50. Geburtstag der Tennis-Legende: Boris Becker - Aufstieg und Fall eines Idols
Sein Killerinstinkt auf dem Tennisplatz ist legendär. Im Privatleben kennt Boris Becker genauso wenig Gnade. Und die Nation erkennt ihren Helden nicht wieder.
Dieses Jahr im Mai, bei den French Open in Paris. Charly Steeb ruft an: „Heute Abend trinken wir mit Baron noch einen an der Hotelbar, du bist doch dabei?“ Markus Zoecke zuckt kurz und denkt: Weiß der gar nicht, dass wir seit zehn Jahren nicht miteinander reden?
Baron, das war mal Boris Beckers Spitzname, für die engsten Freunde auf dem Tennisplatz. Für Männer wie Charly Steeb. Oder den Berliner Markus Zoecke, der es auch mal auf Platz 48 der Weltrangliste gebracht hat. Er nannte Becker Baron „und er mich Goli, wie Goliath“, mit seinen 1,95 Metern überragt er Becker um fünf Zentimeter.
Zoecke ist immer noch eine beeindruckende Gestalt, mit breiten Schultern und jungenhaftem Lächeln. Allein die grauen Stellen im Bart deuten darauf hin, dass er bald 50 wird. Heute arbeitet er als Club- und Sportdirektor für den LTTC Rot-Weiß im Grunewald. Eine Knieoperation steht an, späte Folge der Tenniskarriere, aber vorher findet sich noch Zeit, um bei bester Sicht auf den Centre-Court über die Zeit mit Boris Becker zu plaudern. Über den Taufpaten seiner jüngsten Tochter, „einen Freund, der für mich wie ein großer Bruder war“. Aber auch über den anderen Becker, kaum fähig zu echter Freundschaft, „denn dazu gehört doch, dass man sich auch mal kritische Sachen sagt. Boris wollte nur Ja-Sager um sich herum haben.“
"Er hat in Deutschland eine Tennis-Hysterie ausgelöst"
Markus Zoeckes verblühte Freundschaft zu Boris Becker steht exemplarisch für die Beziehung der ganzen Nation zu dieser Jahrhundertgestalt, die am Mittwoch ein halbes Jahrhundert alt wird. Für das Auf und Ab, für die Begeisterung und die Enttäuschung. Die Deutschen haben mit Becker gefeiert und gelitten. Bei drei Wimbledonsiegen und zwei Triumphen im Davis-Cup. Bei Matchbällen, die er mit Netzrollern abwehrte oder mit Doppelfehlern vergab. Wenn Becker am anderen Ende der Welt mitten in der Nacht aufschlug, wurden zwischen Flensburg und Füssen die Wecker gestellt wie früher bei den Kämpfen von Muhammad Ali. „Er hat in Deutschland eine Tennis-Hysterie ausgelöst und diesen Sport zu einem gesellschaftlichen Ereignis gemacht“, sagt Hans-Jürgen Pohmann, der als Radioreporter mit Becker um die halbe Welt gereist ist. Der ewig 17-jährige Leimener bescherte dem Tennis im Fernsehen zeitweise mehr Zuschauer als der Fußball.
Heute ist Boris Becker, was Lothar Matthäus für den Fußball ist und Jan Ullrich für den Radsport. Eine Lichtgestalt, deren Absturz so selbstverständlich wie unfassbar erscheint. Das einst kantige Gesicht ist zum Ballon aufgepumpt. Er spricht von sich selbst in der dritten Person, hat mit drei Frauen vier Kinder, eins davon in einer Londoner Besenkammer gezeugt. Dass er angeblich um die 50 Millionen Euro Schulden hat – so what!, entscheidend ist, dass über ihn geredet wird. Beckers Geschäft ist seine Marke, beim Patentamt unter der Nummer 39961882.1/28 geschützt.
Zwei Stück Kuchen, direkt vor dem Endspiel
Markus Zoecke kennt Becker, seitdem er 14 ist. War schon damals das Besondere an ihm zu sehen? „Nein. Er war halt ein sehr guter Tennisspieler. Und er ließ sich keine Vorschriften machen.“ Zoecke staunt, wie Becker sich kurz vor dem Finale beim internationalen Jugendturnier des LTTC Rot-Weiß noch zwei Kuchenstücke in den Mund stopft. Das verstößt schon in den frühen Achtzigern gegen alle Regeln sportgerechter Ernährung.
Ein paar Wochen nach seinem ersten Wimbledonsieg kommt Becker im Spätsommer 1985 zu einem Schaukampf nach Berlin. Zoecke weiß nicht so recht, wie er ihm gegenübertreten soll. Ist das nun der alte Kumpel? Oder der Wimbledonsieger, der die Faust in den Londoner Himmel und in alle deutschen Wohnzimmer gereckt hat? „Er hat meine Unsicherheit natürlich sofort gemerkt und gerufen: ,Markus! Ich bin’s doch, der Boris!’“ Auch Hans-Jürgen Pohmann erinnert sich an den jugendlichen Becker als „ganz natürlichen Burschen, ohne jede Allüren“.
Dass der dramatische Zuwachs an Erfolg, Reichtum und Popularität Becker verändert, merken anfangs nur die, die ganz nah an ihm dran sind. Zum Beispiel sein Trainer Günther Bosch. Er sieht Becker als Achtjährigen zum ersten Mal, betreut ihn als Bundestrainer und knüpft 1984 den Kontakt zum Manager Ion Tiriac, die beiden sind gemeinsam in Rumänien aufgewachsen. Bosch kündigt beim Deutschen Tennis-Bund und kümmert sich nur noch um Becker. Am Anfang verdient er 6000 Mark im Monat, „nicht mal die Hälfte von dem, was ich vorher hatte. Aber Boris war das Risiko wert.“ Becker nimmt sich wie Bosch eine Wohnung in Monte Carlo, aber meist sind sie auf Reisen. Im Jahr des ersten Wimbledon-Sieges verbringen sie acht Tage zu Hause.
Vielleicht hätte es den 17-jährigen Wimbledonsieger Becker ohne Bosch nie gegeben. Vor jenem ersten Triumph im Juli 1985 geht es im Achtelfinale gegen Tim Mayotte. Becker liegt zurück und knickt im vierten Satz auch noch um. Er humpelt zum Netz und will aufgeben, aber bevor Mayotte einschlagen kann, brüllt Bosch auf den Platz: „Drei Minuten, Boris! Nimm dir drei Minuten Behandlungspause!“ Es dauert sehr viel länger, weil der Arzt sich erst durch das Gedränge kämpfen muss. Becker erholt sich, er dreht das Spiel und der Boom nimmt seinen Lauf. Beim Finalsieg über Kevin Curren sitzt das halbe Land vor dem Fernseher.
1987 kommt es zum Bruch mit Bosch
Unter Bosch gewinnt Becker Wimbledon auch im folgenden Jahr, aber die Beziehung der beiden gestaltet sich zunehmend komplizierter. Becker ist, wie Heranwachsende nun mal sind. Ein bisschen rebellisch, „Boris hatte nicht nur auf dem Tennisplatz seinen eigenen Kopf“, sagt Bosch, aber das hätte sich wohl regeln lassen. Im Rückblick glaubt er, der alte Freund Tiriac habe gegen ihn intrigiert: „Ion wollte Geld verdienen, dafür musste er Boris als Werbefigur vermarkten. Da stand ich im Weg, weil mir das Tennis wichtiger war als Schaukämpfe und Werbeauftritte. Also hat er Boris eingeredet: ,Du brauchst einen anderen Trainer.’“
1987 kommt es zum Bruch. Bei den Australian Open scheitert Becker im Achtelfinale. Abends besucht er mit seiner Freundin ein Konzert und richtet seinem Trainer aus, Bosch könne erst einmal Urlaub machen, bei den nächsten Turnieren werde es auch ohne ihn gehen. An das Trennungsgespräch erinnert sich Bosch so: „Boris, wenn du das so siehst, dann kündige ich.“ – „Das machst du nicht! So viel Geld wie bei mir verdienst du nirgendwo sonst!“ Ein paar Stunden später sitzt Bosch im Flugzeug nach Deutschland und verabschiedet sich aus Beckers Leben. Sie reden seitdem nur einmal miteinander, bei einem zufälligen Treffen auf einem Flug von Nizza nach Madrid. „Boris hat mir bis heute nicht verziehen, dass ich es war, der den Schlussstrich gezogen hat“, sagt Bosch. „Er ist es gewohnt, dass er selbst die Leute rausschmeißt. Alles andere passt nicht in sein Weltbild.“
In immer kürzeren Abständen verstößt Becker immer mehr Freunde, Bekannte oder Mitarbeiter. Eiskalt, wie auf dem Platz. Zoecke sagt: „Beim Tennis musst du deinen Gegner hassen. Wenn du den Punkt nur machen kannst, wenn du den anderen am Netz abschießt, dann musst du das machen. Das unterscheidet die guten von den erfolgreichen Spielern.“
Boris Becker ist ein sehr erfolgreicher Spieler.
Besondere Abneigung widmet er Michael Stich, dem zweiten Hochbegabten dieser deutschen Tennis-Generation. „Michael hat Boris ja sozusagen ins Wohnzimmer gepisst“, sagt Zoecke – 1991, als Stich gegen Becker im Finale von Wimbledon siegt. So etwas nimmt der Baron persönlich. In der Öffentlichkeit spricht er fortan nur noch vom „Spieler Stich“.
„Wollen wir nicht erst mal ein Bier trinken und in Ruhe reden?“
Ion Tiriac bleibt bis 1993 Beckers Manager, er macht ihn zum Multimillionär. Das Ende liest sich in seiner Autobiografie so: „Ion, alles, was ich erreicht habe, ist auch dir zu verdanken, ... aber die Zeit für eine Trennung ist gekommen“, in einer halben Stunde gehe eine Pressemeldung raus. „Wollen wir nicht erst mal ein Bier trinken und in Ruhe reden?“ – Nein, „the deal is done!“
Markus Zoecke bleibt ein Freund. In den 90ern spielt er mit Becker dreimal im Davis-Cup, bis der Körper nicht mehr will. Zwei Jahre verbringt er fast nur in Krankenhäusern und Rehazentren. Dann ruft Becker an und offeriert ihm die Leitung eines Juniorteams, finanziert von seinem Sponsor Mercedes. In seinem Arbeitszimmer sagt Zoecke im November 2017: „Ich konnte mein Glück kaum fassen.“
Becker ist ein großzügiger Chef. Erst mal besorgt er Zoecke einen angemessenen Dienstwagen – den Mercedes, den er seiner Frau Barbara mal als Geburtstagsgeschenk vor das Ritz in Paris gestellt hat, klassisch mit roter Schleife auf dem Dach. Wird sie den nicht vermissen, fragt Zoecke. Becker winkt ab: Barbara hat keinen Führerschein. Bei einem Termin mit den Geldgebern von Mercedes lassen die Leute vom Junior-Team die versammelten Granden eine Stunde warten. Als Becker den Saal betritt, sind alle trotzdem selig, dass sie ihm die Hand schütteln dürfen.
Markus Zoecke lacht kurz, er lehnt sich im Bürostuhl zurück und beugt vorsichtig das lädierte Knie. „Vielleicht wäre alles gut gelaufen, wenn Boris in solchen Momenten gesagt hätte: ,So, Herr Zetsche, jetzt gehen wir an die Bar und überlassen den Rest unseren Anwälten.’ Aber er wollte ja unbedingt alles selbst machen und auch das Feiern nicht vernachlässigen. Da kann man schon mal den Überblick verlieren.“
"Es ist so schön, dass gerade mal niemand weiß, wo ich bin“
Einmal sitzen die beiden bis spät in die Nacht in einem New Yorker Club. Star-DJ Sven Väth legt auf, Becker döst im Halbdunkel an der Bar vor sich hin. Gegen vier meint Zoecke, es sei doch mal Zeit für das Hotel. „Nein“, sagt Becker. „Lass uns noch ein bisschen bleiben. Es ist so schön, dass gerade mal niemand weiß, wo ich bin.“
Das Leben jenseits des Tennisplatzes ist nicht so leicht zu handhaben wie die Aneinanderreihung von Aufschlag, Rückhand und Volley. „Becker dachte ernsthaft, er könnte seine Begabung und seinen Erfolg eins zu eins ins Geschäftsleben übertragen“, meint der Reporter Hans-Jürgen Pohmann. Die Nächte werden länger, die Drinks härter. Becker verirrt sich in einer Londoner Besenkammer, die Scheidung von Barbara wird in Deutschland live im Fernsehen übertragen, alle paar Wochen berichtet der Boulevard über neue Gespielinnen. Zwischendurch jettet er durch die Welt, produziert Tennisschläger, schaut bei seinen Autohäusern in Mecklenburg-Vorpommern vorbei, gründet ein Internetportal, versucht sich als Makler von Sportrechten.
Nur auf Tennis hat er keine rechte Lust mehr. Nicht auf sein Juniorteam und auch nicht auf die Schaukämpfe, die ihm Markus Zoecke organisiert. Die Entfremdung der Freunde vollzieht sich schleichend. „Boris war frisch von Barbara getrennt und wäre am liebsten jeden Tag um die Häuser gezogen“, sagt Zoecke. Bei ihm selbst wartet zu Hause die Frau mit den drei Töchtern. Bei der Taufe der Jüngsten sagt Taufpate Becker: „Pack deine Sachen, wir fliegen morgen nach Amerika“, wichtige Geschäfte, könnte länger dauern. Nach zwei Wochen intensiven Herumreisens fragt Zoecke, wie lange das noch so gehen solle. Becker blafft zurück: „Hau doch ab, wenn du keine Lust mehr hast!“
Zoecke glaubt an einen Scherz, aber keiner lacht
Die Freundschaft zerbricht vor einem Schauturnier im westfälischen Halle. Markus Zoecke erinnert sich: „Boris lag auf dem Massagetisch, er hat zur Begrüßung nicht mal den Kopf gehoben und mich nach geschäftlichen Daten ausgefragt, vielleicht hat er auf einen Fehler gehofft.“ Am Ende sagt Becker: „So, da drüben stehen meine dreckigen Schuhe, die machst du jetzt mal schön sauber!“ Zoecke glaubt an einen Scherz, aber keiner lacht. Also nimmt er die Schuhe, klopft sie zusammen, wirft sie unter die Dusche. Und geht.
Zoecke organisiert seine Schaukämpfe künftig für Beckers Erzfeind Michael Stich. Es gehört nicht viel Fantasie zu der Vorstellung, was der Baron davon hält. Und wie schwer die Hypothek wiegt, ihn im Tennis-Zirkus gegen sich zu haben. Als Becker 2005 vor einer Spielerparty in Trier verkündet: „Wenn Zoecke kommt, dann komme ich nicht“, wird dieser von den aufgeschreckten Organisatoren wieder ausgeladen. Darauf verklagt Zoecke den einstigen Freund wegen geschäftsschädigenden Verhaltens. Heute findet er das „ein bisschen blöd, ich hab’ mich da von meinem Anwalt falsch beraten lassen“, aber jeder hat nun mal seinen Stolz.
Alles Weitere verfolgt Zoecke aus der Distanz. Beckers Hochzeit mit der zweiten Ehefrau Lilly und die neue Karriere am Pokertisch. Aber auch die Rückkehr auf den Tennisplatz. Er freut sich darüber, dass Becker drei Jahre lang den Weltstar Novak Djokovic trainiert und dass er jetzt als „Head of Men’s Tennis“ für den Deutschen Tennis-Bund arbeitet. Für den am Rand der Bedeutungslosigkeit strauchelnden Verband ist auch der leicht ramponierte Ruf des einstigen Weltstars erstklassiges Marketing.
Markus Zoecke steht nicht auf der Gästeliste für Beckers Geburtstagssause am Mittwoch. Aber im Mai hat er sich nach Charly Steebs Anruf dann doch auf den Weg zur Pariser Hotelbar gemacht. Wie es war? „Ganz nett, wir haben ein paar Stunden über die alten Zeiten geplaudert.“ Steeb erzählt ihm später, wie der Abend zu Ende ging. Dass Becker beim Verlassen der Bar gefragt hat: „Du Charly, der Markus ist ja ein richtig lustiger Typ. Warum hab’ ich den eigentlich so lange nicht gesehen? War da mal was?“
Im Direktorenzimmer des LTTC Rot-Weiß verdreht Markus Zoecke die Augen. „Können Sie sich das vorstellen? Er hat es wirklich nicht mehr gewusst!“