DDR-Bürger flohen nach Österreich: Wie in Ungarn vor 25 Jahren der Eiserne Vorhang fiel
Plötzlich stürmten die Ostdeutschen los, überrannten die ungarische Grenze. Die Jungen schrien, die Alten heulten. „Das war ein Überraschungsangriff“, sagen die Grenzer von damals. Einen Verdacht aber sind sie seit 25 Jahren nicht losgeworden.
Die Frage ihrer Bewaffnung klären die beiden mit 25 Jahren Verspätung. „Wir hatten die Glock, neun Millimeter“, sagt der eine mitten hinein in die Stille, er hebt die Augenbrauen, und scheint selbst erstaunt darüber, dass ihm das erst jetzt wieder eingefallen ist. „Und ihr?“ Der andere antwortet: „Auch neun Millimeter, aber ungarisches Fabrikat.“ „Die Glock ist eine Katastrophe, die geht sofort los. Und wir mussten entsichert Dienst machen.“ „So?“
Dann schweigen sie wieder lange, der einstige Zoll-Chefinspektor und der einstige Oberstleutnant. Sie sind in Gedanken, jeder in seinen eigenen, die aber zuverlässig und regelmäßig dieselben sind. Wer sind wir?, fragen sie sich dauernd. Sind wir diejenigen, die Europas Nachkriegsordnung haben einstürzen lassen? Oder waren wir bloß die Versuchskaninchen?
Sie hätten die Nerven verlieren können
Johann Göltl und Arpad Bella, der eine österreichischer Ex-Grenzschützer, sein ungarischer Kollege der andere, beide Träger des deutschen Bundesverdienstkreuzes, sitzen auf einer Bank und erinnern sich an jenen Samstagnachmittag vor einem Vierteljahrhundert, an den 19. August 1989, an dem sie ohne Weiteres die Nerven hätten verlieren können. Haben sie aber nicht.
Die Bank steht dort, wo sich damals alles zugetragen hat, an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich. Ringsum sind Wiesen, ein bisschen Wald, eine asphaltierte Straße. Die nächste größere Stadt auf der einen Seite ist zehn Kilometer entfernt und heißt Sopron, ähnlich weit weg liegt Eisenstadt.
Ein paar Straßenschilder sind alles, was auf die Existenz dieser Grenze hinweist. Vor 25 Jahren allerdings standen hier Zäune, die als so unüberwindbar galten, dass das Ganze der Eiserne Vorhang genannt wurde. Von 1948 bis 1989 war hier alles dicht. Bis zu jenem Samstagnachmittag.
„Das war ein Überraschungsangriff damals“, sagt Göltl.
Die Menge aufhalten? Nur mit Gewalt
Bella sagt: „Wenn ich diese Menge hätte aufhalten wollen, dann wäre das nur mit Gewalt gegangen.“
Sie hatten beide Dienst an diesem Tag. Was Göltl angeht, war dies ungewöhnlich, denn es war Wochenende, da musste er in der Regel nie ran, er war der Chef hier. Aber weil ganz in der Nähe, auf der ungarischen Seite, eine Großveranstaltung angekündigt war, an deren Ende eine symbolische Grenzöffnung stattfinden sollte, wies sein Vorgesetzter ihn an, zur Arbeit zu erscheinen.
Die Großveranstaltung trug den Namen „Paneuropäisches Picknick“. Eine Art Volksfest mit Essen, Trinken und Musik, organisiert von Mitgliedern gerade erst zugelassener Oppositionsparteien. Schirmherren des Festes waren der ungarische Reformpolitiker Imre Pozsgay und der Kaisersohn Otto von Habsburg auf österreichischer Seite. Göltl hatte tags zuvor einen Brief mit der Anweisung bekommen: „Das Zollamt Klingenbach wird eingeladen, alle Vorkehrungen und Maßnahmen zu treffen, um die zollrechtlichen und sicherheitsbehördlichen Interessen zu sichern.“
Die Jungen schrien, die Alten heulten
Vorgesehen war, dass eine Handvoll Ungarn und Österreicher von jenem Picknick aus einen Spaziergang zur Grenze machen sollten. Dort würde dann ein morsches, stacheldrahtbewehrtes Holztor aufgemacht, die Leute würden durchgehen – der Symbolik wegen – und kurz darauf wieder zurück. Ein Akt der Annäherung sollte es werden, ein Zeichen für gute Nachbarschaft und für die Bereitschaft Ungarns, seine Grenzen für die eigenen Bürger noch durchlässiger zu machen.
Die durften zwar schon seit dem Jahr zuvor reisen, wohin sie wollten, aber naturgemäß nur über die offiziellen Grenzübergänge. Dies hier, der Spaziergang nach dem Picknick, sollte so etwas wie eine Hoffnung symbolisieren. Die Hoffnung darauf, dass in vielleicht nicht allzu langer Zeit jeder Ungar und jeder Österreicher die Grenze an jedem Ort würde passieren können.
Abgebaut war sie ja bereits. Im Frühjahr hatte Ungarn damit begonnen, vor allem deshalb, weil sie dem hochverschuldeten Land finanzielle Probleme bereitete. Das Alarmsystem sowjetischer Bauart war in die Jahre gekommen, der Signaldraht rostete, Ersatz dafür hätte es nur im Westen gegeben. Es gab bis zu 4000 Mal im Jahr Fehlalarm, weil Hasen, Rehe oder Betrunkene in den Draht hineinliefen. Und wenn einmal ein Fluchtwilliger gefasst wurde, war dies in den allermeisten Fällen ohnehin kein Ungar, sondern jemand aus den Bruderländern.
Mitglieder des Brudervolkes
Es passierte dann aber etwas anderes. Bella und Göltl standen am Holztor, es war kurz vor drei am Nachmittag, als sie eine Menschenmenge auf sich zukommen sahen. Hundert Leute vielleicht, Männer, Frauen, Kinder, etliche mit Taschen und Rucksäcken beladen. Bella schaute und staunte, und nach ein paar Sekunden begriff er, dass dies nicht die angekündigte Delegation aus Österreichern und Ungarn war. Es waren DDR-Bürger, Mitglieder des Brudervolkes aus dem Norden, von dem sich ja seit Wochen schon Tausende an seiner Grenze herumdrückten und ihm Kopfzerbrechen bereiteten. Fluchtwillige, und sein Befehl lautete ja immer noch, diese Fluchten zu verhindern.
Die Ostdeutschen stürmten los. Sie rannten an Bella vorbei, drückten das Holztor auf, betraten österreichischen Boden. Die Jungen schrien, die Alten heulten. Die Szene würde sich an diesem Nachmittag noch einige Male wiederholen, am Abend werden mehr als 600 DDR-Bürger durch das Tor gerannt sein.
"Das war ein Test"
Aber wo kamen sie her? Bella, der damals ahnungslos war, ist sich heute sicher: „Nun wissen wir, das war ein Test. Das war geplant. Was machen die Russen, was sagen die dazu, wenn hier mehrere hundert Ostdeutsche auf einmal durchmarschieren?“
Er hat seitdem versucht, die Abläufe von damals zu rekonstruieren. Er hat Leute befragt und Dokumente gesucht, eine eindeutige Antwort indes bis heute nicht gefunden. Doch die Indizien reichen ihm.
Stundenlang waren seine Vorgesetzten nicht zu erreichen. Erst gegen 18 Uhr ließ sich einer von ihnen blicken, mit der Auskunft, er werde ein Verfahren wegen Verletzung der Dienstpflichten gegen Bella einleiten. Der Grenzbefehl sei nun mal eindeutig, erst Warnschuss, dann die Hunde von der Kette, bei Gefahr für Leib und Leben Schusswaffengebrauch. Bella dagegen hatte seinen eigenen Untergebenen befohlen: Gesicht nach Österreich, schauen, ob von dort jemand kommt. Alles andere „sehen wir nicht“.
"Dieser Blödmann, das war doch alles abgesprochen"
Göltl, der die Auseinandersetzung damals mitbekommen hatte, erzählte Jahre später Helmut Kohl davon. Der Kanzler war zu Besuch am Ort des Grenzdurchbruchs, hörte zu, schüttelte den Kopf über Bellas Chef und habe – so sagt es Göltl – dann sinngemäß geantwortet. „Dieser Blödmann, das war doch alles abgesprochen.“
In Budapest und wohl auch in einigen grenznahen Orten, dort, wo fluchtbereite DDR-Bürger campierten, tauchten in den Tagen zuvor Flugblätter auf. Bedruckt waren sie mit einer roten Rosensilhouette nebst Stacheldraht. „Paneuropäisches Picknick in Sopron. Am Ort des ,Eisernen Vorhangs’!“ stand da, darunter eine skizzierte Wegbeschreibung und der Grenzverlauf. Wer die Flugblätter verteilte, ob dies Leute aus den Kreisen der Veranstaltungsorganisatoren waren oder vielleicht Beamte der ungarischen Staatssicherheit, ist bis heute nicht öffentlich bekannt.
Bella sagt: „Überall im Hinterland waren Grenzpolizei und Geheimdienstler. Und trotzdem erscheinen hier dann 600 DDR-Bürger und marschieren durch.“
Menschenleben riskiert
Wenn Bella recht hat, dann hat irgendjemand an jenem Tag Menschenleben riskiert. Dann hat jemand auf seine und Göltls Kosten versucht, Weltpolitik zu machen. Ein „blödes Gefühl“ sei das gewesen, „in so eine Situation zu kommen. Meine Nerven waren beschädigt.“ Bella ist nachhaltig verärgert, bis heute. Besser gemacht hat es auch nicht die Jahre später gemachte Behauptung des ungarischen Ministerpräsidenten Németh und seines Außenministers Horn, es habe sehr wohl einen Befehl zum Wegschauen an die Grenztruppen gegeben. Bella hat ihn bis heute nicht gesehen. „Gauner“, sagt er.
Er ist jetzt von der Bank aufgestanden, mit durchgedrücktem Rücken geht er über die Wiese. Er muss ein bisschen durchatmen.
Göltl zeigt in der Zwischenzeit seine Orden, dann steht auch er auf und geht zu der Stelle, von der er damals einen kleinen Jungen nach Österreich holte. Dessen Eltern waren schon drüben, die Mutter war bereits zweimal weinend bei Göltl gewesen, bitte, holen Sie doch das Kind rüber. Sie kam ein drittes Mal, „und also bin ich rein nach Ungarn“, sagt Göltl. Hin zu Bella, dann zum Jungen, dem er gesagt habe: „Folge mir, und einen Meter vor der Grenze rennst du los.“
Stolz, dass alles so gekommen ist
„Staatsgrenze verletzt, Menschenschmuggel, das hätte auch schiefgehen können“, sagt er.
Bella kommt wieder hinzu, er hat sich gefasst. Und nun stehen sie beide an dieser Grenze, zwei grau gewordene Herren, „Arpi“ und „Hansi“, wie sie einander nennen, auch ein wenig stolz darauf, dass alles so gekommen ist. Dass es friedlich blieb am 19. August 1989, am Tag dieser beispiellosen Massenflucht. Dass die Sowjets danach nicht reagierten und Ungarn bald schon noch einen Schritt weiter ging und am 10. September seine Grenzen für DDR-Bürger öffnete. Und dass die Nacht des Mauerfalls in Berlin so ablief, als hätten sich die DDR-Grenzer dort ein Beispiel an ihnen genommen.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.