Frankreichs Banlieues: Wie Architekten und Stadtplaner Frankreichs Vorstädte verändern woll(t)en
Französische Vorstädte gelten als Brutstätte der Gewalt – und seit dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ sogar des Terrorismus. Architekten und Stadtplaner wollen das ändern, sind aber schon mal gescheitert. Denn das Problem lässt sich nicht einfach bunt anmalen. Ein Report.
Drei Männer Mitte 20 sitzen auf einem verdreckten Spielplatz in der Cité Muguets vor den Toren von Paris, einer schwarz, der andere Jude, der dritte Araber. Um sie herum brennt es. Aufgebrachte Jugendliche protestieren gegen Polizeigewalt; ein „Flic“, ein Bulle, hat einen von ihnen getötet, wieder mal. Doch den drei Freunden ist bloß langweilig. Sie klatschen im Rhythmus in die Hände und dealen ein bisschen mit Drogen – um die Gasrechnung der Familie bezahlen zu können.
Saïd, Vinz und Hubert heißen die Protagonisten in „La Haine“ (Hass) von Mathieu Kassovitz. Schwarz-weiß gedreht und so realistisch wie brillant inszeniert, gewann der Film aus dem Jahr 1995 Dutzende Preise, etwa in Cannes. Er gilt als cineastischer Meilenstein. In Frankreich sorgte er für einen Aufschrei, und eine internationale Öffentlichkeit wurde durch ihn das erste Mal aufmerksam auf das vielleicht größte Problem, mit dem das Land zu kämpfen hat, bis heute. „La Haine“ ist nicht nur ein Porträt der jungen Franzosen, die sich wirtschaftlich und sozial abgehängt fühlen. Sondern auch der trostlosen, dysfunktionalen Orte, an denen sie leben: der Banlieues, den Vorstädten.
Die Randgebiete der Metropolen ähneln sich, egal ob in Paris, Marseille oder Lyon. Hier wie dort reiht sich ein Wohnhochhaus an das andere. Die Siedlungen wurden in den 50er und 60er Jahren hochgezogen, um vergleichsweise komfortablen Wohnraum zu schaffen für die Industriearbeiter im damals boomenden Frankreich, viele von ihnen Einwanderer. Das ging schnell und war praktisch, aber nicht durchdacht. Als es mit dem Nachkriegsaufschwung vorbei war und die Wirtschaft erlahmte, verkamen die Banlieues zu Ghettos, Orten der Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität, die schon auf den ersten Blick genau so aussehen. Gleichförmig, betongrau, heruntergekommen.
20 Jahre nach „La Haine“ und zehn Jahre nachdem der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy junge Unruhestifter in den Banlieues als „Abschaum“ bezeichnete, sind die Vorstädte nun wieder in der Diskussion. Ausgelöst haben die Debatte die Attentate vom Januar dieses Jahres. Denn Amédy Coulibaly, der den Angriff auf „Charlie Hebdo“ plante und einen koscheren Supermarkt überfiel, machte seine ersten Schritte als Kleinkrimineller in der Banlieue Grigny südlich von Paris.
Als wäre das Image der Vorstädte nicht schon schlecht genug – mit einer bestimmten Postleitzahl im Lebenslauf werden Bewerber bei Stellenangeboten automatisch abgelehnt –, gelten sie nun auch noch als Brutstätten des Terrors. Und in Frankreich fragt man sich, wie sich die Situation verbessern lässt.
Mit Farbe, An- und Abbauten, glaubt Roland Castro. Der Architekt, Jahrgang 1940, ist in Frankreich ein Star seines Fachs. Er wirkt wie eine Diva, trägt schräg gestreifte Anzüge, und wenn er seine Erkenntnisse vorträgt, klingt es wie eine Predigt. „Ich will die Ghettos aufbrechen“, sagt er. Castro entstammt der Linken, er verbindet politische Ideen mit urbanen Visionen, in seiner Heimat wird er als „aktivistischer Architekt“ bezeichnet. Er ist der bekannteste Kämpfer für eine Umgestaltung der Vorstädte. Umzubauen, behauptet er, sei 40 Prozent günstiger als Siedlungen neu zu errichten. Sein Ziel für die Banlieues: mehr Schönheit und Kraft.
In Castros Plänen wimmelt es von grünen Punkten. Neue Gärten und Parks sollen die Lebensqualität erhöhen. Tatsächlich fehlt es in den Banlieues an Grün, jede Topfpflanze fällt zwischen dem Grau auf. Und wenn es doch mal einen Park gibt, dann kann er flächenmäßig kaum mit einem Berliner Innenhof mithalten. Umso größer sind die Dimensionen, in denen Castro denkt. In Courneuve im Departement Seine-Saint-Denis nördlich von Paris will er zum Beispiel ein riesiges Waldgebiet – mehr als 400 Hektar, doppelt so groß wie der Tiergarten – in einen Park umwandeln und mit den angrenzenden Vororten verschmelzen.
Castro ist nicht nur Vordenker, er hatte schon mehrfach die Möglichkeit, seine Ideen umzusetzen. Anfang der 80er Jahre scharte er andere Architekten und Urbanisten der 68er-Generation um sich und gründete den Verein „Banlieues 89“. In sechs bis acht Jahren wollte die Gruppe das Angesicht der Vorstädte revolutionieren.
Castros Vorzeigeprojekt: Eine Siedlung nördlich von Paris
Bei einem Tête-à-Tête mit dem damaligen Präsidenten François Mitterrand gelang es Castro, die Politik auf seine Seite zu ziehen. Seitdem verspricht der Banlieue-Umbau auch gigantische Fördergelder. Mitterrand nahm „Banlieues 89“ in sein politisches Portfolio auf, er schuf sogar den Posten eines Stadtentwicklungsministers. Das lag nicht nur an Castros Überzeugungskraft. Die Probleme in den Banlieues wuchsen, der rechtsextreme Front National feierte erste Erfolge, die Polizeigewalt ließ sich nicht eindämmen. Beim „Marsch der Araber“ auf Paris forderten 1983 Hunderttausende die Aufarbeitung von Rassismus und strukturellen Diskriminierungen.
Probleme, die Roland Castro gewiss nicht lösen kann. Aber welchen Beitrag kann er mit seiner Architektur leisten?
Der Umbau von „La Caravelle“ ist eines der Vorzeigeprojekte des Büros, das Castro mit seiner Kollegin Sophie Denissof aufgebaut hat. 2,2 Millionen Menschen wohnen in Paris, in der Peripherie – dazu zählen auch die bürgerlichen Vororte – sind es zehn Millionen. Eine typische Banlieue ist Villeneuve-la-Garenne, nördlich der Hauptstadt gelegen, direkt am Seine-Bogen. Dort befindet sich „La Caravelle“. Die Siedlung ist bekannt als „Le Blanc“, wegen ihrer weißen Fassaden. Errichtet wurde sie Ende der 50er Jahre als ein isolierter Block, wie eine eigenständige Stadt – für 26 000 Menschen, die dort auf engstem Raum untergebracht wurden.
In „La Caravelle“ gibt es ausschließlich HLM-Wohnungen. Im Französischen benutzt man für unangenehme Dinge gerne Abkürzungen: HLM steht für „Habitation à Loyer Modéré“. Moderate Mieten – das meint etwas kryptisch ausgedrückt Wohnraum für die Unterschicht. Eine Archivsuche mit dem Stichwort „Caravelle“ ergibt dementsprechend fast nur Polizeiberichte: Totschlag, Schießereien, Drogenhandel, Polizeigewalt, Armut.
Um die Jahrtausendwende nahm sich Roland Castro des Viertels an, vor etwa zehn Jahren war der Komplettumbau fertig. Aus der einen großen Cité wurden neun Quartiers, also eigenständige Viertel. Dafür wurden großzügige Schneisen in die riesigen Wohnblöcke geschlagen. Hunderte Wohnungen – obwohl diese Mangelware im Pariser Großraum sind – wurden niedergerissen, um den Menschen mehr Raum, mehr Luft zu verschaffen. Es wurden Bäume gepflanzt. „Ästhetik ist kein Luxus“, sagt Castro.
Es sieht jetzt schöner aus in „La Caravelle“. Für Roland Castro gibt die Siedlung die Richtung für die Banlieue-Politik vor. Andere Großprojekte, die er in unzähligen Interviews beschreibt, wurden allerdings nicht realisiert. Mehr als 30 Jahre nach „Banlieues 89“ sprechen Politiker und Planer in Paris weiter vom Aufbruch „da draußen“. Die Arbeitslosigkeit in Villeneuve-la-Garenne liegt derweil noch immer bei konstant über 16, teilweise über 18 Prozent – und damit deutlich über dem nationalen Durchschnitt von etwa zehn Prozent.
Die Grenzen dessen, was Architektur leisten kann, zeigt auch ein anderes Beispiel. Im April wurde die „Petite Bibliothèque Ronde“ in einer Banlieue im Süden von Paris verwüstet – zum dritten Mal innerhalb nur eines Jahres. Das Gebäude steht auf einer Liste historischer Baudenkmäler, mit seinen runden Sälen und dem Mobiliar von Alvar Aalto ist es ein Schmuckstück moderner Architektur. Und sollte eigentlich ein Symbol dafür sein, dass sich der Staat kümmert – und sozialer Aufstieg möglich ist. Dennoch wurde das Gebäude zum Anschlagsziel, so wie viele Dutzend Banlieue-Bibliotheken in den vergangenen Jahren. Vielleicht ist es bloß Vandalismus, vielleicht Protest gegen die vermeintlichen Segnungen, die Planer von außerhalb den Banlieues angedeihen lassen wollen.
Was tut die Politik, um die Probleme in den Vorstädten zu lösen? Unter dem konservativen Präsidenten Jacques Chirac hatte die Regierung im Jahr 1996, als „La Haine“ die Debatte bestimmte, einen Aktionsplan verabschiedet, der sogenannte „Sensible Urbane Zonen“ identifiziert. Davon gibt es in Frankreich 751. Der derzeitige Präsident François Hollande ließ das Programm vor Kurzem in „quartiers prioritaires“ umtaufen. Im Kern geht es noch immer um Stadtviertel und Vorstädte, die besondere Aufmerksamkeit bekommen sollen: Prioritätensetzung per Gesetzesblatt mit einem Budget von zunächst sechs Milliarden Euro.
Das Schlüsselwort dabei heißt „mélange“. Die sozialen Milieus sollen sich durchmischen. Mittelstandsfamilien in die Vorstädte ziehen, Familien aus sozial schwachen Verhältnissen in die Stadt.
Ein wichtiger Schritt: Die bessere Verkehrsanbindung
Das aber wäre das Ende einer langen, mächtigen Tradition. Dass sich die Probleme nicht allein mit Umgestaltungen und Verschönerungen lösen lassen, liegt an den spezifisch französischen Stadtstrukturen.
Die Historikerin Annie Fourcaut arbeitete die Geschichte der französischen Arbeiterviertel im 20. und 21. Jahrhundert an der „marge de la ville“ – also an der Peripherie der Stadt – auf. Schon Ende des 19. Jahrhunderts, schreibt sie, wurde „draußen“ für die Arbeiter gebaut. Anders als in den USA oder Großbritannien, wo Bürgertum und Mittelklasse vor den Toren der Stadt wohnten, um Lärm und Dreck fern zu bleiben. Im französischen Bewusstsein gehörte und gehört die Bourgeoisie ins Zentrum.
Wegen dieser klaren Aufteilung spiegelt sich in Frankreichs Städten heute der Rassismus der Gesellschaft. Vor den Toren der Metropolen sammeln sich die, die nicht weiß sind, unter ihnen – anders als in Deutschland – nicht nur „Gastarbeiter“, sondern auch ehemalige Zwangsarbeiter, Söldner und sehr viel mehr „sans papiers“, Migranten, die auf illegalen Wegen ins Land gekommen sind.
Eine Szene aus „La Haine“ zeigt Hubert, Sohn von Einwanderern aus Benin, wie er aus dem Fenster eines Vorstadtzuges blickt. Mit seinen zwei Kumpels fährt er ins Stadtzentrum. Dort stellt Saïd, der Araber, erstaunt fest, siezen einen die Polizisten sogar! Draußen und drinnen sind andere Welten.
Die deutsche Hauptstadt, erklärt Noa Ha von der TU Berlin, zeichne sich dagegen durch eine viel stärkere Kiezstruktur aus, also durch einzelne Viertel mit eigenem Charakter und unterschiedlicher sozialer Struktur. Die Stadtforscherin war als Teil ihrer urbanen Feldforschung auf den Straßen und Bahnhöfen der Banlieues unterwegs. Sie sah meist schwarze Menschen, People of Color, die in Vorortzüge des „Réseau Express Régional“ (RER) stiegen und zu den meist weißen Menschen ins Zentrum fuhren, um zu bauen, zu putzen, zu bewachen. Arbeitskräfte, die nach Feierabend unsichtbar bleiben – und wohl auch unsichtbar bleiben sollen.
„Es ist eine Segregation: Im Zentrum leben die Reichen mit allen Ressourcen und Angeboten, die eine Stadt zu bieten hat. In der Peripherie leben die Armen, manchmal fehlt dort sogar ein Mindestmaß an öffentlicher Dienstleistung, die Bildung, die Kulturangebote, Nah- und Fernverkehrsverbindungen – die ja oft ausfallen oder zu spät kommen – lassen zu wünschen übrig“, sagt Ha.
Besonders die Anbindung der Banlieues ist ein wichtiges Thema. Aus Paris kann man nicht mal schnell ein kieziges Berlin machen. Dennoch: „Die Lösung heißt polyzentrische Stadtentwicklungspolitik“, sagt Philippe Yvin. Er ist Leiter des größten Projekts, das Frankreich in den letzten Jahrzehnten gesehen hat: „Le Grand Paris“. Auch Architekt Roland Castro ist daran beteiligt.
Das Vorhaben soll rund 26 Milliarden Euro kosten und betrifft neun Millionen Menschen. Führerlose U-Bahnen sollen auf mehr als 100 Kilometern 69 neue Haltestellen unterirdisch verbinden. Auch Villeneuve-la-Garenne soll besser angebunden werden. Die Finanzierung steht, seit einigen Monaten wird gebuddelt, Auftakt ist die Anbindung von Clichy-sous-Bois, des alten U-Bahnsystems an das neue Netz. Bis 2030 sollen dann ein großer U-Bahn-Ring und vier neue Linien die Vororte untereinander verbinden und vom Zentrum emanzipieren.
Die Regierung möchte also weg vom logistischen Zentralismus, hin zur infrastrukturellen Aufwertung der Vorstädte. Der Nahverkehr rund um die Hauptstadt ist über Jahrzehnte sternförmig gewachsen. „Das Nahverkehrssystem RER war in den 80er Jahren ein guter Ansatz, die Vorstädte mit dem Zentrum zu verbinden“, sagt Projektleiter Yvin. Nun wolle man vom Stern zur Galaxie gelangen – eine Verbindung vieler Sterne. Die seit einigen Jahren umgesetzte Rückkehr zur Tram hätte die Anbindung der Banlieues schon revolutioniert.
Man muss in einigen Vororten nicht mehr nach Paris reinfahren, um in einen anderen Vorort zu gelangen. Doch auch der polyzentrische Ansatz verschiebt so manche Priorität, wie Yvin sagt: „Man braucht dann nicht jede Dienstleistung, keine Uni, kein Theater direkt vor der Haustür in der Banlieue.“
Die Fahrzeit von Clichy-sous-Bois oder Villeneuve-la-Garenne zu den großen Universitäten von Paris würde sich teilweise von eineinhalb auf eine halbe Stunde verringern. Auch sonst hat Philippe Yvin für das wirtschaftlich gebeutelte Frankreich nur gute Nachrichten parat: Allein durch die Projektumsetzung soll die Wirtschaft in den nächsten Jahren um zehn Prozent wachsen. Und die Bewohner der Vororte sollen vor allem von neuen Arbeitsplätzen profitieren.
Es klingt wie damals zu Zeiten von „Banlieues 89“. Für die Bewohner der Vorstädte kann man nur hoffen, dass sich dieses Mal wirklich etwas verändert.