So viele CSDs wie nie zuvor: Berliner Sommer der Paraden
In Berlin gibt es 2021 so viele Christopher Street Days wie nie. Stärkt das die queere Community – oder zersplittert es sie? Ein Erklärungsversuch.
Wann ist eigentlich der Christopher Street Day in Berlin? Auf diese vermeintlich einfache Frage gibt es in diesem Jahr keine einfache Antwort.
Es mag zwar noch pandemische Vorsicht angezeigt sein in diesem Sommer. Doch davon ist in der Pride-Saison in Berlin nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil scheinen die langen Monate der Isolation und des Lockdowns die Community eher zu beflügeln.
Pride, also ihren Stolz, wollen allein in den kommenden Wochen acht angemeldete Demonstrationen von queeren Gruppen auf die Straßen tragen. Ein neunter größerer Event könnte im September dhttps://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/der-safe-space-ist-wieder-offen-so-geht-es-queeren-bars-in-berlin-nach-dem-lockdown/27301280.htmlazu kommen.
Zum CSD Berlin Pride oder zum CSD Berlin?
Selbst Insider*innen verlieren da schon mal den Überblick, wo sie jetzt hingehen sollen. Zum „CSD Berlin Pride“ mit gleich drei sternförmig aufeinander zulaufenden Demos an diesem Wochenende – oder zum „CSD Berlin“ Ende Juli?
Allein diese beiden Veranstaltungen auseinanderzuhalten dürften nicht viele hinbekommen. Der erste ist ein Newcomer, der zweite der „traditionelle“ CSD, der in Vor-Pandemie-Zeiten Hunderttausende anlockte.
Klar: Die queere Community ist bunt, zumal in Berlin. Aber treibt sie das mit den Pridemärschen jetzt vielleicht nicht doch bisschen zu bunt?
Historisch ist der Christopher Street Day immer ein Tag der Selbstvergewisserung gewesen. Er erinnert an die Urstunde des queeren Emanzipationskampfes.
Stonewall 1969 als Geburtsstunde
Stonewall 1969, in der New Yorker Christopher Street wehren sich queere Menschen erstmals gegen die Polizeikontrollen in ihren Bars und die damit verbundene Demütigung und Diskriminierung. Der Tag des Aufstandes jährt sich in diesen Tagen zum 52. Mal. Wer auf den CSD geht, zeigt auch: Wir lassen uns nicht unterkriegen.
[Wer mehr über queere Themen erfahren will: Der Tagesspiegel-Newsletter Queerspiegel erscheint monatlich, immer am dritten Donnerstag. Hier kostenlos anmelden]
Während der Pandemie waren queere Menschen in besonderer Weise betroffen: Weil queere Bars und Clubs geschlossen waren, soziale Einrichtungen Hilfe nicht vor Ort anbieten konnten, fehlten viele ihre Schutzräume, ihre Rückzugsorte, in denen sie auftanken können.
Jetzt, wo viele queeren Einrichtungen der Stadt wieder öffnen, hätte der CSD eine besondere, einende Wirkung haben können. Als Event, wo die queere Community ihre eigene Rückkehr zelebriert. Woran liegt es, dass sich die Community offenbar auf genau das eben nicht einigen kann?
Kritik am CSD gibts immer wieder
Verschiedene Lesarten bieten sich an. Da ist zum einen die Kritik, die den CSD-Verein seit langem begleitet, der den Berliner CSD traditionell organisiert. Zu kommerziell sei die Parade, zu unpolitisch, heißt es immer wieder. Rassismusvorwürfe wurden nur zögerlich angegangen. Die Männerlastigkeit des Vereins stößt nicht nur Frauen auf.
Viele sehen daher nicht ein, warum sie sich von einem Verein vertreten lassen sollten, in dem sie sich nicht wiederfinden. „Wir verabschieden uns vom Gedanken, dass eine Institution das Monopol auf Ausrichtung einer CSD-Pride-Demonstration hat“, heißt es selbstbewusst vom neuen Sternen-Marsch „CSD Pride Berlin“, der daher auch gleich das „CSD“ in seinen Namen aufgenommen hat.
Forderungen von früher unterrepräsentierten Gruppen
Überhaupt ist die queere Community – ganz wie die Gesellschaft insgesamt – diverser geworden. Von „der Lesben- und Schwulenbewegung“ ist schon lange nicht mehr die Rede. Die Regenbogenfahne gibt es jetzt auch in einem neuem Design, ergänzt um mehrere Farben, die trans Menschen und People of Colour repräsentieren.
Das muss man gar nicht bösartig als Partikularinteressen interpretieren – sondern kann es auch als berechtigte Forderungen von Gruppen sehen, die früher unterrepräsentiert waren. Die trans Community ist in diesem Jahr mit einem Trans- Pride unterwegs. Queere People of Colour machen auf ihre Belange beim Sternen- Pride mit einem eigenen Zug ebenso aufmerksam wie der „East-Pride“ auf Ost-Berliner Anliegen.
Tatsächlich werden ja viele gesamtgesellschaftliche Debatten und Konflikte unter queeren Menschen ebenso kontrovers ausgefochten.
Nicht wenige schwule Männer reagieren befremdet, wenn ihnen auf einmal Privilegien vorgehalten werden. Wie bitte, sagen sie dann: Warum sollten ausgerechnet wir privilegiert sein, die jahrzehntelang diskriminiert wurden und immer noch werden?
Rassismus reflektieren? Das stößt nicht immer auf Gegenliebe
Dass es ihnen als Männer sozio-ökonomisch dennoch oft besser geht als etwa lesbischen Frauen, sie einen besseren Zugang zu Machtpositionen in Wirtschaft und Politik haben, blenden sie dabei aus.
Bei weißen queeren Menschen stößt es ebenfalls oft auf wenig Gegenliebe, wenn sie ihren eigenen Rassismus reflektieren sollen. Wir, die wir selber Minderheitenerfahrungen haben, können schon deswegen gar nicht rassistisch sein, heißt es dann oft. Ein Trugschluss: Als ob man sich durch ein Diskriminierungsmerkmal quasi gegen eigenes Diskriminieren impfen könnte.
Und Stichwort „Identitätspolitik“: Dass mit der französischen Philosophin Caroline Fourest ausgerechnet eine lesbische Frau mit der „Generation Beleidigt“ abrechnete, mag Zufall sein – zeigt aber, dass bei dem Thema queere Menschen keinesfalls den monolithischen Block bilden, zu dem sie von außen manchmal gerne gemacht werden.
Queere Menschen müssen von der Mehrheitsgesellschaft einiges aushalten, aber auch bei Auseinandersetzungen in der eigenen Community. Umso wichtiger ist es miteinander im Gespräch zu bleiben, sich an gemeinsame Ziele zu erinnern und diese immer wieder neu zu verhandeln. Dazu können mehrere Prides mit unterschiedlichen Schwerpunkten wertvolle Anstöße geben.
Ein Zeichen der Sichtbarkeit
Nun ist der CSD auch ein Zeichen der Sichtbarkeit. Wenn Hunderttausende Lesben, Schwule, Bisexuelle und trans Menschen auf die Straße gehen, sendet das ein Signal aus. Ein Signal der Kraft und der Unterstützung an die Menschen hierzulande, die sich vielleicht noch nicht öffentlich zeigen können. Sei es weil sie mitten im Coming Out sind, sei es, weil sie in einem homofeindlichen Umfeld leben.
Ebenso ist es ein Signal an Menschen anderswo. Kaum hundert Kilometer von Berlin entfernt gibt es in Polen „LGBTI-freie Zonen“, in denen queere Menschen von Staats wegen unerwünscht sind. In Ungarn hat die Regierung LGBTI-feindliche Gesetze beschlossen, was durch die Aufregung um das Uefa-Verbot der Regenbogenbeleuchtung in München auch hierzulande ins öffentliche Bewusstsein drang. Vor diesem Hintergrund ist es eben nicht selbstverständlich, dass sich wie in Berlin so viele queere Menschen friedlich auf der Straße für ihre Belange einsetzen und fröhlich feiern.
Die Berliner Community könnte sich ausgerechnet dieser Symbolik berauben, wenn sie aufgesplittert demonstriert. Eine Millionen Menschen an der Siegessäule werden weltweit in Nachrichten gezeigt, die Botschaft vervielfacht sich.
Achtmal einige tausend Menschen dürften sich eher verläppern, selbst wenn jedes einzelne Anliegen der Pride-Züge wichtig und relevant ist. Forderungen an die Politik in Deutschland – wie das unselige Transsexuellengesetz abzuschaffen – schadet es ebenfalls nicht, wenn sie von möglichst vielen gemeinsam ausgesprochen werden.
Ein Zurück zur großen Parade
Sicher, in diesem Sommer wären Millionen-Umzüge pandemiebedingt verantwortungslos, egal, in welche Richtung sich die Corona-Auflagen in entwickeln. Der „traditionelle“ CSD hat sich daher zurecht entschieden, für seinen Termin Ende Juli das Programm runterzudimmen und auf die großen Trucks zu verzichten.
Im kommenden Jahr soll es aber wieder ein Zurück zur großen Parade geben, kündigen die Veranstalter an. Da dürfte es spannend werden: Wird wieder der eine Zug die anderen von der Aufmerksamkeit her überstrahlen? Oder ist das Modell endgültig vorbei, bleibt es beim Trend zu mehreren, kleineren Umzügen?
Zwangsläufig muss das eine das andere gar nicht ausschließen. Niemand ist schließlich verpflichtet, sich für nur einen Pride-Umzug zu entscheiden. Wer weiß, womöglich wachsen auch die Newcomer mit. Die neue Vielfalt in der Vielfalt – sie könnte auch zu noch viel mehr Sichtbarkeit führen.