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Das Sondierungspapier liegt vor und darin sind auch Verbesserungen für queere Menschen vorgesehen.
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Exklusiv

Grüne Queer-Expert*innen über Ampel-Pläne: „In der Queerpolitik ist endlich ein Aufbruch möglich“

Das Ampel-Sondierungspapier sieht auch Verbesserungen für queere Menschen vor. Eine Einschätzung der Grünen Ulle Schauws und Sven Lehmann.

Das zwölfseitige Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP liegt vor – und darin sind auch Verbesserungen für queere Menschen vorgesehen. Unter anderem heißt es, „an die gesellschaftliche Realität angepasst werden“ sollen das Transsexuellengesetz, das Abstammungsrecht, das Familienrecht und Regeln zur Reproduktionsmedizin. Konkrete Details nennt das Papier noch nicht.

Der Queerspiegel, der LGBTI-Blog des Tagesspiegels, hat Ulle Schauws und Sven Lehmann, die Queer-Expert*innen der Grünen im Bundestag, zu den Sondierungen und den möglichen gesellschafts- und queerpolitischen Vorhaben der Ampelkoalition schriftlich befragt.

Herr Lehmann und Frau Schauws, die Ampel will einen gesellschaftlichen Aufbruch Was genau ist damit gemeint?
Ulle Schauws: Unsere Gesellschaft ist vielfältig. Menschen haben unterschiedliche Lebensentwürfe, Lebensumstände und Herkunftsgeschichten. Es geht jetzt darum, diese bestehende Realität nicht nur anzuerkennen, sondern auch dafür zu sorgen, dass alle Menschen gleichberechtigt, frei und sicher hier leben können. Dazu muss sich die Rechtsordnung an die gesellschaftliche Realität anpassen und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Hasskriminalität und Diskriminierung in jeglicher Form wollen wir entschieden entgegen treten.

Sven Lehmann: Die CDU und CSU haben sich gerade in gesellschaftspolitischen Fragen diesen Herausforderungen weitestgehend verweigert und sind im Gestern verharrt.

SPD, Grüne und FDP haben sich während der Sondierungen darauf verständigt, dass ein gesellschaftspolitischer Aufbruch eines der Kernanliegen in einer möglichen Koalition sein muss.

Welche gesellschaftspolitischen Leuchtturmprojekte muss eine Ampelkoalition angehen?
Ulle Schauws: Wir brauchen eine Reform des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz mit einer Ergänzung um den Schutz queerer Menschen und die Ersetzung des Begriffs „Rasse“. Außerdem müssen wir eine moderne Familienpolitik gestalten, die sich an die Realität von unterschiedlichen Familienformen orientiert, damit alle Kinder in diesem Land rechtlich und sozial gut abgesichert sind.

Wir müssen Menschen, die unabhängig von traditionellen Familienformen füreinander Sorge tragen ermöglichen, dies auf einer rechtlich abgesicherten Grundlage zu tun. Dafür müssen das Familienrecht und im ersten Schritt das Abstammungsrecht reformiert werden.

Sven Lehmann: Und wir müssen für gleichberechtigte Teilhabe und Zugänge sorgen, um die Chancen derjenigen zu verbessern, die jetzt zum Beispiel aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität, ihrer Hautfarbe oder einer Behinderung benachteiligt sind.

Dazu müssen wir die Antidiskriminierungsarbeit in all diesen Bereichen gezielt ausrichten und verstärken, aber auch die strukturelle Förderung der Arbeit von Verbänden und Vereinen mit einem Demokratiefördergesetz auf verlässliche Beine stellen.

Ulle Schauws, 55, ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags.
Ulle Schauws, 55, ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags.
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Was ist in der Queerpolitik nötig?
Sven Lehmann: In der Queerpolitik ist endlich ein Aufbruch möglich. Ausgehend vom Leitgedanken der Selbstbestimmung muss die neue Koalition progressive Queerpolitik betreiben und Diskriminierung jeglicher Art aktiv bekämpfen. Der Schutz von Menschen aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität muss im Grundgesetz sichergestellt werden und die Grundrechte von trans-, intergeschlechtlichen und nicht binären Menschen müssen endlich vollständig durchgesetzt werden. Wir werden zudem das Transsexuellengesetz überwinden und durch ein neues Gesetz ersetzen, dessen Leitbild die persönliche Freiheit und nicht irgendwelche Ordnungsvorstellungen über die Geschlechter ist.

Ulle Schauws: Das Abstammungsrecht wollen wir endlich diskriminierungsfrei gestalten und das Familienrecht modernisieren. Es braucht zudem eine breit angelegte Strategie zur Bekämpfung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit - darunter explizit der Queerfeindlichkeit. Nicht zuletzt müssen wir unserer internationalen und humanitären Verantwortung Rechnung tragen und die deutsche Flüchtlings- sowie Außenpolitik stärker an die Einhaltung der universellen Menschenrechte ausrichten. Grüne Konzepte und Gesetzentwürfe liegen zu all diesen Punkten vor.

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Da viele queerpolitischen Themen ja seit Jahren auf dem Tisch liegen - Selbstbestimmungsrecht, Abstammungsrecht, Nationaler Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie– wie schnell kann das umgesetzt werden?
Sven Lehmann: Am schnellsten ließen sich sicher das Abstammungsrecht und das Selbstbestimmungsgesetz umsetzen, da es hierzu bereits ausführliche Beratungen gab und entsprechende Gesetzentwürfe vorliegen. Ein Nationaler Aktionsplan für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und gegen Queerfeindlichkeit könnte zügig auf den Weg gebracht werden. Da es uns aber ein wichtiges Anliegen ist, die Verbände in die Erarbeitung eng einzubeziehen, wird dies ein dauerhafter Prozess, den wir ressortübergreifend anlegen wollen.

Dies wollen wir gut vorbereiten und strukturieren, damit er am Ende eine breite Akzeptanz findet und seine Wirkung entfaltet. Darüber hinaus brauchen wir klare Regelungen zum Schutz, zur Aufnahme und zur Anerkennung von LSBTI Geflüchteten. Das Familienrecht muss an die vielfältigen Familienkonstellationen angepasst werden. Hier brauchen wir aber noch etwas Zeit, um unsere Konzepte in gesetzliche Rahmen zu bringen.

Sven Lehmann, 41, ist Mitglied des Deutschen Bundestags seit 2017.
Sven Lehmann, 41, ist Mitglied des Deutschen Bundestags seit 2017.
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Insbesondere beim Abstammungsrecht, das ja schon vom Verfassungsgericht geprüft wird, würde uns interessieren, ob das bereits im kommenden Jahr geregelt werden kann und für welche Regelung die Grünen plädieren.
Ulle Schauws: Beim Abstammungsrecht sind wir für eine schnelle Reform bereit, die schon im kommenden Jahr in Kraft treten könnte. Wichtig für uns ist, dass wir dabei die ganze Vielfalt von Regenbogenfamilien mitdenken und Personen jeden Geschlechts mit heterosexuellen Paaren in diesem Bereich gleichstellen.

Bald läuft die Frist für die Entschädigung homo- und bisexueller Männer ab, aber es haben nur wenige ihren Anspruch wahrgenommen. Muss die Frist verlängert werden?
Sven Lehmann: Leider ist der Entschädigungsanspruch so lange verschleppt worden, dass viel der betroffenen Menschen bereits verstorben sind oder sich im hohen Alter nicht mehr in der Lage sehen, entsprechende Anträge zu stellen. Auch die Angst vor einem Outing oder einer Re-Traumatisierung spielt eine Rolle. Eine Fristverlängerung ist daher wahrscheinlich keine Lösung, mehr Menschen die ihnen zustehende Entschädigung zu ermöglichen. Deshalb schlagen wir vor, dass die für die Entschädigung zur Verfügung gestellte Summe in eine Kollektiventschädigung übergeht, die dann in der Senior*innenarbeit queeren Projekten zur Verfügung stehen soll.

Es sind gerade die kleineren zivilgesellschaftlichen Initiativen, Clubs, Beratungen etc, die durch die Corona-Krise sehr gelitten haben. Wie kann der Bund diese Infrastruktur stärken?
Ulle Schauws: Während der Corona-Krise haben wir uns intensiv mit Verantwortlichen aus Verbänden und Vereinen zu wegbrechenden Eigenmitteln, Sponsoring und fehlender Infrastruktur ausgetauscht. Deswegen haben wir Grüne schon früh einen zivilgesellschaftlichen Rettungsschirm gefordert, damit die Vereine schnell und unbürokratisch Überbrückungshilfen erhalten und so ihre wichtige Arbeit fortsetzen konnten. Ganz unabhängig von der Corona-Krise müssen wir aber das zivilgesellschaftliche Engagement zur gesellschaftlichen Teilhabe von LSBTIQ*-Personen dauerhaft stärken.

Dafür braucht es eine langfristige Strukturförderung, damit die Initiativen und Organisationen nachhaltig, projektunabhängig und unbürokratisch finanziell abgesichert sind. Das wollen wir im Rahmen eines Demokratiefördergesetzes als staatliche Daueraufgabe von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung festschreiben. Zudem wollen wir mit einem Aktionsplan der Zivilgesellschaft weitere Mittel zur Verfügung stellen.

Eine Reform des Abstammungsrechts könnte schon im kommenden Jahr in Kraft treten.
Eine Reform des Abstammungsrechts könnte schon im kommenden Jahr in Kraft treten.
© picture alliance / dpa-tmn

Ungarn, Polen, Russland, Ghana - überall sind Queers in Bedrängnis. Wie sollte der/die nächste Außenminister*in damit umgehen, welche Rolle sollten Menschenrechte in der Außenpolitik insgesamt spielen?
Sven Lehmann: Wir dürfen nicht hinnehmen, dass LSBTIQ* in etwa 70 Staaten weltweit kriminalisiert und sogar in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union diskriminiert werden. Deswegen müssen wir unserer internationalen und humanitären Verantwortung gerecht werden und stärker an die Einhaltung der Menschenrechte ausrichten – sowohl in der Außen- als auch in der Flüchtlingspolitik. In erster Linie wollen wir aber die EU stärken, damit wir unsere gemeinsamen europäischen Werte nach innen wie nach außen glaubwürdig vertreten können.

Im Falle von Polen und die sog. „LGBT-freien Zonen“ hat sich gezeigt, dass die Streichung von EU-Fördergeldern sich in manchen Regionen positiv ausgewirkt hat. Diesen finanziellen Hebel müssen wir auch weiterhin nutzen, damit staatliche Hetze und Diskriminierung nicht noch aus den europäischen Mittel finanziert wird.

SPD, Grüne und FDP sind sich queerpolitisch und insgesamt gesellschaftspolitisch ja eigentlich nah. Welche Schwierigkeiten sind dennoch zu erwarten?
Sven Lehmann: Ja, es gibt eine große, gemeinsame Bereitschaft, in einer möglichen gemeinsamen Regierung einen queerpolitischen Aufbruch zu schaffen, die Lebenssituation für queere Menschen zu verbessern und Diskriminierung abzubauen. Unterschiedliche Auffassungen kann es in Detailfragen geben. Jetzt aber suchen wir nach Gemeinsamkeiten, die in dem queerpolitischen Bereich sehr leicht zu finden sind.

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Wie könnte das große Thema Gesellschaftspolitik auch institutionell aufgewertet werden? Bräuchte es etwa ein Ministerium für gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Ulle Schauws: Wir Grüne haben uns in unserem Wahlprogramm dafür ausgesprochen. Vor allem die Queerpolitik muss in der nächsten Regierung aufgewertet werden. Wir wollen auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zur obersten Bundesbehörde aufwerten, mit mehr Personal, Budget und Kompetenzen. Ob diese strukturellen Reformen umgesetzt werden können, wissen wir aber erst am Ende der Koalitionsverhandlungen.

Wie erreicht man im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung beim Artikel Drei, um diesem um sexuelle und geschlechtliche Identität zu ergänzen?
Sven Lehmann: Hier sind wir als ganze Community gefragt. Nur, wenn es einen starken Druck aus der Gesellschaft gibt, besteht die Chance auf eine Zweidrittelmehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat. Streitigkeiten über Begrifflichkeiten sind dabei kontraproduktiv. Als Grüne sprechen wir seit Jahren auch mit Politiker*innen der Union und versuchen sie zu überzeugen, dass alle queeren Menschen als letzte von Nationalsozialisten verfolgte Gruppe vom Diskriminierungsschutz des Art. 3 Abs. 3 GG erfasst werden müssen. Einige von ihnen haben wir bereits für diese Forderung gewonnen. Aber nur wenn wir an einem Strang ziehen, werden wir am Ende erfolgreich sein.

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