Flüchtlinge in Ungarn: Sie kommen nach Europa, aber Europa ist nicht da
Der Landweg in die EU führt viele Flüchtlinge nach Ungarn – wo sie unerwünscht sind und demnächst wie Verbrecher inhaftiert werden sollen. Dazu will Ungarn Premier Viktor Orban eine Mauer zu Serbien errichten.
Ein kleines Feuer brennt neben der Fensterfront, in der Halle der alten Backsteinfabrik sitzen Menschen auf dreckiger Pappe. Omar schläft noch, Jacke und Mütze an, gewickelt in einen Schlafsack. Es ist ein kalter, trostloser Februarnachmittag im serbischen Subotica, doch die lange Reise geht bald zu Ende: Nur wenige Kilometer trennen die Afghanen noch von der Europäischen Union.
Auf der Straße, die in die Innenstadt und dann weiter zur Grenze führt, patrouilliert ab und an ein Wagen der deutschen Bundespolizei. „Bis nach Deutschland ist aber noch ein ganzes Stück“, stellt einer der Jungs fest, nachdem er einen verblüfften Blick auf die gespeicherte Karte in seinem Handy geworfen hat. „Morgen geht’s weiter, inschallah“, antwortet ein anderer.
Die rund 25 Männer aus der afghanischen Gruppe, die vor ein paar Tagen hier ankamen, werden von einem christlichen Verein mit Essen versorgt. „Klar spüre ich, dass man mich auf der Straße so anguckt, als wäre ich vom Mars“, sagt Omar lächelnd, nachdem er aufgeweckt wurde. Die Jungs sammeln sich wieder um das Feuer und machen ihre Essenspakete auf. „Wer weiß, wann es wieder was gibt. In Serbien kann man nicht bleiben, so viel ist sicher“, sagen sie.
Omar ist knapp 30 und kommt aus einem Dorf unweit von Kabul. Als die Taliban 1996 die Macht übernahmen, musste er mit seiner Familie zum ersten Mal fliehen. Er ging nach Pakistan, schloss sein Studium der Betriebswirtschaft ab. Nachdem die Nato-Truppen kurz darauf die Taliban fortjagten, kehrte Omar nach Kabul zurück und gründete ein Bauunternehmen. „Schließlich redeten damals alle vom Wiederaufbau.“
Omars Flucht hatte viele Stationen
Die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung lief zunächst gut, die Firma bekam Aufträge, entwickelte sich. Doch dann geriet wieder die politische Situation außer Kontrolle. Clans, die den Taliban nahegestanden hatten, gewannen erneut an Einfluss, die Lage wurde undurchsichtiger, die Aufträge immer weniger. Vor zwei Jahren bekam Omar die ersten Morddrohungen, Geschäftspartner fingen plötzlich an, den Kontakt zu meiden. „Ich musste gehen“, erzählt er.
Erst floh er über den Iran nach Istanbul, wo er sechs Monate lang in einer Bäckerei Börek rollte, um Geld für die Weiterreise zu verdienen, dann wanderte er über den ganzen Balkan, bis er auf diesem verwahrlosten Fabrikgelände an der serbisch-ungarischen Grenze landete.
Am nächsten Tag überquert die afghanische Gruppe nach einem achtstündigen Marsch den „grünen Streifen“ – und wird auf der anderen Seite prompt von deutschen und ungarischen Polizisten festgehalten. Für die Beamten ist es Routine: Im vergangenen Jahr wurden hier laut Angaben der EU-Grenzschutzbehörde Frontex rund 45 000 Asylsuchende aufgefangen, im ersten Quartal dieses Jahres waren es mehr als 30 000.
Wärmeempfindliche Kameras überwachen die EU-Außengrenzen, sie spüren alle Lebewesen auf und zoomen automatisch heran. Bei flachem Gelände ist die Reaktionsgeschwindigkeit der Grenzschützer extrem hoch. Doch das reicht der ungarischen Regierung nicht: Am vergangenen Mittwoch gab Budapest bekannt, eine vier Meter hohe und 175 Kilometer lange Sperranlage an der Grenze zu Serbien errichten zu wollen.
Geht es nach dem Willen von Premier Viktor Orban, so gehört Omar zu den letzten, die es überhaupt noch schafften. Flüchtlinge will der ungarische Regierungschef demnächst inhaftieren lassen.
Die Flüchtlinge haben kaum etwas zu essen
Omar kam zunächst in die Zelle des Grenzpolizeireviers in der Kleinstadt Ásotthalom, die 2013 den rechtsradikalen László Toroczkai zum Bürgermeister gewählt hat. In den ersten zwei Tagen gab es jeweils nur ein Schinkenbrot, auf das Omar aus religiösen Gründen lieber verzichtete. Danach wurde er in einem der noch offenen Asylbewerberlager untergebracht, das sich im kleinen Ort Bicske, 30 Kilometer westlich von Budapest entfernt und in unmittelbarer Nähe zu Viktor Orbans Heimatdorf Felcsút befindet.
„Die Stimmung war auch dort mies, ich konnte nicht mal den Asylantrag stellen oder jemandem meinen Fall erklären“, erzählt Omar. Asylsuchende bekommen in Ungarn kaum etwas, „deshalb haben wir dort hauptsächlich Reis und Kartoffeln gekocht“. Omar wusste nicht mehr weiter. Jetzt war er in Europa, doch das Europa seiner Vorstellungen war für ihn nicht da. „In Ungarn habe ich gelernt, dass das mit der Demokratie nicht so einfach ist“, sagt Omar und lacht. Wenige Tage später nahm er einen Zug nach Deutschland. Er hatte wieder Glück: Niemand hat ihn unterwegs kontrolliert.
Als Omar in München ankam, fragte ein Beamter nach seinen Papieren. „Ich war erleichtert“, gibt er zu. „Man kann sich nicht ewig verstecken.“ Omar wurde in einem Flüchtlingslager in Thüringen untergebracht. Dort wartet er seit März, dass das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Entscheidung trifft. Die Bedingungen sind „anständig, nicht wie in Ungarn“. Er lernt Deutsch. Er hat sich ein internetfähiges Handy besorgt und kann endlich mit seiner Familie kommunizieren. Er hat kürzlich zum ersten Mal Berlin besucht, die Vielfalt der Stadt gefiel ihm.
Wenn Omar zurück nach Ungarn deportiert wird, droht ihm wohl die Inhaftierung. Doch eben wegen dieser willkürlichen Inhaftierungspolitik sei eine Rückabschiebung nach Ungarn nicht mehr mit den internationalen Gesetzen vereinbar, lautete etwa vor einigen Monaten das Urteil eines Gerichts in Berlin. Falls Omar doch in Deutschland bleiben darf, will er sich wieder selbstständig machen – und ein freier Mensch sein.
Silviu Mihai