch dafür lohnt der Blick nach Luxemburg. Dort fällt, betrachtet man die Löhne, ein massiver Sprung auf zwischen 2016 und 2017.

Den Sprung erklären kann Pitt Bach. Bach ist Zentralsekretär des Syndikats Gesundheit und Soziales bei der Luxemburger Gewerkschaft OGBL. Knapp 90 Prozent des luxemburgischen Pflegepersonals seien darin vertreten. Kleines Land, starke Gewerkschaft. „Im Juni 2016 organisierten wir eine Demonstration mit 9000 Pflegern in Luxemburg-Stadt“, sagt Bach, „auch mit Streiks haben wir gedroht.“

Kurz darauf saß er mit am Verhandlungstisch, als die Gewerkschaft den neuen Tarifvertrag aushandelte. Das Ergebnis: Lohnerhöhungen um 13 Prozent. Bach sagt: „Wir waren zu 100 Prozent erfolgreich. Alle unsere Forderungen wurden umgesetzt.“

Maik Rech, der deutsche Pfleger in Luxemburg, ist dankbar. Kann er sich trotzdem vorstellen, eines Tages zurückzukommen nach Deutschland? „Selbst wenn Deutschland 1000 Euro netto mehr bezahlen würde, müsste ich wohl mit 67 noch auf einer Intensivstation arbeiten – was fast unmöglich ist, es ist schlicht zu anstrengend. In Luxemburg kann ich dagegen mit 57 in Rente gehen.“ Ihn hat Deutschland verloren.

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