Flüchtlinge in Ungarn: Der eiserne Zaun
Großvater Ali hat Wunden an den Füßen, mit seiner Familie aus Afghanistan hat er tausende Kilometer zurückgelegt. Nun soll sie Stacheldraht in Ungarn aufhalten? Ausgerechnet das Land, das im Kalten Krieg als erstes die Grenzanlagen einriss, schottet die EU gegen Flüchtlinge ab.
Eine afghanische Familie sitzt 500 Meter von der Baustelle im Dickicht und tunkt trockene Brötchen in lauwarmes Flusswasser. Der Großvater, der Vater, die Mutter und die drei Enkelkinder, sie sind einfach vorbeigelaufen am neuen, streng bewachten Zaun. Ihre Flucht hat sie drei Monate über Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Ungarn geführt. Jetzt sind sie am südöstlichen Rand der Europäischen Union angekommen und wundern sich über das, was hier geschieht.
Vor einem Vierteljahrhundert waren es die Ungarn, die als erste den Eisernen Vorhang öffneten. Sie rissen den Grenzzaun zu Österreich ein, Tausende von DDR-Flüchtlingen liefen hinüber und die Weltgeschichte nahm ihren Lauf. Wer aber hat damals schon geahnt, dass zum Lauf dieser Weltgeschichte auch die Osterweiterung der EU gehören würde? Nun ziehen sie in Ungarn den Vorhang wieder zu. Diesmal auf der anderen Seite, zum Nachbarland Serbien. „Wir wollen keine illegalen Einwanderer!“ So hat es die Regierungspartei Fidesz im ganzen Land plakatieren lassen.
In der 6000-Einwohner-Gemeinde Mórahalom, zwei Zugstunden von Budapest entfernt, steht die afghanische Familie plötzlich Bulldozern, Baggern und Walzen gegenüber. Der Großvater erzählt vom teuer bezahlten serbischen Fluchthelfer, der sie nach einem 15-stündigen Fußmarsch nachts auf ungarischen Boden geschubst hat. Eher zufällig machen sie jetzt die Bekanntschaft mit Grenzpolizisten, die sich anders als die Flüchtlinge laut und gestenreich wundern. Wie konnte die sechsköpfige Familie nur unbemerkt an ihnen vorbeilaufen? Verdutzt schauen sich Staatsmacht und Hilfesuchende gegenseitig an.
Sie nehmen Flüchtlinge fest
In Mórahalom zeigt sich die Puszta zumindest landschaftlich von ihrer einladenden Seite: Kornfelder, ordentlich zusammengebundene Strohballen, grasende Pferde. Mehrere Milliarden Euro sind von der EU in den Süden Ungarns geflossen. Ein neuer Radweg nach Serbien soll den Tourismus fördern. Gern schwingen sich aber auch die Einwohner Mórahaloms in Badebekleidung auf ihre Fahrräder und genießen den Sommer. Seit bald einer Woche müssen sich die Fahrradfahrer die neuen Straßen mit Militärlastwagen teilen.
Das Naturpanorama verschwindet hinter aufgewirbelten Staubwolken. Die Regierung bezeichnet den Bau des 175 Kilometer langen Zaunes als Beitrag für die Verteidigung der Nation und hat deshalb auch die Armee herbeibefohlen. Lastwagen und Dieselgeneratoren verscheuchen eine Kranichfamilie. An der Baustelle bildet sich vor dem einzigen Dixiklo eine lange Schlange. Deswegen verdrücken sich auch einige Soldaten ins Dickicht, wo sie dann am späten Vormittag auf die Flüchtlinge stoßen.
Mit einer Handbewegung dirigiert der Einsatzleiter die Familie in den Polizeiwagen. Der Großvater tauscht noch schnell seine Turnschuhe gegen Flipflops an den schmerzenden und entzündeten Füßen. Eines der Kinder, es ist ungefähr sechs Jahre alt, liegt bewusstlos in den Händen seiner Mutter. Um 11 Uhr ist die Temperatur schon auf 37 Grad angestiegen. Die Hose des Mädchens war mal ursprünglich mit Blümchen in grellen Farben verziert, aber nach drei Monaten Flucht hat sich eine dicke Schmutzschicht über das Muster gelegt.
Die ungarische Regierung will keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen und versteht das als Freundschaftsdienst an den Partnern der Europäischen Union: Ein eiserner Zaun soll die Ungebetenen fern halten. Anfang Juli hat das Parlament in Budapest mit den Stimmen der rechtskonservativen Fidesz und der rechtsradikalen Jobbik-Partei „das Gesetz zum Bau eines Zauns“ verabschiedet.
Illegale Grenzübertritte werden nun mit Gefängnisstrafen geahndet, dafür soll die nationale Antiterroreinheit sorgen.
80.000 Flüchtlinge, 800 genehmigte Asylanträge
Mehr als 80.000 Flüchtlinge sind in diesem Jahr schon über das EU-Nachbarland Serbien nach Ungarn gekommen. Allein an diesem schwül-heißen Juliwochenende werden weitere 1500 gezählt. In den ersten sechs Monaten des Jahres genehmigte das Innenministerium in Budapest nur 800 Asylanträge. Die meisten Flüchtlinge ziehen so schnell wie möglich gen Westen und Norden – nach Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und Schweden.
Die afghanische Familie will weiter nach Wien, München oder Berlin. Warum sie ihre Heimat verlassen haben? „Taliban“, sagt die Mutter. Drei Generationen lassen sich in den Kastenwagen fallen. Die Polizisten werden sie in ein Auffanglager fahren. Der Vater schaut noch ein Mal auf die Puszta, blickt auf den glänzenden Zaun, auf die fliegenden Kraniche, er schließt die Augen – dann schiebt ein Polizist die Tür zu.
„Staatsgrenze“ steht auf dem Schild eines provisorischen Zaunabschnitts auf Ungarisch, Englisch und Deutsch. Es erinnert an den Kalten Krieg. Innen- und Verteidigungsministerium sind noch am Experimentieren. Je nach Geländeform kommt eines von zwei Zaunmodellen zum Einsatz, beide sind vier Meter hoch und werden von ungarischen Häftlingen vorgefertigt. Die einfache Variante besteht aus Nato-Stacheldraht auf Holzbohlen, das Deluxe-Modell stützt sich auf ein Betonfundament. Mindestens zwanzig Millionen Euro will die Regierung in die neue Grenzsicherung investieren. Bis Ende August soll die EU-Grenze an dieser Stelle dicht sein.
Ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums sticht aus dem Camouflage seiner Soldaten-Kollegen mit einem himmelblauen T-Shirt, einer kurzen Jeanshose und einer verspiegelten Sonnenbrille heraus. Die neongelbe Sicherheitsweste trägt er lässig über die Schulter geworfen. Er rüttelt kräftig am Zaun, zieht am Stacheldraht und macht sich Notizen.
Härtetest für die Festung Europa
In der Testphase werden noch ein paar Soldaten über die Zaunabschnitte gescheucht. Ermittelt werden soll, wie viele Flüchtlinge in einer Minute den Zaun theoretisch überwinden können. Wie einfach ist es, mit geringstmöglichen Verletzungen unter dem Stacheldraht durchzukriechen? Wie kann man ohne ordentliches Werkzeug ein Loch in den Zaun schneiden? „Wir suchen auch nach untrainierten Testpersonen“, sagt der Mitarbeiter, der eigentlich nicht mit der Presse sprechen darf. Schließlich hätten die wenigsten Flüchtlinge eine militärische Ausbildung.
Die Härtetests mit den Soldaten und den „untrainierten Bürgern“ finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Berichte mit dem Zaun im Hintergrund gab es bis jetzt meist nur im ungarischen Staatsfernsehen. „Alles läuft nach Plan“, heißt es dort täglich in den Nachrichten, „der Zaun wird die illegalen Migranten fernhalten.“ Dann folgen oft Beiträge, in denen Magyaren in Volkstracht tanzen.
Als der Einsatzleiter von der Anwesenheit eines deutschen Journalisten erfährt, lässt er erst einmal die Büsche rund um den Zaun säubern. Die Fundstücke im Dickicht erzählen tausende Geschichten von abertausenden Menschen: Plastikflaschen aus Griechenland. Turnschuhe mit riesigen Löchern. Sakkos mit warmer Winterfütterung. Zigarettenschachteln aus der Türkei. Bücher und Magazine auf Arabisch, Dari und Urdu, ein Stofftier, das nur noch ein Knopfauge hat.
„Wir wollen euch nicht!“
Auch andere haben ihre Spuren hinterlassen. „Mach Ungarn nicht schmutzig!“, steht auf Englisch auf einem kleinen Schild. „Geht zurück!“, lautet eine andere Botschaft. „Wir wollen euch nicht!“ All diese Botschaften wurden sorgfältig auf Platten getackert und an Holzstöcken befestigt. Vor einigen Tagen haben Skinheads aus der Gegend ein junges Paar zusammengeschlagen. Seine Hautfarbe war den Schlägern ein bisschen zu dunkel. Als bekannt wurde, dass die schwerverletzten Opfer ungarische Staatsbürger mit arabischen Wurzeln sind, entschuldigte sich die Schlägertruppe und sagte, sie habe sich nur um ihre wunderschöne Puszta gesorgt.
Rechte Gruppen versprechen im Internet, Ungarn von „den Feinden“ zu säubern. Die „Ungarische Nationale Front“ (MNA) will die Grenze des Vaterlandes auf eigene Faust mit Waffen verteidigen. In Sozialen Medien und auf ihrer professionell gestalteten Internetseite posieren vermummte MNA-Kämpfer mit Sturmgewehren und dem Spruch: „Untermenschen unterwandern den ungarischen Lebensraum – wir warten schon auf sie.“
Der Zaun werde auch dieses Problem lösen, heißt es in den Straßen, Bäckereien und Kneipen von Mórahalom: Keine Flüchtlinge, das bedeute auch weniger schlagende Skinheads und kriegerische Nazis.
Die Bäuerin und der Bürgermeister
Die Bäuerin, die das Land direkt an der neuen Grenzanlage in Mórahalom bewirtschaftet, macht sich bei fast 40 Grad in der Mittagssonne Sorgen um ihre Ernte. Sie gönnt sich eine Pause und fährt mit einem nassen Tuch über ihre Stirn. Sie ziert sich ein bisschen über das zu sprechen, was da vor ihrem Kartoffelacker passiert. Dann sagt sie: „Ich finde den Zaun gut. Ich will meine Ruhe haben.“ Immer, wenn ein Militärfahrzeug vorbeifährt, muss sie zehn Sekunden schweigen, um keinen Staub zu schlucken. Vor ein paar Monaten habe sie den Flüchtlingen noch Wasser gegeben und sogar Mitleid empfunden, vor allem für die Kinder. Dann aber seien es zu viele Flüchtlinge geworden.
Seitdem hat die Bäuerin nur noch Augen für die Kartoffeln auf dem Acker ihres Schwiegersohnes. Die hässlichen Exemplare sortiert sie für den Eigenbedarf aus, auf den großen Rest passt sie genau auf. Nicht, dass sich die Flüchtlinge noch bedienen. Die Bäuerin rückt ihr rot-weiß gepunktetes Halstuch zurecht, greift mit ihren Fingern in ihre Haare, um die Frisur aufzulockern. Unter ihren Fingernägeln steckt viel fruchtbare Puszta-Erde. „Die wollen auch gar keine Hilfe, die finden selber den Weg“, sagt sie. Der Zaun direkt am Acker, er werde Ungarn und ganz Europa die ersehnte Ruhe bringen. „Mein Schwiegersohn ist auch dafür.“
Das ungarische Nachrichtenmagazin „hvg“ hat gerade aufgedeckt, dass der Staat das Bauland für den Testzaun zu teuer erworben hat. In Mórahalom hat davon wohl auch der Bruder des Bürgermeisters profitiert. Er ist der Schwiegersohn der Bäuerin.
Der Bürgermeister heißt Zoltán Nógrádi, er lässt sich lange bitten, ist dann aber doch zu einem Gespräch im Rathaus bereit. Der Zaun ist von hier aus eine halbe Stunde Autofahrt entfernt. Dennoch ist das Projekt allgegenwärtig: Militärfahrzeuge dröhnen durch den Ort. „Die Medien lügen, ich sage daher nur noch kurze Sätze“, sagt Nógrádi. Den Grenzzaun am Rande seiner Gemeinde findet der Bürgermeister ausgesprochen gut, denn das Wohl der Bürger müsse im Mittelpunkt stehen. „Zumindest hat niemand eine bessere Lösung für das Flüchtlingsproblem“, sagt der Bürgermeister. Die Bewohner der Puszta würden ja Mitgefühl zeigen, sie seien aber definitiv überfordert mit dem Zustrom aus dem Balkan. Zwei Drittel der ungarischen Bürger unterstützen laut Umfragen die Regierung in ihrem Kurs.
„Wo sind unsere europäischen Partner?“, fragt Nógrádi. Europa habe Mórahalom im Stich gelassen. Der Zaun ist die Lösung, und die anderen EU-Regierungen würden es Ungarn noch danken.
Mexiko, Melilla, Mórahalom
An einer anderen EU-Außengrenze steht schon seit 17 Jahren etwas Vergleichbares. Auch rund um die spanischen Enklaven Melilla und Ceuta in Marokko soll ein Zaun die Flüchtlinge kurz vor ihrem Ziel stoppen. Im Fünfjahrerhythmus wächst diese Grenzanlage weiter in die Höhe. Aber sogar sieben Meter aufgetürmter Maschen- und Nato-Draht hindern die Flüchtlinge kaum an ihrer Reise. An der Grenze zwischen Mexiko und den USA steht seit fast zehn Jahren ebenfalls so eine Anlage. Nirgendwo halten die Zäune der reichen Industriestaaten Flüchtlinge davon ab, ihr Ziel zu erreichen.
Allein auf den elf Kilometern rund um Melilla probieren jedes Jahr Zehntausende die Flucht. Die spanische Polizei versucht sie dann zurück nach Afrika zu drängen und die marokkanische Polizei zieht an ihren Hosen und Haaren – im Auftrag der EU. Dennoch schaffen es dort 6000 bis 7000 Menschen pro Jahr nach Europa.
Am Bahnhof von Szeged, der nächsten größten Stadt von Mórahalom, stehen rund hundert Flüchtlinge. Sie sollen nach dem Willen der Behörden in Züge Richtung Westen steigen. Die meisten stammen aus Afghanistan. Auch die afghanische Drei-Generationen-Familie aus dem Dickicht am Zaun ist dabei. Zwei Tage hat sie im Lager bei Röszke verbracht. Die Polizei hat ihre Fingerabdrücke nicht registriert. Die afghanische Familie will nun auf jeden Fall nach Deutschland.
Große Pflaster kleben auf den Wunden an den Fersen des Großvaters. Freiwillige Helfer verteilen in einer Holzbude am Bahnhof Medizin, Wasser, Schokoriegel, Seife und Zahnbürsten. Der Großvater stellt sich vor: „Mein Name ist Ali.“ Er wäscht sich an einem auf dem Bahnhofsvorplatz aufgestellten Waschbecken das Gesicht. Über den Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze kann er nur lachen: „Wir haben von Afghanistan bis in die EU mehr als nur einen Zaun überwunden.“ Dann fährt ihr Zug Richtung Budapest ein, sie müssen weiter.