Günther Bosch über den Wimbledonsieg von Boris Becker: Drei Minuten Pause für die Ewigkeit
Vor 30 Jahren gewann der 17 Jahre alte Boris Becker Wimbledon. Sein damaliger Trainer Günther Bosch verrät im Tagesspiegel-Interview, welche Dramatik dem Erfolg beiwohnte und warum es einen Spieler wie Becker wahrscheinlich nie wieder geben wird.
Herr Bosch, leiden Sie mit Boris Becker, wenn er in der Öffentlichkeit mit seinen Eskapaden in Verbindung gebracht wird?
Was soll ich sagen? Natürlich tut es mir weh, wenn über ihn gelacht wird.
Was überwiegt 30 Jahre nach seinem ersten Wimbledonsieg: Verbitterung über das, was danach kam? Stolz? Oder einfach Freude?
Ich muss Becker zweiteilen. In seine sportliche Karriere. Sein erster Sieg in Wimbledon 1985 war schon ein Traum, eine Sensation. Aber das zu bestätigen und ein Jahr später wieder zu gewinnen, ist unglaublich. Was er privat gemacht hat, was ihm geschah, mit seinem Image, dazu äußere ich mich nicht. Ich lese es und muss es akzeptieren.
Wie würden Sie Ihre damalige Beziehung zu Becker beschreiben?
Wenn wir mit der Concorde von Paris oder London nach New York flogen, saß ich immer neben Boris. Kein Trainer nach mir, und es waren ja immerhin neun, durfte das. Selbst Bob Brett nicht, einer der besten Trainer. Der sagte mir, dass er ganz hinten sitzen musste, wenn Boris erste Klasse flog. Boris hatte viele menschliche Züge. Klar, wir haben uns getrennt, aber er hatte für mich zum 50. Geburtstag den größten Mercedes bestellt. Wenn man so etwas erlebt wie wir in dieser kurzen Zeit, dann pickt man sich nicht das Negative raus.
Was fiel Ihnen als Erstes an Becker auf?
Ich habe ihn als Neunjährigen kennen gelernt, am 7. Oktober 1976 bei einer Sichtung in Biberach (Bosch holt aus seiner Mappe die Kopie eines Magazinartikels und zeigt auf ein Gruppenfoto). Also das ist der Boris, das ist Vater Graf, das ist Steffi Graf, das ist Boris Breskvar, der Verbandstrainer von Leimen, das bin ich. Konditionell hatte Boris nicht das, was wir uns erhofft haben. Babyspeck, könnte man sogar sagen. Aber was mir so imponierte, war diese Aufmerksamkeit in dem Augenblick, in dem der Ball im Spiel war.
Wie äußerte sich das?
Er hatte unglaubliche Augen, er konnte antizipieren, jeden Ball erlaufen. Wegen seiner Kondition wurde er nach der Sichtung abgelehnt. Trotzdem habe ich dem Deutschen Tennis-Bund empfohlen, dass er in den C-Kader aufgenommen wird. Seither kam er immer wieder mit seiner Mutter ins Leistungszentrum nach Hannover, um mit uns zu trainieren.
War denn Beckers Temperament von Anfang an sichtbar?
Er erlebte das Spiel auf dem Platz wie kein anderer. Freude und Ärger waren ständig im Spiel.
Die Kunst ist ja, Ärger in Energie umzuwandeln. Konnte er das damals schon?
Ja. Er war imstande, nach einem Doppelfehler sofort ein Ass zu schlagen. Und das große Phänomen Becker ist, so viele Zuschauer mitzureißen. Das war sein Naturell: Das Spiel körperlich und seelisch voll zu erleben. So kamen auch diese Hechtsprünge zustande.
Die hat er nicht trainiert?
Nein, das war nicht erlernt. Ich selbst hatte das früher als Trainer in Rumänien mit Ilie Nastase geübt. Dafür hatten wir sogar Matten ausgelegt. Aber für Boris war es eine Art Notschlag. Als wir in New York für die US Open trainiert haben, hat er die Sprünge sogar im Training gemacht. Auf dem Hartplatz. Da sagte ich: Bist du bescheuert, Mensch, Knie, Ellenbogen, was da passieren kann!
Herr Bosch, lassen Sie uns über seinen Sieg 1985 in Wimbledon reden. Heute sind vor allem die Bilder aus dem Finale in Erinnerung. Bei Ihnen auch?
Er hatte eigentlich dreimal schon praktisch verloren (holt einen Zettel raus, auf dem er alle Runden von 1985 und die Ergebnisse notiert und manches mit grünem Textmarker hervorgehoben hat). In der dritten Runde gegen Joakim Nyström musste er zwei Matchbälle abwehren. 9:7 hat er seinen letzten Satz gewonnen.
Was zeigte Ihnen das?
Das hatte auch mit Glück zu tun. Aber Boris war einer der wenigen Spieler, und das vermittelt er als Trainer jetzt auch Djokovic, der in kritischen Situationen versucht hat, den Punkt durch das eigene Können zu gewinnen. In dieser kritischen Situation damals spielt er auf den Aufschlag von Nyström Chip and Charge, also einen Slice genau in die Beine von Nyström, kommt ans Netz und spielt den Volley rein. Im Achtelfinale ging es gegen Tim Mayotte. Gott sei Dank, dass Mayotte im Spiel so weit hinten stand.
Warum?
Boris stand schon am Netz, um ihm die Hand zu geben. Er hatte sich verletzt. Ein Jahr davor hatte er schon mal einen Bänderriss, den hatte ich sogar von der Tribüne aus gehört. Diesmal saß ich drei Meter hinter ihm und hatte einen Einfall. Ich habe reingeschrien: Boris, du hast drei Minuten Pause, der Masseur kommt, du kannst bestimmt weiterspielen, versuch’, die Ballwechsel so schnell wie möglich zu beenden. Es hat funktioniert.
Wann kam der Punkt, an dem Sie gemerkt haben, jetzt kann er das Turnier gewinnen?
Jedes Spiel war eine Überraschung. Nach Mayotte hat er Leconte geschlagen. Anders Järryd war ein großes Problem im Semifinale. Boris sagte schon im Training: Ich habe kein Gefühl für den Aufschlag. Es ist weg. Mit dieser für ihn ungewöhnlich negativen Einstellung ist er auch auf den Platz gegangen und verlor dann den ersten Satz 2:6. Im zweiten Satz hatte Järryd sogar Satzbälle. Das Spiel war fast verloren. Mit Mühe und Not hat Boris den zweiten Satz 7:6 gewonnen. Dann Dunkelheit, Abbruch. Ein unglaubliches Glück. Am nächsten Tag kommt er wie neu geboren auf den Platz und gewinnt glatt 6:3, 6:3.
Kevin Curren, der Gegner im Finale, hatte die größeren Spieler geschlagen. McEnroe, Connors und Edberg.
Normalerweise sagst du: Keine Chance. Aber Curren hat Schwächen, die Boris mit seinen Stärken ausnutzen kann, und das ist der Aufschlag. Wir wussten alle, dass Curren nur langsam retourniert mit Slice, er kann keinen Topspin. Es hört sich blöd an, aber in keinem anderen Spiel war ich so zuversichtlich wie im Endspiel.
Dass Sie sich noch an Currens Schwächen erinnern können.
Eine Woche nach dem Finale hätte ich das auch nicht mehr gewusst. Aber man wird ja ständig konfrontiert mit diesen Dingen.
Wann haben Sie das letzte Mal das Spiel gesehen?
Heute morgen. Da haben sie im Fernsehen ein Interview mit Boris gezeigt und Ausschnitte aus seinem Spiel.
Wie oft haben Sie das Endspiel gesehen?
Das Spiel gegen Mayotte habe ich öfter angeschaut und es auch meinen Spielern gezeigt. Um ihnen zu vermitteln, dass man mit Siegeswille auch nach einer leichten Verletzung noch weiterspielen und sogar gewinnen kann.
Wie ausgelassen haben Sie abends den Sieg gefeiert?
War gar nicht so ausgelassen, mit einem Glas Sekt vielleicht. Wir wussten ja nicht, was das ausgelöst hat.
Aber es war doch Wimbledon.
Richtig. Und wir wussten, dass ein Sieg umgerechnet 10 Millionen wert ist (zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto vom Moment des Siegs. Im Vordergrund reißt Becker die Arme nach oben, Bosch springt auf der Tribüne in die Höhe, Manager Ion Tiriac bleibt reglos sitzen). Gucken Sie, wie der Tiriac da neben mir sitzt. Warum wohl?
Er rechnet.
Er hat gleich gesagt: Um Gottes Willen, was jetzt auf mich zukommt. Ich muss die 10 Millionen reinbringen, sonst bin ich nicht der richtige Manager.
Wann haben Sie erfassen können, dass etwas Sporthistorisches passiert war?
Als wir später in Leimen im Cabrio durch die Stadt gefahren sind.
Wo sehen Sie Ihren größten Einfluss: bei der Technik, Taktik, im Mentalen?
Es ist schwer zu sagen, weil du erst mal die Technik haben musst, um taktisch etwas umzusetzen. Ich habe jetzt gelesen, dass man mit einem Zwei-Kilo-Medizinball werfen sollte. Das halte ich für Quatsch. Du brauchst die Schnellkraft. Ich habe Boris einen Baseball über Bäume werfen lassen oder auf dem Fußballplatz von einem Platz zum anderen. Diese Schnellkraft hatte er, aber er war nicht imstande, zehn Liegestütze hintereinander zu machen. Im Trainingslager in Crans Montana musste er ständig Schneebälle werfen. Das war meine Art, mit ihm zu trainieren.
Und er hat alles mitgemacht?
Ich habe immer wieder betont, dass er ein sehr disziplinierter Sportler war. In Tokio hat er einmal trainiert, jemand stellte mir am Rande eine Frage und Boris schrie mich an: Was ist los, passt du nicht auf?
Bis heute hält sich die Meinung, Becker habe von seiner Emotionalität gelebt. Hat die Öffentlichkeit ihn falsch eingeschätzt?
Das hat mir auch immer ein bisschen weh getan, dass er nie erzählt hat, wie schwierig das war, dort hinzukommen. Alle haben immer nur den großen Erfolg gesehen. Aber niemand, was dahinter stand.
Boris Breskvar hat mal gesagt, er habe mit Anke Huber mehr Zeit verbracht als ihre Eltern, sie sogar aufgeklärt und Jungs vor ihrer Hotelzimmertür vertrieben. Wie würden Sie Ihre Rolle beschreiben?
Sie können sich ja vorstellen, wenn man mit einem Jungen in der Pubertät zu tun hat, kommt man in Situationen, in denen er sagt: Oh, die ist aber hübsch. So war das auch mit seiner ersten großen Liebe, mit Benedicte. Das hat auch zur Trennung zwischen uns geführt.
Weshalb?
Weil er zu dem Zeitpunkt sagte: Jetzt kann ich alleine spielen, ich brauche dich nur noch beim Davis-Cup und bei den Grand Slams. Meine Ansicht war: Es gibt noch so viel im Tennis zu gewinnen. Er sagte: Du kannst den schönsten Urlaub machen mit deiner Frau, wo du willst auf der Welt. Und ich fliege mit Benedicte alleine nach Amerika. Da ging es nicht mehr.
Zur Trennung gab es keine Alternative?
Ich hatte eine bestimmte Auffassung, was ich als Trainer zu leisten habe. Ich hätte nichts dagegen gehabt, Benedicte dabei zu haben. Aber sie musste selbst zum Konditionstraining morgens mit. Nach 50 Metern blieb sie stehen und Boris und ich mussten weiter laufen. So ging das nicht. Oder ich sagte: Boris, um zwölf Uhr ist Training, weil du morgen auch um diese Zeit spielst. Er sagte: Nee, ich trainiere um vier. Meine Rolle als Trainer war verletzt.
Wie hat sich Ihre Sicht auf ihn nach der Trennung entwickelt?
Die Trennung war schon schmerzhaft. 1985 waren wir beide nur fünf Tage zuhause, er bei seinen Eltern, ich bei meiner Frau und meiner Tochter. Sonst waren wir ständig zusammen. Ich habe dann zehn Jahre lang für eine Zeitung und im Fernsehen wöchentlich über Tennis berichtet. Dann habe ich ja auch gerade seine Spiele kommentiert. Das war für mich eine Fortsetzung der Beziehung. (Bosch nimmt seine goldene Uhr ab. Hinten drauf steht BB und IT für Boris Becker und Ion Tiriac). Ein Geschenk von Boris für den Wimbledonsieg.
Und die tragen Sie immer noch?
Wenn ich Glück brauche.
Sie haben Ihren Weg gefunden, mit Becker aus der Distanz umzugehen.
Na ja, weil ich eben auf der Suche nach einem zweiten Becker war. Ich war besessen von der Idee, dass es einen zweiten wie ihn gebe. Heute muss ich sagen, es gibt ihn nicht. Und: Es wird ihn wahrscheinlich nie mehr geben. Mit 17 Jahren Wimbledon zu gewinnen! Bei Boris hat alles gepasst.
Hat es gepasst, weil Sie und Becker so unterschiedlich waren?
Sicher! Und deshalb denke ich so oft darüber nach, wie zwei Vulkane wie Becker und Djokovic zusammenpassen. Djokovic hat sich schon zum Positiven verändert. Wenn er jetzt nur einen Schläger im Spiel zerhackt, waren es früher drei oder vier.
Ihnen gefällt es doch, dass Becker als Trainer arbeitet?
Natürlich, da ist sein Platz. Im Tennis. Nicht im Poker oder sonstwo. Er hat dem Tennissport zu wenig zurückgegeben. Aber du musst dich als Trainer eben manches Mal auch kleiner machen können.
Wann haben Sie eigentlich mit Becker das letzte Mal gesprochen?
Das ist lange her.
Worüber würden Sie mit ihm reden?
Ich würde ihn gern fragen, ob er sich an Chicago erinnern kann. Dort sind wir in unserem Hotel 42 Etagen hochgelaufen – als Konditionstraining. Da müsste er bestimmt nachdenken: Spinnt der jetzt, oder war das wirklich so?
Und Sie mit hoch?
Und ich mit!
Wie groß ist denn Ihr Wunsch, mit ihm noch einmal zusammenzusitzen?
Ich möchte erst einmal sein jüngstes Buch lesen und sehen, wie er die Sache sieht. Ob er sich überhaupt erinnert. Bisher wollte er sich nicht erinnern. Ein solches Treffen müsste von beiden Seiten gewünscht werden. Ich weiß, das klingt merkwürdig, aber wir sind beide stur. Es gab ja einige Bemühungen, uns zusammenzuführen.
Hat er ein schlechtes Gewissen?
Glauben Sie? Vielleicht sieht er die Trennung so, wie Tiriac es ihm versucht hat beizubringen: als Verrat. Aber es war kein Verrat. Ich wollte ihm nicht im Wege stehen.
Das Gespräch führten Michael Rosentritt und Friedhard Teuffel.