Homosexuelle in der DDR: „Wir fordern eine Aufarbeitung der Bewegung“
In den Achtzigern leisteten auch Lesben und Schwule Widerstand gegen das DDR-Regime. Aktivist*innen wie Wolfgang Beyer vermissen eine umfangreiche Forschung dazu. Ein Gespräch.
Herr Beyer, Sie fordern zusammen mit Anette Detering und Christian Pulz, dass die Lesben- und Schwulenbewegung in den achtziger Jahren in der DDR wissenschaftlich aufgearbeitet wird und stärker im öffentlichen Diskurs vorkommt. Warum?
Wir kritisieren, dass es über die unabhängige Lesben- und Schwulenbewegung in der DDR der achtziger Jahre bis heute eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung gar nicht gibt. Es liegen zwar zahlreiche Einzeldarstellungen vor, die stammen aber fast ausschließlich von damaligen Aktivisten und Aktivistinnen selbst.
Ursula Sillge, die Mitbegründerin des Sonntags-Club, hat 1991 beispielsweise „Un – Sichtbare Frauen“ geschrieben, Rainer Marbach und Volker Weiß haben 2017 den Sammelband „Konformitäten und Konfrontationen“ herausgebracht. Und Eduard Stapel, einer der Mitbegründer der Schwulenbewegung in der DDR, hat vor etwa zehn Jahren eine kleine Publikation beim Magdeburger Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen über seinen eigenen Fall publiziert.
Über das politische und gesellschaftliche System „DDR“ gibt es bei der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) oder von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur riesige Publikationsreihen. Niemand hat dort aber bisher systematisch diese mehr als zehnjährige Bewegung der Lesben und Schwulen in DDR aufgearbeitet und die unzähligen Dokumente des MfS – die von zahlreichen Betroffenen selber ja schon angefordert und eingesehen wurden – dazu ausgewertet. Diese Forschungslücke fällt einfach auf. Jeder Person, die sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt, müsste das auch auffallen.
Wie kommen Sie selbst zu diesem Befund?
Zum Ersten durch die langjährige Freundschaft mit Christian Pulz, zum Zweiten aber durch die Entstehung des Films „Out in Ost-Berlin“ von Jochen Hick und Andreas Strohfeldt aus dem Jahr 2013. Dieser Film war ein Versuch, auch die politische Dimension der Bewegung in den Blick zu nehmen. Es kommen zahlreiche Protagonisten der ostdeutschen Lesben- und Schwulenbewegung zu Wort – unter anderem auch Christian Pulz, einer der Hauptakteure der damaligen Emanzipationsbewegung in der DDR.
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Im Rahmen der Recherche zu diesem Filmprojekt habe ich erste eigene Forschungen anhand der MfS-Akten über Christian Pulz begonnen. Er gründete 1982 zusammen mit Eduard Stapel und Matthias Kittlitz den ersten Arbeitskreis Homosexualität der evangelischen Studierendengemeinde in Leipzig.
Kurz darauf ging er nach Ost-Berlin. 1984 hat die Staatssicherheit einen sogenannten OV – einen Operativen Vorgang – mit dem Namen „Orion“ über ihn angelegt. Allein diese Akte umfasst 10.000 Seiten über einen Zeitraum von sechs bis sieben Jahren. Schon an dieser umfangreichen Datensammlung kann man erkennen, wie aktiv in den achtziger Jahren die Ost-Berliner Lesben- und Schwulenbewegung war und wie vehement der DDR-Staatsapparat darauf reagiert hat.
Wie weit sind Sie mit Ihrer eigenen Forschung gekommen?
Zusammen mit Christian Pulz und Wolfgang Rüddenklau bin ich damals mit unserem Anliegen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung an Tom Sello und die Robert-Havemann-Gesellschaft herangetreten. Im Rahmen meines damaligen Theologiestudiums habe ich 2014 beauftragt von der Robert-Havemann-Gesellschaft zusammen mit Tom Sello, dem heutigen Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, einen Forschungsantrag bei der BStU gestellt.
Wir hatten versucht, Akteneinsicht zum Thema „Lesben und Schwule in der DDR und deren Gruppen“ zu bekommen. Unsere Forschung wurde allerdings von der Behörde durch eine auffällig umfangreiche und für uns zum Teil nicht nachvollziehbare Namensschwärzung behindert. Dies wurde uns in einem Gespräch damit begründet, dass das Thema unter die Rubrik „Sexualität“ falle und als „Privatangelegenheit“ behandelt würde.
Das hat mich wahnsinnig empört, da Homosexualität in der Argumentation der Behördenvertreter wie ein Problem dargestellt wurde und die damals öffentlichen homosexuellen Aktionen und Veranstaltungen im Nachhinein zu Privatangelegenheiten degradiert wurden. Auch die SED und die Staatssicherheit haben damals gegenüber den Lesben- und Schwulengruppen in der DDR argumentiert, Homosexualität sei eine „Privatangelegenheit“.
Wie argumentieren Sie?
Homosexualität ist und war schon immer ein Politikum. Es wird von vielen Historikern und Historikerinnen aber nicht ernst genommen. Wir denken aber, es können neue Erkenntnisse gewonnen werden, wenn die Lesben- und Schwulenbewegung als eine völlig neuartige Widerstandsbewegung innerhalb der DDR-Diktatur angesehen wird, der es um grundsätzliche Fragen wie Sexualität, Selbstbewusstsein, Selbsthass und Anti-Homosexualität ging. Gleichzeitig war damit auch immer die Kritik an allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen verbunden. Uns geht es darum, den Blick auf widerständiges Verhalten in der DDR zu weiten. Das ist ein Riesenthema für die wissenschaftliche Forschung.
Warum ist Ihnen das Anliegen so wichtig?
Ich bin 1980 in Ost-Berlin geboren und komme aus einem strammen SED-Elternhaus. In meiner Familie gab es zu DDR-Zeiten nie persönliche Kontakte mit DDR-Bürgerrechtlern oder zu kirchlichen Gruppen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem DDR-System, und auch mit meiner eigenen Familie, kam Ende der neunziger Jahre, als ich Christian Pulz und sein Umfeld kennenlernte. In dieser Zeit erfolgte auch mein eigenes Coming-out.
Durch Christian Pulz habe ich auch von der damaligen DDR-Widerstandsbewegung in der evangelischen Kirche erfahren. Das war damals völlig neu für mich, dass Schwule und Lesben irgendetwas mit der Kirche zu tun haben können. Aber gerade die evangelische Kirche war in der DDR oft mit der einzige Ort, wo sich unabhängig vom Staat überhaupt Gruppen bilden konnten. All diese Akteure und Akteurinnen wurden durch das Ende der DDR, das Ende der Diktatur und das Ende Stasi obsolet. Viele damalige Protagonisten haben heute mit dieser Bewegungsgeschichte nichts mehr zu tun. Das würden wir gerne ändern.
Was meinen Sie genau?
Im heutigen Diskurs kommt diese Emanzipationsgeschichte so gut wie gar nicht vor, als ob es sie nie gegeben hat. Die Ursachen und Hintergründe zur Entstehung dieser Widerstandsbewegung in der DDR sind fast völlig in Vergessenheit geraten. Als ich damals mein Coming-out hatte, ist mir selbst bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass diese Geschichte erforscht und erzählt wird.
Mich selbst haben diesen Erzählungen politisiert. Mir ist klar geworden, wie ernst das Leben für mich dadurch geworden ist. Welche Auswirkungen politische Entscheidungen auf mein und das Leben anderer haben. Mit meinem Coming-out als schwuler Mann ist mir auch bewusst geworden, in welche harten Konflikte man auf einmal mit Freunden, in der Schule und auch mit bestimmten strukturellen und auch Systemfragen gerät.
Sie kritisieren aber noch mehr.
Die damaligen Akteure und Akteurinnen kommen viel zu wenig im öffentlichen Diskurs zu Wort. Sie müssen aber auch selbst aktiv werden, sie müssen Netzwerke bilden und sich eine Stimme verschaffen. Sie müssen anfangen, die Öffentlichkeit für sich zu interessieren. Diese ostdeutsche Emanzipationsgeschichte bietet mindestens genauso viel Stoff wie „Das Leben der Anderen“.
Wie bewerten Sie denn die mediale Darstellung?
In der Berichterstattung über die diesjährige Pride-Demonstration, die wir mit organisiert haben, ist uns aufgefallen, dass Lesben und Schwule in der DDR – wenn überhaupt – nur als Opfer wahrgenommen werden. Uns geht es darum, dass diese Bewegung eine politische, emanzipatorische Widerstandsbewegung war. Anfang der achtziger Jahre wurden die Gruppen „Schwule in der Kirche – Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe“ und der „Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe Berlin – Lesben in der Kirche“ gegründet.
Wie andere nicht genehmigte Gruppen wurden auch sie von der Staatssicherheit beobachtet und bespitzelt. Die damaligen Aktivisten und Aktivistinnen haben sich mit ihren zahlreichen Aktionen aber gerade nicht zu Opfern machen lassen. Auch deshalb überlegen Anette Detering, Christian Pulz, andere Freunde und ich, ob wir nicht anfangen, alle Leute, die damals daran beteiligt waren, wieder zusammenzubringen und im kommenden Jahr einen Ost-Berliner CSD zu veranstalten.
Den ersten CSD in Ost-Berlin gab es ja schon 1983.
Ja, diese interessante Geschichte ist auch völlig in Vergessenheit geraten. Im Frühjahr 1983 sind 13 Schwule und Lesben nach Oranienburg gefahren, um dort in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen zu sehen, ob und wie an die Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen erinnert wird. Diese Aktion hatte Christian Pulz sehr spontan vorgeschlagen in Anlehnung an den CSD, trotzdem hatte die Stasi davon erfahren und auf dem S-Bahnhof Oranienburg alle 13 Personen festgehalten und verhört. Ein öffentliches Auftreten von Homosexuellen sollte verhindert werden.
Trotzdem hat die Gruppe später die Gedenkstätte besucht und im Gästebuch einen Eintrag hinterlassen: "Wir gedachten heute der im KZ Sachsenhausen ermordeten homosexuellen Häftlinge. Wir waren sehr betroffen, hier nichts über ihr Schicksal zu erfahren." Die Aktion lässt sich durch Akten des MfS nachvollziehen. Sie könnte heute als erstes bekanntes Erinnern an die Verfolgung homosexueller Menschen im Nationalsozialismus von Lesben und Schwule in der DDR gelten.
Wie genau haben Sie sich diesen Ost-CSD denn vorgestellt?
Mir wäre es am liebsten, wir hätten eine Art CSD-Dachverband, wo es neben dem großen Christopher Street Day auch einzelne Gruppen gibt, die ihre politischen Anliegen in die Öffentlichkeit tragen. Bisher gab es immer nur einen West-CSD, auf dem die ostdeutsche Emanzipationsgeschichte der Lesben und Schwulen kaum vorkommt. In den letzten Jahren führte die Route immer durch den Westteil der Stadt und vor dem Brandenburger Tor war Schluss. Aber gerade in Prenzlauer Berg, der zu DDR-Zeiten ein alternatives Szeneviertel war, gab es viele schwul-lesbische Treffpunkte, die heute größtenteils unbekannt sind.
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Noch ein CSD könnte die Community auch weiter spalten?
Ich denke zunächst einmal ganz grundsätzlich, dass es nicht den einen „offiziellen“ CSD gibt. Die vielen Demonstrationen, die ja auch dieses Jahr im „Pride Month“ stattfinden, sind alle Vergegenwärtigung dessen, was mit dem Aufstand 1969 in New York passiert ist: Coming-out und Widerstand gegen das, was uns kaputtmacht. Das kann eigentlich gar nicht oft genug passieren. Ein Jahr später, 1970, begann die Geschichte der Erinnerung und Vergegenwärtigung mit öffentlich organisierten Demonstrationen.
Für Berlin würden wir uns 2021 wünschen, in Form eines Sternmarsches, den unterschiedlichsten Milieus, in die wir als LGBTIQ geboren werden, Rechnung zu tragen. Ich denke, dass es an der Zeit ist, die Vielfalt der Community und die unendlich vielen Geschichten von uns allen auch in der Form des CSD auszudrücken. Das ist eigentlich das Gegenteil von Spaltung, denn uns alle verbindet die befreiende Erfahrung unseres Coming-outs. Nach unserem Eindruck ist die Mitte Berlins mit dem Alexanderplatz, der gegebene Ort, an dem sich die unterschiedlichen Pride-Demos treffen und dort ihren gemeinsamen Willen zur Selbstbestimmung von LGBTIQ ausdrücken könnten.
Auf der Pride-Demo im Juni haben Sie sich auch mit der queeren Community in Polen solidarisiert.
Uns ging es darum, auf die gegenwärtige brutale Situation der LGBTIQ-Community in Polen aufmerksam zu machen, wo mit sogenannten „LGBT-freien Zonen“ Hass gegen homosexuelle Menschen geschürt wird und der katholische Erzbischof von Krakau, Marek Jędraszewski, mit aggressivem Ton gegen homosexuelle Menschen hetzt. Er spricht von einer „LGBT-Ideologie“ und behauptet, nach der „roten Pest“ komme die „Regenbogenpest“.
Wenn man sich mit der Widerstandskraft der Lesben- und Schwulenbewegung gegen die kommunistischen Diktaturen beschäftigt, dann ist diese Gleichsetzung der LGBTIQ-Bewegung mit dem damaligen kommunistischen Regime völlig absurd. In Polen haben in den achtziger Jahren die Solidarność und die katholische Kirche den Freiheitskampf gegen den damaligen Kommunismus geführt. Umso schlimmer ist es, dass manche der damaligen Akteure heute so aggressiv homosexuelle Menschen und ihren Freiheitskampf verfolgen.
Um noch einmal auf die DDR zurückzukommen. In den achtziger Jahren hat sich die ostdeutsche Lesben- und Schwulenbewegung aber auch sehr an der westdeutschen Bewegung orientiert.
Das stimmt. Gerade in den achtziger Jahren sind die DDR-Gruppen sehr von der Westemanzipation beeinflusst worden. Das war auch einer der Gründe für die politische Sprengkraft. Die persönliche Befreiung und Emanzipation waren zu gesellschaftlichen Fragen geworden. Dieser Ansatz kam aus dem Westen und deshalb waren die Lesben- und Schwulengruppen in der DDR auch West-Emanzipationsgruppen.
Aber sie agierten in einem sozialistischen und diktatorischen Umfeld, und das ist mit der große und relevante Unterschied. Wir sprechen auch nicht nur von Ost-Berlin, wo sich in der DDR natürlich die Lesben- und Schwulenbewegung in den achtziger Jahren konzentrierte.
Unter dem Dach der evangelischen Kirche gab es auch Gruppen in Rostock, Schwerin, Magdeburg, Leipzig, Dresden. Ich glaube, dass sich auch Westdeutsche diese ostdeutsche Geschichte mit aneignen können. Das erweitert den Horizont und auch die Möglichkeiten des Miteinanders.
Welche Erwartungen verbinden Sie noch mit einer größeren Aufmerksamkeit für das Thema?
Ich würde mir wünschen, dass junge Menschen ihre Homosexualität als ein Politikum verstehen und die gesellschaftspolitische Relevanz begreifen. Diese Erkenntnis hat bei den damaligen Aktivisten und Aktivistinnen in der Diktatur ganz persönliche Kräfte freigesetzt. Diese Menschen waren damals mutig und sie haben sich in Gefahr begeben. Sie hätten auch ins Gefängnis kommen können.
Allerdings sind relativ wenige verhaftet worden. Und die, die sich in Gruppen engagierten, eigentlich gar nicht. Ich glaube, dass gerade die Gruppen, das Coming-out und die Solidarität untereinander die Lesben und Schwulen damals in der DDR unheimlich stark und unabhängig gemacht haben. Das hat sie befähigt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Und ich bin überzeugt, das ist für queere Menschen heute noch genauso relevant.
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