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Pflegekräfte sind in Deutschland extrem unterbezahlt.
© Daniel Bockwoldt/dpa

Wenn aus Notstand Panik wird: Was in der Pflege passiert, ist ein Skandal

Der Pflegenotstand wird unerträglich. Doch die Politik verheddert sich im Klein-Klein. Sie bräuchte den Mut zu umfassenden Strukturveränderungen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Rainer Woratschka

An den Alarmbegriff haben wir uns bereits gewöhnt. Wikipedia zufolge dient er seit mehr als fünf Jahrzehnten zur Zustandsbeschreibung in unseren Krankenhäusern und Altenheimen: Pflegenotstand.

Was ist eigentlich die Steigerung davon? Inzwischen, so bestätigt der sicher nicht zur Übertreibung neigende Gesundheitsminister, gibt es hierzulande 50.000 bis zu 80.000 offene Pflegestellen. Die sich einfach nicht mehr besetzen lassen, weil der Markt leer gefegt, der Beruf so unattraktiv geworden ist, es in unserer alternden Gesellschaft immer mehr hinfällige Menschen gibt.

Wahrscheinlich sind es sogar noch mehr Vakanzen, denn oft werden sie gar nicht mehr gemeldet. Und wie es aussieht, könnte sich ihre Zahl bis 2030 mehr als verdoppeln.

Bei schlechter Pflege geht es schnell an die Menschenwürde

Dass sich dieses Desaster nicht vergleichen lässt mit dem ebenfalls beklagten Problem fehlender IT-Kräfte oder Ingenieure, weiß jeder, der selber mal im Krankenhaus lag. Oder für seine Eltern verzweifelt einen Heimplatz gesucht hat und dann – so er tatsächlich fündig wurde – entsetzt war über die Zustände dort, die Hetzerei, die ausgebrannten Beschäftigten. Bei schlechter Pflege geht es für Betroffene schnell an die Menschenwürde.

Die Politik hat die Dringlichkeit des Problems erkannt. Doch sie wirkt hilflos. So haben drei Minister in einer „konzertierten Aktion“ nicht weniger als 100 Ideen für bessere Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften präsentiert. Das Wort „Panikaktion“ träfe solchen Aktionismus besser.

Minister Spahn versucht verzweifelt, Kräfte im Ausland anzuwerben

Gesundheitsminister Jens Spahn versprach vor eineinhalb Jahren vollmundig 13.000 zusätzliche Stellen für die Heime. Im Juli war noch nicht eine dieser Stellen besetzt. Wie auch? Man könne sich, sagen die Betreiber, die Beschäftigten „ja nicht schnitzen“.

In seiner Not tingelt der Minister nun um die halbe Welt, um ausländische Pflegekräfte zu rekrutieren. Im Juli war er im Kosovo, jetzt gerade in Mexiko. Auch mit den Philippinen ist eine „Kooperation“ geplant. Ein Armutszeugnis, denn die abgezogenen Fachkräfte fehlen dann natürlich in den Herkunftsländern.

Vor allem in der Altenpflege ist die Bezahlung ein Witz

Und es drängt sich der Verdacht auf, dass die Anbieter auch deshalb so auf ausländisches Personal setzen, weil sie die Hoffnung haben, dann vielleicht doch nicht so viel an den teils unzumutbaren Arbeitsbedingungen ändern zu müssen. Könnte ja sein, dass die Angeworbenen bescheidener sind.

Das Gezerre um bessere Bezahlung jedenfalls wirkt, als hätten die Heim- und Dienstebetreiber den Ernst der Lage noch immer nicht kapiert. Gemessen an Verantwortung, Anforderungen und nötiger Qualifikation werden Pflegekräfte hierzulande viel zu niedrig entlohnt. Vor allem in der Altenpflege ist die Bezahlung ein Witz. Die Politik macht zwar Druck, doch letztlich kann sie der Branche höhere Löhne nicht vorschreiben. Ihre einzigen Hebel sind allgemeinverbindliche Tarifverträge oder ein deutlich angehobener Pflege-Mindestlohn.

Es geht um Solidarität und gesellschaftliche Verantwortung

Am Donnerstag hat der Bundestag darüber debattiert. Und am Folgetag über finanzielle Entlastung von Angehörigen. Der Zusammenhang ist offensichtlich. Denn die überfälligen Lohnerhöhungen lassen, wenn sie denn kommen, die Pflegekosten explodieren. Und da wir nur eine Teilkasko-Versicherung haben, sind sie samt und sonders von den Pflegebedürftigen mit ihren Familien zu wuppen.

Spahn will dieses Problem auf Kosten der Kommunen entschärfen: Kinder von Heimbewohnern sollen nur noch zur Kasse gebeten werden, wenn ihr Jahresbrutto über 100.000 Euro liegt. Das ist natürlich populär, doch ist es auch gerecht? Etwa, wenn entlastete Angehörige hohe Erbschaften zu erwarten oder schon vorab als Geschenk übertragen bekommen haben?

Brauchen wir nicht endlich eine Vollversicherung?

Spätestens hier stellen sich die großen Fragen nach Solidarität und gesellschaftlicher Verantwortung. Was kann, was darf man dem Einzelnen für die menschliche Pflege unserer Alten abverlangen? Brauchen wir nicht endlich eine Vollversicherung? Und müssten sich daran dann nicht auch die Steuerzahler, also alle im Land nach ihren Kräften, beteiligen?

Ohne den Mut zu umfassenden Strukturveränderungen und ohne einen neuen humanen Grundkonsens wird sich der unwürdige Pflegenotstand nicht beseitigen lassen.

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