Flüchtlingskrise in Berlin: Das Chaos vor dem Lageso war programmiert
Berlin muss 2015 30.000 Flüchtlinge unterbringen. Vor allem die Flughäfen und dass viele Verwandte in der Stadt wohnen, zieht die Menschen hierher. Ein Überblick zu den wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie viele Flüchtlinge kommen?
In diesem Jahr werden 600 000, womöglich auch 700 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Mehr als 30 000 werden in Berlin untergebracht. Im ganzen Jahr 2014 waren es in der Stadt 12 200. Zum Vergleich: 2005 kamen nur 1500 neue Asylbewerber nach Berlin.
Die Verteilung richtet sich nach dem „Königsteiner Schlüssel“ – einem Verfahren, für das Steuereinnahmen und Einwohnerzahlen herangezogen werden. Darum ist es rechtlich schwierig, Flüchtlinge schwerpunktmäßig in Orten unterzubringen, aus denen seit der Wende viele Einwohner weggezogen sind. In Berlin kommen schon wegen der Flughäfen mehr Flüchtlinge an als in anderen Bundesländern, außerdem haben viele hier Angehörige. Berlin müsste außerdem 11 000 Obdachlose versorgen – eine Frage, die sich ab Herbst drängender stellen wird.
Wo wohnen die Flüchtlinge in Berlin?
Die meisten Asylbewerber – inzwischen wohl 16 000 – wohnen in den 61 Sammelunterkünften. Oft sind das Heime in früheren Schulen oder alten Bürogebäuden. Dazu kommen zwei Traglufthallen und bald sechs Wohncontaineranlagen. Außerdem wohnen fast 2000 Flüchtlinge in Hostels. Rund 9000 Asylbewerber leben in Mietwohnungen – oft bei Verwandten. Im Winter wurden Turnhallen als Notunterkünfte belegt – das hatte Proteste ausgelöst, Schul- oder Vereinssport fiel aus. Sozialsenator Mario Czaja (CDU) möchte eigentlich mehr Flüchtlinge dezentral in Wohnungen unterzubringen. Weil aber so viele kommen, sollen eigens Modulbauten errichtet werden: Mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder können in jedem Neubau wohnen. Doch die Häuser werden erst 2016 fertig.
Woher kommen die Flüchtlinge?
Die meisten Asylbewerber kommen derzeit aus Syrien. Lange kamen vor allem Roma aus Serbien, Mazedonien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina – zuletzt allerdings auch viele Albaner aus den Balkanstaaten. Weil diese als sichere Herkunftsländer eingestuft worden sind bzw. werden sollen, werden von dort weniger Asylbewerber erwartet. Inzwischen dürften die meisten Asylbewerber neben Syrern aus Irak, Afghanistan und Libyen stammen. Die Kosten für die Unterbringung aller Asylbewerber bezahlen die Bundesländer. Mit den Geldern werden Unterkunft, Lebensmittel, Medizin und Sprachkurse finanziert. Je nach Vorbedingungen und Ausstattung der Heime sind dies meist zwischen zehn und 40 Euro pro Tag und Flüchtling. Der Bund hat Zuschüsse gewährt.
Wer organisiert die Unterbringung?
In Berlin ist das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) dafür zuständig. Das Lageso hat weniger als 1000 Mitarbeiter. Vor zehn Jahren, als die Flüchtlingszahlen viel niedriger waren, hatte das Lageso nach Mitarbeiterangaben noch 200 Angestellte mehr. Seitdem aber haben die beiden Senatskoalitionen – also Rot-Rot und Rot-Schwarz – die Landeskasse schonen wollen. In fast allen Behörden wurden Stellen gestrichen. Weil seit den Kriegen im Nahen Osten aber in der Flüchtlingsunterbringung besonders viel zu tun ist, fällt der Personalmangel beim Lageso am meisten auf.
Wieso steht das Lageso in der Kritik?
Seit der Druck steigt, protestieren Lageso-Mitarbeiter regelmäßig: Man brauche mehr Personal und mehr Unterkünfte, um neue Flüchtlinge unterzubringen. Senator Czaja reagierte zwar ebenfalls, aber zunächst zögerlich. Czaja hat versucht, Gebäude von den Bezirksämtern zu akquirieren. In einigen Bezirken im Westen der Stadt aber fanden die lokalen Beamten auffallend wenig „geeignete“ Unterkünfte. Czaja machte zwar Druck, das Lageso aber bekam nur zögerlich Extramitarbeiter anderer Verwaltungen.
Unterkünfte seien Aufgabe des Sozialsenators, hieß es auch noch in der Zeit, als Michael Müller (SPD) Regierender Bürgermeister wurde. Lageso-Beamte haben Heimbetreibern dann ohne einwandfreie Verträge den Auftrag erteilt, Flüchtlinge unterzubringen. Nicht nur bei Privatfirmen, auch bei Sozialverbänden stellten Wirtschaftsprüfer später „intransparente Verfahren“ fest. Die Flüchtlingsunterbringung wurde Lageso-Chef Franz Allert deshalb von Czaja entzogen. Sie untersteht nun als Extra-Abteilung de facto Sozialstaatssekretär Dirk Gerstle (CDU). Allerdings, darauf wiesen Lageso-Personalräte in einem Brief an den Tagesspiegel hin, stehe man in der Unterbringungsleitstelle vor der Wahl, „streng nach Vorschrift zu handeln oder die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und Obdachlosigkeit zu verhindern“. Das Chaos der letzten Tage vor dem Amt war damit praktisch programmiert.