Flüchtlinge vor dem Lageso: Aus Syrien geflüchtet, obdachlos in Berlin
Ibrahim Atwan hat seine Familie aus Syrien über die Türkei und den Balkan bis nach Berlin geführt. Statt Schutz fanden sie Bürokratie. Sie müssen im Park schlafen und erkennen: Den Ort ihrer Träume gibt es gar nicht.
Ein Schwarm Wespen surrt über einer aufgeschnittenen Honigmelone. Der kleine Khaled nimmt sich ein Stück lauwarme Frucht. Er hat keine Angst vor Wespen, obwohl sein Körper schon von ihren Stichen gezeichnet ist. Während der Dreijährige auf der gelben Schale kaut, stampft er mit seinen Beinen im Takt. Die Klänge schiitischer Sufimusik hallen durch die Hinterhofmoschee in Moabit. Eine Gruppe junger Iraker singt im Chor und spielt Tamburin. Es ist eine religiöse Zeremonie, die Männer vertreiben sich so bei Sonnenuntergang die Langeweile und den Frust. Rund 20 Menschen sitzen auf Stühlen. Einige halten Dokumente in der Hand, fächern sich damit Luft zu. Sie alle haben wieder einmal stundenlang auf einen Termin bei der zentralen Asylbehörde gehofft – und keinen bekommen.
So wie die Familie Atwan aus Mayadin, einer von IS-Terroristen besetzten syrischen Kleinstadt an der Grenze zu Irak. Vor 72 Stunden haben Vater Ibrahim, Mutter Asma und die beiden Söhne Khaled und Jamin Berlin erreicht. Seitdem sind sie obdachlos. Vor rund drei Monaten flohen die Atwans aus dem Kriegschaos in ihrem Land und finden sich nun, am vorläufigen Ende ihrer Reise, im Chaos einer deutschen Hauptstadt wieder, die mit den Hilfesuchenden überfordert ist.
„Schau dir seine Füßchen an“, sagt Asma Atwan. Die Wespenstiche sind rosa geschwollen. Weil die Kinder selten duschen können, ziehen sie die Wespen mit ihren klebrigen Fingern an. Khaled stören die Stiche beim Tanzen nicht. Um 20 Uhr sind es noch mehr als 30 Grad vor dem Eingang der Moschee mit den Backsteinen und den grauen Wänden. Khaleds gute Laune erstaunt seine Mutter. „Wie übersteht dieses Kind das alles so gut?“, fragt die 25-Jährige. Wenigstens könne er nach einem so anstrengenden Tag besser einschlafen.
Ibrahim Atwan sieht mindestens zehn Jahre älter aus, als er tatsächlich ist. Die Haut des 27-Jährigen ist von der Sonne gebräunt, seine grünen Augen sind von tiefen Falten umgeben. Wochenlang ist er mit seiner Familie über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich und Bayern nach Berlin geflohen. Dort angekommen, tat er das, was die meisten Flüchtlinge tun. Am Bahnhof steuerte er direkt auf zwei uniformierte Männer zu. „Ich habe uns der Polizei übergeben.“
Die Polizei: kein Freund, kein Helfer
Die Beamten hätten ihn routiniert angehört. „Syria, Syria“, habe er gesagt, versucht, seine Situation zu erklären. Da habe einer der Polizisten etwas auf einen Zettel gekritzelt. Ibrahim Atwan kramt das Stück Papier aus seiner Hosentasche heraus: „Lageso, Turmstraße 21“. Die Beamten seien dann im Streifenwagen weggefahren.
Ein Schock. Unter Flüchtlingen erzählt man sich, dass die Polizei in Europa ein Freund, vor allem ein Helfer sei. „Wir wussten nicht, wo wir hinsollten“, sagt Ibrahim Atwan. Also fragten sie sich durch, hielten nach arabischsprachigen Berlinern Ausschau, die ihnen den Weg zur Turmstraße beschreiben konnten. Nach etwas mehr als einer Stunde kamen sie an und dachten: Jetzt aber!
Mit dem Anblick, der sich ihnen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) dann bot, hatte Ibrahim Atwan nicht gerechnet. Hunderte Menschen saßen auf dem Boden, einige schliefen in selbst gebastelten Zelten, Babys schrien. Sicherheitsleute schubsten ungeduldige Antragsteller herum.
An jedem Arbeitstag stellen mindestens 250 Menschen in der Zentralen Aufnahmestelle in Moabit einen Erstantrag auf Asyl. Die Mitarbeiter kommen nicht dazu, alle zu bearbeiten, die Schlange vor dem Backsteinbau wird seit Wochen immer länger. An manchen Tagen stehen mehr als 2000 Asylbewerber an. Die Behörde schafft es nicht einmal mehr, Notunterkünfte an alle Neuankömmlinge zu vermitteln. Dann gibt sie Hostel-Gutscheine aus. Doch das System funktioniert nicht, weil viele Hostels sich weigern, Flüchtlinge zu akzeptieren. Denn auch mit der Bezahlung dieser Rechnungen kommt das Amt nicht hinterher. Das Ergebnis: Obdachlose Flüchtlinge bevölkern die Straßen von Berlin.
Eine Nacht im Tiergarten
Die Atwans erreichen am ersten Tag in der Behörde nicht viel. Sie müssen sich erst bei Flüchtlingen informieren, die das Verfahren schon hinter sich gebracht hatten, um zu verstehen, wie das Ganze funktioniert. „Wer einen Mund hat, wird sich nie verlaufen“, lautet ein arabisches Sprichwort. Die Atwans haben viele Fragen: Wann bekommt man eine Arbeitserlaubnis? Wo können wir Deutsch lernen? Wie viel Unterstützung gibt es vom Staat pro Monat? Was kostet ein Brot in Deutschland?
Antworten gibt es am ersten Abend kaum. Die Atwans landen im Kleinen Tiergarten, einem Park zwischen Turmstraße und Alt-Moabit, umgeben von einer Baustelle und der Heilandskirche. Sie suchen sich eine Ecke zwischen dem Bürgersteig, einem Baum und einer braunen Parkbank. Sie breiten eine weiße, flauschige Winterdecke, die sie in Berlin gefunden hatten, auf dem Boden aus, legen sich hin und schlafen nicht ein. Ein paar Meter weiter lärmt eine Gruppe betrunkener Obdachloser. Also spielen die Kinder bis zum Morgengrauen, die Eltern wachen über ihren Nachwuchs im Park. Noch vor Morgengrauen rollen sie ihre Decke zusammen und stellen sich wieder vor der Asylbehörde an. Dort bekommt Ibrahim am zweiten Tag ein Stück Papier. In seiner linken Hosentasche ist der blaue Schnipsel labbrig geworden: Wartenummer 14 806.
Kleine Zettel und Wartemarken – so funktioniert das in Deutschland, haben die Kriegsflüchtlinge gelernt. Der Vater wollte unbedingt verhindern, dass seine Familie noch einmal unter freiem Himmel übernachten muss. Sein Glaube an Allah und seinen Propheten Mohammed, sagt er, führt ihn am zweiten Abend in die Al-Hikma-Moschee. Die „Moschee der Weisheit“ ist zehn Minuten von der Behörde entfernt.
"Die Deutschen sind ein liebevolles Volk"
Tagsüber warten die Atwans auf dem Bürgersteig vorm Lageso, ungeduscht, hungrig und schwitzend. „Es ist eine Katastrophe“, sagt Ibrahim Atwan. Er unterdrückt mit Mühe seine Tränen, seine Frau versucht, die Kinder abzulenken. Sie sollen ihren Vater so nicht sehen.
Dutzende Flüchtlingsfamilien übernachten und warten mit den Atwans rund um die Turmstraße. Syrer, Afghanen, Eritreer und Roma schlafen im Kleinen Tiergarten. Die neuen Obdachlosen von Moabit sind Zeugen des Scheiterns des deutschen Staates. Die Atwans wollen sich aber nicht beschweren: „Zumindest regnet es nicht“, sagt die Mutter. Die Deutschen seien ein liebevolles Volk, fügt sie hinzu. Sie zeigt auf eine Helferin, die mit einem Korb von Familie zu Familie läuft. Freiwillige verteilen in und vor der Behörde Schokoriegel, Saftkartons und Seife. Mutter Asma pfeift Sohn Khaled zurück. „Du hast genug für heute, und außerdem hältst du in deiner Hand noch einen Keks.“
Die Freiwilligen hinterlassen einen guten Eindruck bei den Atwans.
Was ihnen in der Stadt in ihren ersten Tagen aufgefallen ist? „Die vielen Hunde und deren Dreck“, sagt Asma Atwan. Außerdem gebe es viel mehr Fahrradfahrer als bei ihnen zu Hause. „Und das Essen ist viel teurer“, sagt Ibrahim Atwan. Er könne sich noch gut daran erinnern, dass sein Vater während des Irakkriegs im Jahr 2003 eine irakische Flüchtlingsfamilie bei sich aufgenommen habe. Kein einziger Flüchtling habe damals in Mayadin auf der Straße übernachten müssen. „Unsere Willkommenskulturen sind halt verschieden.“ Ibrahim Atwan habe sogar Verständnis, dass sich alles verzögere. „Mein Vorschlag: Die Männer schlafen alle draußen, Frauen und Kinder bekommen eine Unterkunft.“ Ein Zelt oder ein Zimmer zumindest für die Kinder – die Atwans wären in diesen Tagen mit jeder Notlösung zufrieden.
Das Leben mit dem Terror
In Syrien wohnte die Familie auf einer eigenen Etage. Schlafzimmer, Kinderzimmer, Bad und Küche. Ibrahim Atwan erzählt gerne vom Leben in der Heimat. Er ist stolz, dass er einst gut für seine Familie sorgen konnte. Die Wohnung hatte er von seinem Vater, einem Polizisten, geerbt. Mit seinem Frisörladen verdiente Atwan genug Geld. „In Deutschland will ich auch einen Frisörladen eröffnen“, sagt er. Dann widmet er seine Aufmerksamkeit der ersten warmen Mahlzeit seit Tagen. Wir haben die Atwans eingeladen. In einem Imbiss haben sich die Kinder Pommes und Döner gewünscht. Es tut gut, mal etwas anderes als Kekse zu essen.
Die Atwans hatten vor ihrer Flucht nie ihre Heimatstadt Mayadin verlassen. Sie führten ein ruhiges Leben an den Ufern des Euphrats und hatten nie vor, auszuwandern – bis der sogenannte Islamische Staat einfiel.
„Ich durfte nicht mehr arbeiten, weil Frisuren verboten wurden“, sagt Ibrahim. Als die IS-Kämpfer immer mehr Männer köpften oder öffentlich hängten, dachte Ibrahim Atwan das erste Mal an Flucht. Als ihn ein Dschihadist beim Rauchen auf dem eigenen Balkon erwischte und drohte, ihn vor ein IS-Gericht zu zerren, war die Entscheidung gefallen.
Asma Atwan hatte die letzten Monate das Haus in Mayadin nicht mehr verlassen. Sie trägt aus Überzeugung ein Kopftuch, einen schwarzen Ganzkörperschleier, wie es der IS allen Frauen vorschreibt, das wollte sie sich nicht antun. Im Berliner Hochsommer wundern sich die Atwans nun über das andere Extrem. Die öffentliche Freizügigkeit nehmen die Eheleute allerdings mit Humor. „Solange wir uns nicht ausziehen müssen, können die anderen nackt sein“, sagt Ibrahim Atwan. „Wenn du aufhörst, die Frauen anzugaffen, soll das mir auch recht sein.“ Beide müssen kichern.
Berlin: An jeder Ecke Halal-Lebensmittel
Um die Flucht zu finanzieren, verkaufte Ibrahim Atwan vor rund drei Monaten seine Wohnung an einen Immobilienmakler, der Zimmer an ausländische IS-Kämpfer vermietet. Zusammen mit den Ersparnissen hatte er 3000 Euro zusammen. Er packte seine Frau und seine Kinder, gab all sein Geld in die Hände eines Schleppers und machte sich auf den Weg nach Berlin. Nun sind sie hier. Vielleicht für immer. Denn Ibrahim Atwan kann sich nicht vorstellen, in das zerstörte Syrien zurückzukehren.
Die junge Familie, sie hoffte auf ein bisschen Geborgenheit. In Deutschland, vielleicht auch in Schweden. Vor ein paar Wochen schliefen die Atwans zum ersten Mal in ihrem Leben schon einmal unter freiem Himmel. Das war in einem Wald in Griechenland. Sie hatten Angst. Aber mit dem Mut der Erschöpfung und der Hoffnung, eines Tages in Berlin anzukommen, gingen sie einfach weiter. „Syrer haben uns erklärt, wir sollten in die Hauptstadt von Deutschland gehen“, erzählt Ibrahim Atwan. Er habe gehört, Berlin sei eine offene und tolerante Stadt, und dachte, dass das Zentrum des reichsten Landes in Europa eine gute Wahl sei. Außerdem gebe es hier viele Einwanderer und man bekomme hier fast an jeder Ecke Halal-Lebensmittel.
„Große Städte haben auch viel mehr Wohnraum“, dachte Ibrahim Atwan. Falsch, wie er nun im Hof der Moschee feststellt.
Ein Kind sollte nicht flüchten, nicht obdachlos sein
Die jungen Schiiten aus dem Irak haben ihre sufische Zeremonie beendet, einer von ihnen stellt sich aus ein paar Stühlen ein Bett zusammen. Er schnarcht laut. An der Wand zeigt eine Digitalanzeige die Zeit für das nächste Gebet an: Sonnenaufgang um 5.43 Uhr. Da müssen die Atwans längst wieder in der Schlange vor dem Amt stehen. Die Familie verkriecht sich in eine Ecke des Gebetsraumes. Die weiße Decke hat die Mutter vor der Moscheetür abgelegt. Sie ist zu schmutzig für das Gotteshaus. Wie lange sie in der Moschee mit dem alten Teppichboden bleiben dürfen, wissen sie nicht. Alles außer schlaflosen Nächten im Kleinen Tiergarten sei ihnen aber recht.
Am nächsten Morgen um kurz vor fünf zieht Ibrahim Atwan einen schwarzen Rollkoffer mit Kleidern hinter sich her. Eine Spende aus der Moschee. Der einjährige Jamin interessierte sich nicht für die frisch gewaschene Kleidung. Er habe auf sein Lieblingsshirt bestanden, das er schon seit Tagen trägt, erklärt die Mutter. „Papas Kumpel“ steht drauf. Es war nicht geplant, dass Khaled noch ein Brüderchen bekommt, nicht in den Zeiten des Krieges. Jamin war ein „Unfall“, sagt der Vater. Das Kind zieht die rechte Augenbraue hoch und spielt weiter mit seinem Frühstück: Schokoladenkekse vom gestrigen Tag. „Ein Kind sollte nicht flüchten, ein Kind sollte nicht obdachlos sein, ein Kind sollte nicht im Park schlafen“, sagt der Vater und lässt sich auf den Boden fallen.
Die strohigen Gräser vor der Asylbehörde bohren sich in die Haut. Da sitzen sie also wieder – und hoffen, am Ende des Tages endlich eine Unterkunft zu haben. Die Atwans haben diesmal den Platz unter einem Tannenbaum ergattert, sie breiten wieder ihre Decke aus. Mutter Asma pickt vertrocknete Hölzchen und Baumnadeln von der Decke. „Wir versuchen, es uns so gemütlich wie möglich zu machen“, sagt sie.
Hoffnung auf ein weiches Bett
Und dann passiert es. Nach vier Tagen Wartezeit und Obdachlosigkeit, nach einer Nacht im Park mit Betrunkenen und zwei Nächten im Gotteshaus wird die Nummer 14 806 als eine der ersten aufgerufen. Die Atwans verschwinden in der Menge der Asylbewerber. Sie können es kaum erwarten, sich endlich fallen zu lassen. Vielleicht sogar auf ein weiches Bett. Eine Software wird sie in eine Unterkunft irgendwo in Deutschland vermitteln. Ihre weiße Winterdecke mit den Schokoladenflecken lassen die Atwans auf dem Rasen vor der Behörde zurück. „Die wird heute Nacht noch jemand brauchen“, hatte Asma Atwan zum Abschied gesagt.