Luxemburg als Vorbild für Deutschland?: Warum dieser Mann den kostenlosen Nahverkehr eingeführt hat
Der Verkehrsminister wird weltweit bestaunt – weil in Luxemburg seit März die Nutzung von Bussen und Bahnen gratis ist. Doch viele Bürger sind skeptisch.
Vor dem Gare Lëtzebuerg stehen Autos und Busse im Morgengrauen fast Stoßstange an Stoßstange. Die mit Pendlern gefüllten Busse fädeln sich vom Bahnhofsvorplatz in den Verkehr ein, doch der kommt nur langsam voran. Die Straße ist metertief aufgerissen und durch Bauzäune abgesperrt, Dutzende Arbeiter wuseln mit Schubkarren und Schaufeln herum, Presslufthammer knattern.
Der Bus Nummer 28, in dem es nur noch Stehplätze mit Körperkontakt gibt, bewegt sich teilweise im Schritttempo durch die enge Innenstadt mit ihren historischen Gebäuden. Das soll also das vielgelobte Luxemburger Verkehrssystem sein, das man in Berlin, London und Neu-Delhi mit Neugierde betrachtet?
Irgendwann wird die Straße dann wieder freier, am nordwestlichen Rand der Innenstadt muss man aussteigen, um ein unscheinbares graues Reihenhaus zu erreichen. François Bausch öffnet: breites Lächeln, volles graues Haar, schwarze Daunenjacke.
Im Hausflur steht das Fahrrad des Mannes, dessen Nahverkehrsideen gerade international Aufsehen erregen. Luxemburg und sein grüner Transportminister haben am Sonntag als erster Staat den öffentlichen Verkehr komplett kostenlos gemacht. Mitte März wird Bausch vor dem Deutschen Städtetag in Bonn darüber berichten, einen Monat später wollen die Grünen im Bundestag von ihm hören, was in Luxemburg passiert.
Der Fahrkartenautomat hat ausgedient
Das Fahrrad lässt der 63-Jährige an diesem Tag stehen, man will ja gemeinsam das erleben, was Luxemburg derzeit Schlagzeilen verschafft – auch wenn Bauschs heimische Kritiker ihm Symbolpolitik vorwerfen und das Geschenk in erster Linie für eine Imagekampagne der Regierung halten. Bausch hingegen spricht von einem globalen Zukunftsprojekt. „Wir stecken doch weltweit in einer Sackgasse“, sagt er. Also los zur nächsten Straßenbahnhaltestelle.
Die ist für den Minister einer der wichtigsten Bausteine seiner Reform. Der Fahrkartenautomat ist schon abgeschaltet, demnächst kommt er weg. „Wir sind dabei, das ganze System umzubauen“, sagt Bausch beim Einsteigen. Daher auch das Baustellenchaos am Bahnhof. Der soll bis Jahresende ebenfalls per Tram erreichbar sein.
Die kommt im Gegensatz zum Bus flott voran, denn sie muss sich die Strecke nicht mit Autos teilen, Baustellen halten sie auch nicht auf. Und sie ist nicht so überfüllt wie die Busse. Bausch stellt sich selbstbewusst mitten in den Wagen, Fahrgäste grüßen den Minister, er nickt freundlich zurück. Man kennt sich. „Kürzlich traf ich hier einen Anwalt, der für eine internationale Beratungsfirma arbeitet“, erzählt Bausch. „Früher fuhr der jeden Morgen mit dem Auto zur Arbeit – jetzt nimmt er täglich die Tram.“
Es ist die erste neue Straßenbahnverbindung der Stadt, die den Minister an diesem Morgen ins Büro bringt, 2017 wurde sie eröffnet – Auftakt eines ambitionierten Reformpakets, „Modu 2.0“ genannt, Untertitel: „Strategie für eine nachhaltige Mobilität“. Das ist das Konzept, mit dem Bausch und seine Regierung für ihr als Autofahrernation bekanntes, wirtschaftlich sehr dynamisches und überproportional schnell wachsendes Land das erreichen wollen, was oft unter dem Begriff Verkehrswende zusammengefasst wird.
Das Land hat so viele Autos pro Einwohner wie kaum ein anderes
Also Ausbau des öffentlichen Verkehrs und vor allem der Straßenbahn, für die die Luxemburger Grünen seit mehr als 30 Jahren geworben haben, bessere Vernetzung von Verkehrsmitteln, Förderung des Radverkehrs, Ausbau der Elektromobilität, effizientere Nutzung von Autos durch Fahrgemeinschaften und einiges mehr, an dem man auch in Berlin und anderswo arbeitet.
Dass es jetzt gerade das kleine Luxemburg ist, das mit einem Verkehrsthema Schlagzeilen macht, liegt in erster Linie am Reizwort Gratis-Nahverkehr. Ein bisschen aber auch an der Person von François Bausch, der die Maßnahme auf international beachteten Pressekonferenzen verkündete und so das Gesicht der radikalen Tarifreform wurde.
Der Minister verkörpert schon durch seine Biografie den öffentlichen Nahverkehr wie nur wenige andere Politiker. Als Schulabbrecher heuerte er mit 17 als Gleisbauer an, war mit 20 Stellwerkarbeiter, dann Schaffner, Eisenbahngewerkschafter, Bahnbeamter. Zugleich engagierte Bausch sich bei den Luxemburger Grünen, über Jahrzehnte galt er als deren heimlicher Parteichef. Und er ist passionierter Radfahrer und Fußgänger – in einem Land, das so viele Autos pro Einwohner zählt wie kaum ein anderes.
Während die Tram über eine der 40 Meter hohen Brücken rauscht, die die auf mehreren Felsplateaus erbaute Stadt verbinden, wirkt Bausch zugewandt, aber auch etwas ruhelos. Politische Beobachter schreiben ihm für Luxemburg eine Bedeutung zu, wie sie in Deutschland einst Joschka Fischer hatte.
Sie haben ihm Größenwahnsinn vorgeworfen
Dazu passt, dass Bausch in dem 600.000-Einwohner-Staat gleich vier Regierungsämter innehat: Als Minister für innere Sicherheit unterstehen ihm die 2.300 Polizisten des Herzogtums. Als Verteidigungsminister ist er Dienstherr der gut 1.000 luxemburgischen Soldaten, die auch in Mali und Afghanistan im Einsatz sind. Vizepremierminister der vom liberalen Politiker Xavier Bettel geführten Ampelkoalition aus Liberalen, Sozialisten und Grünen ist er auch. Das wichtigste Amt aber ist das des Ministers für Mobilität und öffentliche Arbeiten, das er seit 2013 ausfüllt.
Nach 20 Minuten hält die Straßenbahn am nordöstlichen Stadtrand vor einem 22-geschossigen Hochhaus. Im 16. Stock des European Convention Centers hat Bausch sein Büro. Als Erstes tritt er ans Fenster und zeigt dem Besucher seine Stadt. Von hier oben sieht das von tiefen Schluchten durchzogene Luxemburg aus wie eine Modelleisenbahnanlage: malerische Hügel, Brücken, Täler und mittelalterliche Befestigungsanlagen.
Bausch hat in dem Moment etwas von einem Modellbauer, der seine Anlage vorführt. Da hinten, der 60 Meter hohe gläserne Aufzug zum Beispiel, der eine der Touristenattraktionen der Stadt ist. „Der wurde damals kontrovers diskutiert“, sagt Bausch. „Größenwahnsinn haben sie mir vorgeworfen.“ Und jetzt? „Ein ungeheurer Erfolg.“
Seit 2016 verbindet das Bauwerk die Oberstadt Luxemburgs mit der Unterstadt. Oder die Adolphe-Brücke etwas weiter links, zwischen deren 120 Jahre alten Bögen seit ein paar Jahren ein unter der Straße hängender Radweg verläuft: „Bist du verrückt?“, habe seine Pressestelle gesagt. „Das wird dir das Genick brechen.“ Seine Antwort sei nur gewesen: „Ich riskiere das.“
Inzwischen wird der Radweg als Meisterstück dafür gelobt, wie man festgefahrene Interessenkonflikte – die Brücke ist wichtig für den Autoverkehr, aber der wachsende Radverkehr musste nach einer Renovierung auch berücksichtigt werden – mit kreativen Ideen löst.
In Berlin bewertet man den Vorstoß zurückhaltend
Er sei doch gewählt worden, um Dinge zu bewegen, sagt Bausch. „Ich bekomme derzeit zwei Einladungen pro Woche aus dem Ausland, um dort Reden über unser Projekt zu halten.“ Aufhänger ist in der Regel der Gratis-Tarif.
Rund 41 Millionen Euro lässt das wohlhabende Land sich das Geschenk an die Bürger jährlich kosten. Allerdings bezuschusste Luxemburg den Nahverkehr auch bisher deutlich stärker als zum Beispiel Berlin. Zudem gewährte das Land schon vielen Gruppen wie Schülern, Studenten, Rentnern und Sozialhilfeempfängern günstigere oder kostenfreie Tickets – das Tarif-Geschenk ist also weniger großzügig, als es aussieht, zumal Arbeitnehmer in Luxemburg im Durchschnitt 50 Prozent mehr verdienen als in Deutschland.
Die Verwaltung von Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) bewertet öffentlichkeitswirksame Gesten wie den Nulltarif auch aus einem anderen Grund zurückhaltend: Dann wäre schlicht weniger Geld für den geplanten Ausbau des Nahverkehrs da. Aus dem gleichen Grund sah auch Minister Bausch das Gratisangebot anfangs skeptisch, wie er jetzt in der Sitzecke seines Büros erzählt, sein Wandschmuck ist das große Foto einer Straßenbahn.
Doch ist er Pragmatiker genug, um sich die Wahlkampfforderung der Koalitionspartner zu eigen zu machen. „Ich will die Gratis-Tarife nutzen, um die Debatte zu führen – die Leute stellen jetzt ihr Mobilitätsverhalten infrage, sie müssen aber auch spüren, dass sich etwas tut“, sagt der Minister und klopft mit der Faust auf einen Stapel Papier auf dem Tisch: eine Version seines Mobilitätskonzeptes, das er bei Dutzenden von Bürgerversammlungen präsentiert und gegen Kritiker verteidigt.
Knapp 200.000 Pendler täglich
Davon gibt es hier einige. Vielen Luxemburgern geht es zu langsam voran, wie zwei der prominentesten Bausch-Kritiker kurz nach dem Termin im Ministerbüro auf einem Parkdeck am südwestlichen Stadtrand erzählen. „Luxemburg brüstet sich damit, zehn Mal so viel wie Deutschland in den Ausbau des Nahverkehrs zu stecken – das ist maßlos übertriebenes Bling-Bling“, sagt Markus Hesse, Professor für Stadtforschung an der Universität Luxemburg. „30 Jahre lang ist hier nichts passiert – und jetzt versucht man, alles nachzuholen.“
Zusammen mit seiner Kollegin Constanze Carr hat er auf das Dach des Park-and-Ride-Parkhauses Bouillon gebeten. Der 30 Jahre alte Betonklotz verkörpert für sie ein Grundproblem der Luxemburger Verkehrspolitik, das kein Gratis-Angebot lösen könne. „Hier passen 3000 Autos rein“, sagt Hesse. „Und jeder Platz ist voll.“
Viele Pendler – neben Luxemburger Kennzeichen sieht man hier auch viele aus Frankreich – hätten schlicht keine Alternative zum Auto. Denn in der Stadt, die jedes Jahr um mehr als 10.000 Bewohner wachse, sei gerade für Geringverdiener kein bezahlbarer Wohnraum mehr zu finden – eine auch aus Berlin bekannte Klage. Das führe dazu, dass immer mehr Menschen, die in der Stadt Luxemburg arbeiten ins Umland oder gar jenseits der Landesgrenze ziehen – wo die Verkehrsverbindungen lückenhaft und unzuverlässig seien.
Knapp 200.000 Menschen pendeln täglich aus den Nachbarländern nach Luxemburg. „Ein beliebtes Spiel hier hießt Zug-Roulette“, sagt Constance Carr und lacht bitter. Verspätungen und Zugausfälle gehörten auch im jetzt gratis angebotenen Nahverkehr des Landes weiterhin zum Alltag. Und komme ein Zug pünktlich, sei er oft überfüllt.
Bei wichtigen Terminen sind Busse zu riskant
Manche Bürger fühlen sich trotzdem von dem Gratis-Angebot angesprochen: Das „Tageblatt Lëtzebuerg fragte seine Leser, ob sie jetzt öfter Bus, Bahn und Tram nehmen wollen – und 87 Prozent antworteten mit „Ja“. Acht sagten, sie wollten dem Auto treu bleiben, fünf Prozent sagten, ihnen sei das Thema egal.
Einer der Luxemburger, die das Auto nicht einfach stehen lassen, ist der Journalist Christoph Bumb. Er ist der Gründer und Geschäftsführer des Online-Magazins „Reporter“, dessen Redaktion in einer engen Gasse in der Luxemburger Altstadt liegt, nur wenige Schritte vom Großherzoglichen Palast und anderen Touristenattraktionen entfernt.
Er wohnt wenige Kilometer südlich der Stadt Luxemburg in der Gemeinde Hesperingen, wie auch sein Kollege Laurent Schmit, der der Verkehrspolitik-Exerte des unabhängigen Magazins ist. „Wenn das Angebot attraktiver und verlässlicher wäre, würde ich das Auto öfter stehen lassen“, sagt Bumb beim Gespräch in den Redaktionsräumen. Aber gerade bei wichtigen Terminen seien Züge und Busse in Luxemburg nach wie vor zu riskant.
„Das Netz ist in Stoßzeiten überlastet, es gibt zu wenige Busspuren“, ergänzt Schmit. Trotzdem bescheinigen die beiden Journalisten Bausch, er gehe im Gegensatz zu seinen Vorgängern „die Dinge konkret an“, wie Bumb sagt. Der Minister habe die letzten Hürden für den Straßenbahnbau beseitigt, plane ein umfangreiches Bus- und Zugnetz quer durchs Land.
Generell sei die Politik der Regierung aber immer noch zu autolastig, sagt Schmit. Für eine wirkliche Verkehrswende müsste die Regierung unter anderem den in Luxemburg besonders günstigen Benzinpreis anheben und Subventionen für Firmenwagen abschaffen. „Aber das ist eine Spezialität dieser Regierung“, sagt Christopher Bumb: „Dinge umzusetzen, die gut aussehen, aber niemandem wehtun.“
Kritiker sagten: Das dauert 20 Jahre
Bausch kennt die Kritik. „Ich kämpfe nicht gegen das Auto und will die Leute nicht bestrafen“, sagt er. Er will die Leute durch Anreize zum Umdenken bringen. Wie er sich das vorstellt, zeigt ein weiterer Blick aus seinem Büro auf die Avenue John F. Kennedy. Die ist die Hauptstraße des Viertels Kirchberg, das mit seinen Hochhaustürmen von Banken und EU-Institutionen für manche Luxemburger ein besonders misslungenes Stück Stadt ist. Für François Bausch ist es aber zugleich so etwas wie eine Blaupause für den Verkehr der Zukunft.
Wo bis vor ein paar Jahren noch eine mehrspurige Ausfallstraße alles dominierte, sieht man jetzt Straßenbahnschienen, einen breiten Radweg, einen Fußgängerboulevard – und daneben auch noch zwei Autospuren. Auch hier hätten seine Kritiker gesagt: „Der spinnt komplett, das dauert 20 Jahre.“ Doch inzwischen gebe es Zuspruch von allen Seiten – und der Umsteigebahnhof dahinten, der die Tram auf dem Plateau mit der im Tal verlaufenden Fernbahn per Standseilbahn verbindet, habe sogar ein Viertel weniger gekostet als geplant. Dann ist das Gespräch zu Ende – vor der Tür des Ministers wartet schon das nächste Fernsehteam.