Nach den Anschlägen von Paris: "Charlie Hebdo" und das kaputte Frankreich
Sie ist eine der bestbeschützten Frauen Frankreichs. Zineb El Rhazoui schreibt für „Charlie Hebdo“. Seit den Anschlägen vor genau sechs Monaten kämpft das Land um die Zukunft der Republik – und mittendrin die kleine Redaktion.
Wer die wohl berühmteste Redaktion der Welt besuchen darf, muss vorbei an einem kastenförmigen Bodyguard. „Hände hoch“, sagt der Mann, guckt freundlich und tastet den Besucher mit den Worten ab: „Traurig, aber nötig.“ Dann darf man hinein in das Gebäude und hoch bis knapp unter die Dachterrasse, wo die wohl best bewachte Frau Frankreichs schon wartet. Zineb El Rhazoui ist Reporterin bei „Charlie Hebdo“, und ihren Personenschutz wird sie vielleicht ihr ganzes Leben nicht mehr los.
Gerade hackt sie auf der Tastatur ihres Laptops einen neuen Text zum Thema Islamismus. Dann blickt Sie auf, sagt „Salut“ und lächelt. Etwas später wird sie diesen einen Satz sagen, der sie – und den gesamten Konflikt – schon ganz gut beschreibt: „Ich verteidige die Werte der Republik – und zwar an vorderster Front.“
Seit dem Mordanschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ Anfang Januar, hört man in Frankreich solche Kampfansagen oft. Das Attentat hat das Land verändert. Die Republik versinkt in einem Glaubensstreit: Befürworter und Gegner von „Je Suis Charlie“ sehen sich gleichermaßen als Verteidiger der Demokratie. Sie sprechen von einem Frontenkrieg um die Identität Frankreichs. Und mittendrin in diesem Kampf steht diese kleine Redaktion – mit ihren Ansprüchen, ihrem Glaubensbekenntnis, ihrem Trauma.
Es ist der 7. Januar, als Paris die schwerste Anschlagsserie seiner Geschichte trifft. An drei Tagen ermorden die Brüder Kouachi und ihr Komplize Amedy Coulibaly im Namen von Al Qaida und dem „Islamischen Staat“ elf Menschen in den Redaktionsräumen von „Charlie Hebdo“, erschießen zwei Polizisten auf der Straße und vier jüdische Bürger in einem koscheren Supermarkt. Ein halbes Jahr später versucht „Charlie Hebdo“ im Gebäude der linken Zeitung „Libération“ zurück zum Alltag zu finden. Und seiner „Verantwortung gegenüber der Republik“ gerecht zu werden.
Nur wie soll das gehen?
Zineb El Rhazoui zuckt mit den schmalen Schultern. Der Energie, die diese Frau ausstrahlt, kann sich niemand entziehen. „Ich habe eine große Fresse, Charlie Hebdo hat auch eine große Fresse. Das passt.“ Neben ihr hängen an der Glaswand Skizzen der aktuellen Ausgabe: Dominique Strauss-Kahn mit Spermaflecken auf der Hose, daneben mit einer übertriebenen Erektion und die Karikatur einer Burkaträgerin aus deren Anus eine Faust entspringt, die mitten in das Gesicht eines Dschihadisten trifft. Es ist eine Ausgabe, die den Slogan von „Charlie Hebdo“ radikal umsetzt: „verantwortungslose Zeitung“. Große Fresse eben.
Nur Barack Obama wird strenger bewacht
Als die beiden maskierten Terroristen an jenem Vormittag um 11.30 Uhr die Redaktion in der Rue Nicolas Appert stürmten, machte Zineb El Rhazoui bei ihren Eltern in Marokko Urlaub. Damals hat sie stundenlang geweint, jetzt möchte sie keine Schwäche mehr zeigen. Dabei rufen mehrere Fatwas von radikalen Predigern zum Dschihad gegen die Charlie-Journalistin auf. Islamisten haben angekündigt, sie köpfen, verbrennen oder erschießen zu wollen. Wenn Barack Obama zum Staatsbesuch kommt, gilt für ihn Sicherheitsstufe 1. El Rhazoui hat dauerhaft Sicherheitsstufe 2.
Sie zieht mit ihrer Nase den Rotz hoch, eine Dauererkältung hat sie fest im Griff. Immer wenn es geht, entflieht sie dem Büro auf die Dachterrasse. Dann saugt sie genüsslich an ihren dünnen Mentholzigaretten und legt umgeben von ihren muskulösen Bewachern die Beine hoch. Das Attentat hat auch ihr Leben radikal verändert. Sie muss sich vor der Öffentlichkeit abschotten und steht gleichzeitig wie nie zuvor im Rampenlicht Hochglanzbilder der schlanken, lächelnden, hochmütigen Journalistin schmücken regelmäßig Magazine und Zeitungen. Sie posiert oft und gerne. Aber: Kurz einmal alleine im Supermarkt einkaufen, das ist nicht mehr drin.
Über dieses Leben, ihr Inneres, spricht sie nicht viel. Dafür stellt sie die harte Hülle zur Schau. Es ginge ja in erster Linie darum, die Wahrheit aufzuschreiben. Und diese, ihre Wahrheit, sagt sie selbstbewusst, finde sie auch mit den Bodyguards im Rücken. Sie redet laut, gestikuliert, ballt die Faust zusammen, wenn es um ihre Feinde, die Islamisten und all die anderen Frommen, geht.
Zineb El Rhazoui, 33 Jahre alt, fühlt sich bedroht, ist fest überzeugt: Die Attentate vom Januar sind nur der Beginn gewesen. Und als vor ein paar Tagen bei Lyon ein mutmaßlicher Islamist einen Industriellen köpfte, bestätigte dies ihre Befürchtungen. In Libyen bilde der „Islamische Staat“ 5000 Dschihadisten aus und schicke sie als Flüchtlinge getarnt über das Mittelmeer, behauptet El Rhazoui. Frankreich, Deutschland, Großbritannien, ganz Europa werde in den nächsten Jahren eine Welle des Terrors erleben. Beweise hat sie nicht, aber sie wisse es, und deshalb müsse sie es immer wieder sagen und schreiben. Das ist der Kern der Wahrheit, den sie in die Welt tragen will. Aus Überzeugung. Andere finden: aus ideologischer Verblendung.
Ist "Charlie Hebdo" rassistisch?
Zineb El Rhazoui ist Halbmarokkanerin mit französischer Staatsbürgerschaft. Und sie war, vor allem aus ihrer Perspektive, immer Widerstandskämpferin, bereit, für ihre Überzeugungen Grenzen zu überschreiten. Stundenlang erzählt sie Anekdoten von ihrer Zeit in Marokko: Im Wald zwischen Casablanca und Rabat, dort wo sie sich in Sicherheit wähnt, versucht sie mit Freunden am helllichten Tag im Ramadan das Fasten und die religiösen Gesetze zu brechen. Sie kündigt ihre Aktion auf Facebook an, wird aber noch am Bahnhof vom Geheimdienst abgefangen.
Die Polizei nimmt sie fest wegen Beleidigung des Islams. Damals schon bekommt sie Morddrohungen von Islamisten. Die Presse empört sich über die „Ungläubige“. Mit den Jahren ist für Zineb El Rhazoui Laizität zum höchsten Gut geworden: „Religion gehört in die Privatsphäre.“ In der Öffentlichkeit dürften weder Gottes Gesetze noch religiöse Traditionen gelten. Dafür kämpft sie.
Es ist ein undurchschaubarer Kampf geworden, den die Redaktion von „Charlie Hebdo“ führt – und ganz Frankreich mit ihr oder gegen sie. Das kleine Satiremagazin ist zur großen Projektionsfläche für eine Gesellschaftsdebatte geworden.
Frankreich zählt weiter auf Charlie. So wie es nach dem Anschlag ranghöchste Politiker gefordert haben. Bei Charlie werde die Demokratie, werde die Republik, ja die Freiheit des Westens verteidigt. Präsident François Hollande hat das verkündet, und etliche Politiker und Prominente im Land haben es ihm nachgetan. Unter dem Hashtag #JeSuisCharlie solidarisierte sich die halbe Welt mit dem Satiremagazin. Wie auch die vier Millionen Franzosen, die am Sonntag nach den Attentaten auf die Straße gingen und „Je suis Charlie“ riefen.
Die Krise innerhalb der Redaktion
Zwar bleiben mittlerweile immer mehr Exemplare der mittwochs erscheinenden Satirezeitung in den Kiosken liegen, doch eine deutliche Mehrheit ist weiterhin Charlie.
Chefredakteur Gérard Biard lässt sich auf einen Stuhl in der Ecke der Cafeteria fallen. Er ist ein kleiner, eher unauffälliger Mann. Schlichtes blaues Hemd mit kurzen Ärmeln, selbsttönende Lesebrille, Halbglatze. Das kahle Foyer mit Suppen-, Kaffee- und Snackautomaten dient als Besprechungsraum für seine Redaktion. In Sichtweite sonnt sich Zineb El Rhazoui auf der Terrasse.
Gérard Biard wird nicht so streng bewacht wie seine Kollegin. „Ich zeichne ja nicht, schreibe auch nicht so oft“, sagt er. Biards Gelassenheit passt irgendwie nicht zur Situation. Er fühle sich permanent beobachtet und wisse, dass Fernsehsender viel Geld zahlen würden, wenn sie in seiner Redaktion eine Reality-Show drehen dürften. Gérard Biard sagt leise: „Ich hoffe sehr, dass sich alles irgendwann mal beruhigt.“ Er seufzt.
Der 56-jährige Biard weiß, er kommt aus dieser Geschichte nicht mehr raus. Nach 23 Jahren beim Satiremagazin hat der Tod der Kollegen und Freunde sein Schicksal besiegelt. Und dann sagt auch er diesen einen Satz, den sie hier offenbar alle verinnerlicht haben: „Ich lebe für Charlie Hebdo und verteidige die Republik – an vorderster Front.“ Jahrelang waren sie wegen schwacher Auflage vom Ruin bedroht, nun sind sie plötzlich Speerspitze der Demokratie.
Gérard Biard wirkt ernst wie ein Berufspolitiker. Der Satiriker scherzt selten. Wenn er gefragt wird, wie er mit dem Druck umgehe, weicht er mit einem kurzen Lacher aus. Noch ist er nicht bereit, darüber zu sprechen wie ihn das Attentat verändert hat. Nur dass ihn seit Monaten heftige Kopfschmerzen verfolgen, gibt er zu. Zur Zeit des Anschlags hatte er mit seiner Frau Urlaub in London gemacht. Kopfschmerzen bereitet Biard auch, dass er keine geeigneten Nachfolger findet für Charb, Wolinski, Cabu, Tignous und Honoré, seine ermordeten Zeichner.
Gemeinschaftsgefühl für die Mehrheitsgesellschaft
Während Biard mit seiner kleinen Redaktion um Normalität kämpft, verändert sich allmählich die öffentliche Meinung in Frankreich. Eingeläutet hat diesen Umschwung eine gezielte Provokation von Emmanuel Todd. Der Anthropologe hat Anfang Mai, ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Wer ist Charlie?“. Seine Antwort gefiel vielen nicht. Todds Thesen lauten: Die Unterstützer von „Charlie Hebdo“ seien „katholische Zombies“, die ihren Glauben aufgegeben hätten und in Frankreich Blasphemie als Staatsraison ausrufen würden. Diese übertriebene Laizität richte sich gegen religiöse Minderheiten, vor allem gegen Muslime und Juden, und „Charlie Hebdo“ sei mehr eine rassistische als eine satirische Zeitung.
Todds Buch markierte das inoffizielle Aus für das Gemeinschaftsgefühl rund um #JeSuisCharlie.
Chefredakteur Biard spürt, dass sich die Stimmung in Paris wandelt. Er will die Sache nicht größer machen als sie ist: „Da versucht jemand verzweifelt, Bücher zu verkaufen und Geld mit unserem Verlust zu machen.“ Aber der Vorwurf nagt an ihm. Rassistisch seien diejenigen, die „Charlie Hebdo“ als rassistisch diffamieren, sagt Biard. Er guckt zu seiner Reporterin hinüber und ruft: „Nicht wahr Zineb?“ Sie brüllt von der Terrasse ganz charliemäßig zurück: „Scheiß Rassisten-Hurensöhne sind das!“
Dass seine Zeitung von den Rechtsextremen gefeiert wird, weiß Biard. „Dabei greifen wir Marine Le Pen und ihren Front National schärfer an als je zuvor.“ Sie zeichnen den Vater Jean-Marie Le Pen nun als halbtotes Monster, seine Tochter nicht selten mit Hitlerbärtchen – manchmal über ihrer Vagina platziert.
Um zu verstehen, wie zerrissen Frankreich ist, muss man nur den Fernseher oder das Radio einschalten und bei einer der so beliebten Talkrunden zuhören. Die Stimmen der Kommentatoren klingen heiser, die Gäste haben ihre Argumente bereits dutzendfach vorgebracht, die Meinungsmacher wiederholen sich – und die zentralen Fragen sind weiter offen: Wie soll Frankreich mit den Migranten umgehen? Wie viel Islam steckt im Islamismus? Wer sind wir?
"Das sind alle sowieso nur Huren"
Schon zehn Stunden nach dem ersten Schuss haben sie genau die selben Fragen gestellt. Die Radiotalkrunde am Abend des 7. Januar 2015, die unter dem Schock der Attentate angesetzt wurde, sollte zeigen, wo die Fronten in Frankreich verlaufen. Im Studio nahm Rokhaya Diallo neben Ivan Rioufol zur besten Sendezeit Platz. Die muslimische Journalistin aus dem Pariser Arbeiterviertel und der bürgerlich-katholische Kolumnist streiten seit Jahren über Frankreichs Probleme.
Während der Talkshow liefen im Fernsehen die Eilmeldungen über die fliehenden und mordenden Terroristen am unteren Bildschirmrand. Da zeigte plötzlich Ivan Rioufol mit dem Finger auf Rokhaya Diallo und schrie: „Distanzieren Sie sich! Distanzieren Sie sich jetzt!“ Die anderen Studiogäste griffen ein, empörte Schreie und dann plötzlich – Stille. Tränen liefen über das Gesicht von Rokhaya Diallo. Da saß sie, die personifizierte Minderheit, und heulte vor dem weißen, alten Mann, während draußen Terroristen töteten.
Die Nerven im Studio, in Paris, im ganzen Land lagen blank. Zehn Stunden nach dem Attentat symbolisierte diese Szene, was Frankreich aufzuarbeiten hat.
Näher sind sich die Seiten in den vergangenen sechs Monaten nicht gekommen, im Gegenteil.
Alle kämpfen - an vorderster Front
Das Pressehaus der rechtskonservativen Tageszeitung „Le Figaro“ steht im schicken neunten Arrondissement umgeben von massiven Gebäuden und Prachtboulevards aus dem 19. Jahrhundert. Und selbst hier, im sonnigen Hofgarten von „Le Figaro“, muss wieder dieser eine Satz herhalten. Dieses Mal ist es Ivan Rioufol, der sagt: „Als Journalist verteidige ich die Republik – an vorderster Front.“ Wenn man die Wahrheit ausspreche, werde man in Frankreich als Rassist dargestellt. Ivan Rioufol gibt sich als Mann, der alles weiß. Und dem viele Leser vertrauen. Zweifel sind ihm fremd. Er habe seit mehr als zehn Jahren darauf hingewiesen, dass solch ein Attentat anstehe. „Ich wünsche mir das alte, starke Frankreich wieder“, sagt er. Das erfolgreiche Frankreich aus dem 19. Jahrhundert, das im Stadtbild von Paris verewigt ist, und zu dem die Welt aufgeschaut habe. In einem solchen Staat könne der radikale Islam einpacken, dann würde sich keine Religion mehr über die Republik stellen.
Für solche Visionen hat Rokhaya Diallo nur ein Kopfschütteln übrig. Für ein Treffen hat sie die „Place de la Bataille de Stalingrad“ vorgeschlagen. „L’Afrique, c’est chic!“ steht auf ihrem T-Shirt, ihre Fingernägel hat sie rot lackiert, die Spitzen ihrer kurzen Haare blond gefärbt. Einmal im Jahr organisiert sie einen Preis für den größten Rassisten im Land. Sie gehört auch zu den Wütenden – aber subtiler, leiser als Zineb El Rhazoui. Bei der Talkshow habe sie geweint, weil man sie in eine Ecke mit Mördern gestellt habe. Das gehe ihr nahe. Ivan Rioufol sei „die Inkarnation der weißen Medienelite“, die das multikulturelle Frankreich nicht akzeptieren könne. Sie sei Französin. Aber sie sei nicht Charlie. Denn „Charlie Hebdo“ sei rassistisch. Und sie verstehe es als ihre Pflicht, dies anzuprangern.
„Ich kämpfe an vorderster Front – für die Republik“, sagt sie. Natürlich.
Zineb El Rhazoui hat nur noch eine Zigarette in der grünen Schachtel liegen. Sie zündet sie an, findet, in Frankreich könne jeder sagen und tun was er will. Sogar Muslime hätten hier mehr Freiheiten als in islamischen Ländern, sie würden es nur nicht merken: „Bartträger sind zu doof dafür.“ Es wurmt sie schon, dass sie als Rassistin dargestellt wird. „Ich bin doch keine Françoise mit goldenen Locken“, sie zieht an ihren schwarzen Haaren als Beweis. Aber man merkt Zineb El Rhazoui ihre Wut an, sieht sie an ihrer geballten Faust, ihrer vegrippten, lauten, zitternden Stimme. Und an diesem Satz, der zeigt, das die Spaltung Frankreichs unüberwindbar scheint, wie kaputt das Land ist: „Die Rokhaya Diallos dieser Republik sind doch nur Huren.“
Seit den Anschlägen herrscht Meinungskrieg in Frankreich. „Charlie Hebdo“, seine Gegner und Kritiker – sie werden weiter kämpfen. Alle an vorderster Front.