Das Jugendmagazin wird 60: Trashig! Kultig! „Bravo“!
Die "Bravo" feiert ihren 60. Geburtstag. Unsere Autoren schauen zurück: Ein Pro & Contra zur Frage, ob sich das Lesen der Jugendzeitschrift lohnt.
Pro: Anleitung zur Selbstreflexion
Wer die „Bravo“ liest, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. So oder so ähnlich klingen die landläufigen Werturteile über Fans des schrillen Kultmagazins. Schädlich für die Charakterbildung von Pubertierenden sei es, vor allem wegen des Furors um Fashion, Prominenz und stromlinienförmige Schönheit. Und dann die Nackten!
Es gab eine Zeit, da habe ich die fünf roten Buchstaben praktisch eingeatmet. Die Gesichter unzähliger Popstars glotzten von den Zimmerwänden auf mich herab, mal mit verbindlichem Grinsen, mal sexy schmachtend. Sie hießen US 5, Blümchen, Ace of Base und Backstreet Boys, gebannt auf „Bravo“-Poster wie der Dschinn in der Flasche. Sie alle begleiteten mich durch die frühe Phase meiner Ich-Werdung. Und das war gut so.
Die „Bravo“ baut eine Welt auf, die sie ein paar Seiten weiter wieder einzureißen versucht. Nur, um sie sogleich wieder auferstehen zu lassen. Es ist das Wechselspiel zwischen Ikonisierung und beschwichtigendem Dr. Sommerismus. Dazwischen: All die inszenierten Hochs und Tiefs menschlicher Existenz. Verwirrend? Vielleicht. Aber auch kathartisch. X hat sich von Y getrennt? Jammer! Der bizarre Drogenabsturz von Z? Schauder!
Wie andere Menschen nackt aussehen lernt man natürlich auch. Heute mag das obsolet erscheinen: Schon 9-Jährige hantieren mit internetfähigen Smartphones und werden auf diese Weise früher oder später mit den Plastikmenschen der Pornoindustrie konfrontiert. Allein, dass diese der Wirklichkeit, hier: dem durchschnittlichen Körper auch nur nahe kommen, ist nicht der Fall.
Die Bravo-Jungs und Mädels in der "That's me!"-Abteilung hingegen fallen schon mal durch vermeintliche körperliche Unzulänglichkeiten auf, die dann in einem Begleittext thematisiert werden. Auf diese Weise wird der geneigte Leser – mit hochrotem Kopf – zur Reflexion über den eigenen Körper animiert.
Also Katharsis. Die emotionale Achterbahnfahrt, auf die das Hochglanzheftchen seine Jünger schickt, bringt die Körpersäfte in Wallung. Zum Problem mag es dort werden, wo die Kurve nicht gekriegt und der Lieblingsstar zum Nonplusultra verklärt wird, dem es in Sachen Äußerlichkeit nachzueifern gelte. Doch die Realität ist kein Bällebad. Nicht auszusehen wie Justin Timberlake oder Gwen Stefanie muss man aushalten können, ohne sich in den Fluss zu stürzen.
Zumal der Lebensberater Dr. Sommer für alles eine Lösung parat hält. Er fängt ein, was dir beim Betrachten von Mariah Careys Rundungen davongaloppiert ist, mit Ratschlägen von durchaus pädagogischem Wert. Ein gesundes Selbstbewusstsein entsteht im Reibungsverhältnis mit Widersprüchen. Anders: Wenn du deinem Peter-André-Starschnitt resolut entgegentreten und ihm sagen kannst, dass er zwar knackig, du aber auch ganz okay bist, kannst du es mit jedem aufnehmen. Wenn der brünette Sunnyboy gegen dich verliert, wer will dich dann noch aufhalten?
Martin Niewendick
Contra: Flirtkarten, Bügelbilder, Megaposter – alles verpasst. Na und?
Oh je, die „Bravo“. Mir hat schon gereicht, die Titel am Kiosk zu sehen. Auf denen führten drölfzig knallige Farben, dingsundbumsig Schriftarten und Zrillionen von Bildern einen erbitterten Krieg bis zum letzten Tintentropfen. Ich wollte das nicht lesen. Mein Gefühl sagte: Das ist Schund. Und ich habe ihm geglaubt – mit 13 macht man sowas noch.
Die „Bravo“ war für mich vor allem eins: Nervig. Jedes Titelblatt keifte: „Hier sind deine Vorbilder! Sie sind cool! Sie sind sexy! Nimm sie! Nimm sie, solange sie heiß sind!“ Um mich wieder an die Gründe meiner Abneigung zu erinnern, habe ich mir die aktuelle Ausgabe und die 52 Titel des Jahres 2003 angesehen. Und: Oh je.
Auf dem Titel der „Bravo“ wollte immer irgendjemand irgendwas: Jemand, der mich nicht einmal kannte und der auch nicht bereit war, sich bei mir zu revanchieren. Christina Aguilera und Britney Spears wollten sich über Justin Timberlake ausheulen, Alex von „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) wollte, dass ich mit ihm an den Strand gehe, Beyoncé und Jennifer wollten, dass ich entscheide, ob die eine die andere kopiert oder umgekehrt; Britney wollte mir ihr neues Ich vorstellen und loswerden, warum sie keinen Freund findet, Patrick Nuo wollte mir sein Himmelreich zeigen und dann kam nochmal Christina vorbei, weil sie beschlossen hatte, mir ihr Herz zu öffnen.
Was diese Leute mir sagen wollten, interessierte mich noch weniger als die Konjugations-Tabelle des Ablativs. Ich wollte auch keine Poster, auf denen sie mich angafften. Und ich wollte mir keine Plastiksteinchen, Glitzertattoos oder „Funsticker“ an den Körper kleben, um so zu sein wie sie. So sehr die „Bravo“ auch vom Kiosk-Regal keifte: „Mach dich schön wie Jeanette!“ und „Hol Dir Daniel in dein Zimmer!“ – ich wollte nicht.
Heute weiß ich, was ich dadurch verpasst habe; ich habe nachgezählt. Durch meinen Verzicht auf „Bravo“ entgingen mir allein im Jahr 2003 sämtliche Neuigkeiten sowie exakt 260 Poster, 16 Wallpaper, zwölf Megaposter, zwei Panoramas und 82 Autogrammkarten von Leuten, die mir absolut egal waren.
Ich verpasste Flirtkarten mit Rubbelduft, ein Glitterbügelbild, eine „DSDS“-Stecktabelle, ein Schweißband, ein Handynummern-Horoskop („Deine Handynummer verrät alles über dich!“), Anstecker mit Dieter Bohlens fiesesten Sprüchen, ein „echtes Kondom“, zwei Glücksbringer-Ketten, drei „Sexy Tangas“ und, und, und. Der Verlust ist im Nachhinein kaum zu verkraften. Trotzdem würde ich es wieder tun.
Anett Selle
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