Ferien der Kindheit: Meine Freiheit in Budapest
Mit zwölf lernte unser Autor, was Kapitalismus ist. Dafür reiste er im Lada von Mecklenburg bis an die Donau. Lässt sich dieses Gefühl wiederholen?
Hier muss es gewesen sein. Ich stehe vor einem zehngeschossigen Plattenbau im Stadtteil Óbuda, eine lange Ladenzeile im Erdgeschoss. Wo heute Gesundheitstees und Açaí-Pillen verkauft werden, hielt ich 1985 meine erste „Bravo“ in der Hand. Ein Zwölfjähriger aus der DDR, gewöhnt ans Grau ostdeutscher Städte, plötzlich konfrontiert mit grellen Blousons und bunten Popstarfrisuren.
Budapest bedeutete damals West-Produkte und Palatschinken, Freiheit und Menschen in farbiger Kleidung. Es war die Stadt des Ostblocks, die sich für DDR-Bürger am meisten nach Paris anfühlte. Es war die Stadt, in der ich lernte, ein Kapitalist zu sein.
Als wir 1985 zum ersten Mal in die ungarische Hauptstadt fuhren, meine Eltern, mein älterer Bruder und ich, 1000 Kilometer nach Süden in einem weinroten Lada, Kennzeichen CFC 7-28, waren wir alle aufgekratzt. Würde die Burg wirklich so schön sein wie auf den Fotos? Würde meine Mutter ein Kleid finden, auf das sie hingespart hatte? Die Sonne schien in unser Auto, es lief Chris de Burgh im Radio, wir klebten an den braunen Kunstledersitzen fest, und jedes Mal, wenn ich mich nach vorne beugte, machte es am Rücken Flatsch.
An der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn wich die Aufregung einem realen Unwohlsein. Die Grenzbeamten wollten meinen 16-jährigen Bruder nicht einreisen lassen, weil er sich vor der Fahrt ein scharfes Zuckerwassergewächs frisiert hatte, das so gar keine Ähnlichkeit mit dem braven Mittelscheitel auf seinem Ausweisfoto besaß. Er musste aussteigen, vier Grenzer begutachteten seine Frisur, meine Eltern durften sich nicht rühren. Die Männer entschieden feixend, wer solche Haare mit sich herumtrug, sei schon bestraft genug. Der Schlagbaum ins gelobte Land öffnete sich für uns alle.
Wir entdeckten die Bravo, umgerechnet rund 20 Ost-Mark
Meine Mutter brachte uns „köszönöm szépen“ bei, damit wir uns richtig bedanken konnten. Sie erzählte, wie sie als junges Mädchen in Ungarn gewesen sei und zum ersten Mal eine Tanzveranstaltung unter freiem Himmel besucht hatte. Mein Vater schwärmte von Pfirsichen, die es einfach so auf Märkten gäbe – was ich gar nicht glauben mochte, weil ich mich zu Hause immer in lange Kaufhallenschlangen einreihen musste, wenn allein das Gerücht umging, dass „Südfrüchte“ geliefert werden würden.
Wir wohnten in einer kleinen Wohnung in der San Marco utca. Ein Freund meiner Eltern hatte sie organisiert, Hotels waren damals unbezahlbar. Abends trafen wir müde in der Unterkunft ein, morgens gingen wir nach dem Frühstück zum Florianplatz. Dort entdeckten mein Bruder und ich die „Bravo“ im Schaufenster. Sie war einige Wochen alt, fein eingeschlagen in Klarsichtfolie, als handle es sich um eine kostbare Papyrusrolle. Alphaville, Duran Duran, ein paar Italo-Popstars waren darin abgebildet. Die Zeitschrift war teuer, umgerechnet rund 20 Ost-Mark. Wir wollten sie natürlich haben. „Nein“, sagten unsere Eltern.
Doch der Stachel des Konsumwunsches bohrte sich tief in uns hinein. Er tat noch ein bisschen weh, als wir die römischen Säulen abschritten, die verloren zwischen den Neubauten standen. Unter der Verkehrskreuzung des Florianplatzes gab es eine Unterführung mit antiken Fundamenten. Ich erblickte Ruinen mit meinen eigenen Augen, bis dahin hatte ich sie nur von Fotos aus dem Geschichtsbuch Klasse 5 gekannt. Budapest 1985, das war altes Rom und Italo-Disko.
"Früher gab es nicht so viele dicke Frauen in Ungarn"
Mehr als 30 Jahre später stehen meine Mutter und ich an dem antiken Sockel, an dem wir das Familienfoto mit den ungarischen Freunden aufgenommen haben. Die Straßenbahnen fahren wie einst im Drei-Minuten-Takt über den Platz, in der Unterführung hängen noch die Funde. Ein Torso ist unter einem Ventilator eingemauert, beiläufig ist gar kein Ausdruck für die Lieblosigkeit, mit der die Kunstwerke an die Wand geklatscht wirken.
Wir schlendern zur Margareteninsel, ein Freizeitpark mitten in der Donau. Damals haben mein Bruder und ich auf dem Weg geschmollt, weil wir die „Bravo“ nicht haben durften. Heute lachen meine Mutter und ich darüber. Wir gehen ins Palatinus, das große Volksbad auf der zwei Kilometer langen schattigen Insel. Der Name ist seit den 1980er Jahren für mich mit Liegewiesen, Wellenbad und Thermalbecken verbunden. Ich gewöhnte mich zehn Jahre später nur schwer daran, dass der Hügel in Rom wohl nicht nach diesem Freibad in Budapest benannt war.
Wir bezahlen umgerechnet neun Euro Eintritt, suchen uns einen Platz unter Eiben und Rubinien. Meine Mutter zeigt auf die Kioske auf der anderen Seite. Palatschinken. Noch so ein kindlicher Irrtum: Früher dachte ich, es handle sich dabei um einen Snack, der aus einer Wurst hergestellt wurde. Wie hocherfreut ich war, als ich die dünnen Eierkuchen mit Schokoladensoße hinunterschlang. Palacsinta, drei Sterne, DDR-Michelin, mindestens. Heute esse ich sie aus Nostalgiegründen, wieder in der Badehose. Er schmeckt mir, obwohl er lappig ist. Meine Mutter schaut sich derweil die Menschen im Bad an. „Früher gab es nicht so viele dicke Frauen in Ungarn.“
Hier mal wohnen, träumte ich damals
Die „Bravo“ lässt uns nicht los. „Ich weiß noch, dass es damals Diskussionen gab“, sagt meine Mutter. Diskussionen? Das war ein Kulturkampf. Vernunft (meine Eltern) gegen Wahnsinn (wir Kinder), Konservatismus gegen Popmoderne, Geldgeber gegen Geldnehmer. „Wie kann man nur so viel Geld für so etwas ausgeben?“, hat meine Mutter damals gedacht.
Sie hatte ja recht. DDR-Bürger durften nur 15 Mark pro Tag umtauschen und höchstens für einen Zeitraum von zwei Wochen. Für vier Personen konnte man also etwa einen Monatslohn ausgeben. Eine „Bravo“ war ein Luxus wie heutzutage eine Prada-Handtasche – ein Ding, das man anstierte und gern gehabt hätte.
Drei Stunden im Palatinus gehen schnell vorüber. Mit der orangefarbenen Straßenbahn Nummer zwei fahren wir zur Kettenbrücke. An dem wuchtigen Bauwerk, das auf beiden Seiten zwei Löwen bewachen, steigen wir aus. Von der östlichen Donauseite hat man immer noch den schönsten Blick auf die weißen Türme der Fischerbastei und die Matthiaskirche aus Sandstein.
Wir erinnern uns beide, dass wir damals voller Ehrfurcht in das Hotel „Forum“ hineingingen, das direkt am Platz vor der Brücke stand. Meine Mutter erzählt mir, dass man in dem Hotel nur übernachten konnte, wenn man westliche Währung besaß. Für Ostdeutsche war es praktisch unerreichbar. Es war eine riesige Devisenmelkmaschine mit dunkel verglasten Scheiben und einem beeindruckenden Atrium, von dem die zehn Etagen mit den Hotelzimmern abgingen. Die Nachbildung eines alten Flugzeugs hing an der Decke! Hier mal wohnen, träumte ich damals.
Wir laufen die Vaci utca entlang, die Champs-Élysées von Budapest
Jetzt haben wir harte Währung und schlafen in dem Haus, das inzwischen ein Sofitel-Hotel beherbergt. Es fühlt sich wie eine späte Wiedergutmachung an. Von unserem Fenster in der achten Etage schauen wir direkt auf das berühmte Panorama mit Donau und Burg. Meine Mutter hört nicht auf, Fotos zu machen. Abends lässt sie die Vorhänge offen, entgegen meiner Klage, dass morgens um sechs die Sonne hereinscheine. Genau das möchte sie. Sie will aufwachen und auf die Fischerbastei gucken.
Am kommenden Tag laufen wir die Vaci utca entlang. Die Fußgängerzone war die Champs-Élysées von Budapest, auf jeder Seite lockten Geschäfte mit unerhörten Sortimenten, in den engen Höfen gab es private Boutiquen, wo Schneiderinnen eigene Entwürfe verkauften. Privatwirtschaft dank Kopien aus den westlichen Magazinen! In Farben, die bei VEB Obertrikotagen Apolda nicht vorgesehen waren: Zitronengelb, Tiefseeblau, Knallrot. Meine Mutter kaufte sich damals einen Blouson in Rosa. Mein Bruder erstand ein blaues Kettenhemd, das gut zu seiner neuen Frisur passte. Konsum macht glücklich. Das lernte ich in jenen heißen Tagen an der Donau.
Er führt aber auch zu Überdruss. Das bemerke ich drei Jahrzehnte später. Aus der Flaniermeile ist eine Ramschzone geworden. Ladenketten wie in Bielefeld, Fresslokale mit Happy-Hour-Angeboten, in das frühere DDR-Kulturzentrum, wo ich eines der seltenen „Digedags“-Comicbücher gekauft hatte, war ein Lacoste-Geschäft eingezogen.
Abends trinken wir einen Palinka
Also lieber weiter auf den Spuren der Erinnerung fahren. Mit der Tram durch die Stadt ruckeln. Am Ostbahnhof vorbei, den ich als Kind mit seiner Glasfassade für eins der schönsten Bauwerke weltweit hielt – und bei dessen Anblick ich nun an die gestrandeten Flüchtlinge denke, die hier vor zwei Jahren ausharrten, bevor sie ihr Schicksal selbst bestimmten und zu Fuß Richtung Österreich aufbrachen. Gar nicht so viel anders als die Ostdeutschen im Sommer 1989, finde ich.
Am Heldenplatz schauen meine Mutter und ich uns das Säulenensemble mit den Nationalikonen an. Lauter Männer mit Schnurrbärten und schwierigen Kopfbedeckungen. In den 1960er Jahren, lange bevor wir Kinder geboren waren, haben meine Eltern ein Foto von sich neben einem Lada gemacht, so ein Auto wollten sie gern einmal haben. Heute, Lada, Trabant, Golf und BMW später, streiten meine Mutter und ich darüber, wie man die Symmetrie des Platzes richtig fotografiert. „Stell dich genau in die Mitte“, sage ich. „Das macht man nicht“, kontert sie. „Wer sagt das?“ – „Leute mit Ahnung.“
Abends trinken wir einen Palinka, einen typischen ungarischen Schnaps, ich wähle die Sorte Holunder aus. „So, jetzt weißt du, wie der schmeckt“, sagt meine Mutter danach. „Aber mit Holunder ist das natürlich kein echter.“ Sie erzählt von ihrem Schulfreund aus Ungarn, der zu Hause immer eine Flasche Selbstgebrannten mit 58 Prozent Alkohol hatte.
In Budapest lag das Versprechen der Freiheit auf der Straße
Wir lassen die Tage in Gedanken vorüberziehen. Die Burg war so schön, wie wir sie in Erinnerung hatten, auch wenn man inzwischen für die Fischerbastei eine Eintrittskarte braucht und lauter Koreaner auf den Sandsteinzinnen posieren. Früher haben wir uns vor dem Café „New York“ in der Erzsébet körut die Nasen plattgedrückt, vor dem sagenumwobenen Literatencafé, in dem es so mondän aussah wie in einem Hollywoodfilm. Nach 30 Jahren Abwesenheit können wir uns ein Kaffeegedeck unter Blattgold und halbnackten Engeln an der Decke leisten. Schriftsteller ist hier bestimmt keiner mehr, dafür Selbstdarsteller mit Smartphonekamera.
In Budapest lag das Versprechen der Freiheit auf der Straße, heute regiert Viktor Orbán das Land mit einer national- konservativen Regierung samt autokratischen Tendenzen. „Illiberale Demokratie“ nennt er seine Politik. Als Tourist aus der Bundesrepublik schwingt schlechtes Gewissen mit, für den DDR-Bürger hörte die Sehnsucht nach dieser Stadt nie auf. Sie gab uns den Geschmack der freien Welt mit auf den Weg.
Denn am letzten Tag durften mein Bruder und ich die „Bravo“ kaufen, es war noch Geld in der Urlaubskasse übrig. Zurück zu Hause rissen wir die Poster heraus, schnitten sorgsam die Bilder aus und verkauften diese mit einem saftigen Gewinn an unsere Mitschüler.
Reisetipps für Budapest
HINKOMMEN
Ab Berlin fliegen Easyjet und Air Berlin nach Budapest. Tickets gibt es ab 70 Euro hin und zurück (nur mit Handgepäck).
UNTERKOMMEN
Das Sofitel liegt mitten im Zentrum mit Blick auf die Kettenbrücke und die Burg auf der Budaer Seite. Ein Doppelzimmer kostet ab 180 Euro, inklusive Frühstück etwas mehr. Infos unter sofitel.com/Budapest
HERUMKOMMEN
Mit der Budapest-Card können Touristen alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und verringerte Eintrittspreise in diversen Museen erhalten. Preis: für 24 Stunden rund 18 Euro, für 48 Stunden etwa 27 Euro.
Die Card kann man gleich in der Ankunftshalle am Flughafen erstehen.
ESSEN
Im ehemaligen jüdischen Viertel reiht sich ein Restaurant an das nächste. Trotz der schnippischen Bedienung empfiehlt sich ein Besuch in der Gaststube „Gettó Gulyás“ (Wesselényi utca 18). Hier serviert man moderne Gulaschvariationen und Holunder-Palinka.