Alles über das Weltlexikon: Krieg der Schlauberger - Inside Wikipedia
Recht haben, mehr wissen, einander belehren - was treibt die Menschen, die das Weltwissen gratis verfügbar machen?
Im ersten Stock eines Altbaus in Berlin-Kreuzberg steht eine imposante Bücherwand. Hunderte ledergebundene Werke reihen sich aneinander. Sie tragen Namen aus einer anderen Zeit: Brockhaus, Encyclopaedia Britannica, Volkslexikon. Bei manchen blättert der goldene Prägedruck ab.
Menschen, die keine Verwendung mehr für diese Bücher hatten, sich aber nicht überwinden konnten, sie wegzuwerfen, brachten sie her. Wer braucht heute schon papierne Nachschlagewerke, wo es doch die Wikipedia gibt. Allein die deutsche Version umfasst mittlerweile 2,1 Millionen Artikel. Druckte man alles aus, ohne die Bilder, entspräche das mehr als 1000 Lexikonbänden.
Wer das Internet nutzt, nutzt die Wikipedia. Und was dort geschrieben steht, ist Allgemeingut. Es beeinflusst, wird zitiert und weiterverbreitet. Kurz: Es gilt. Doch wer bestimmt, was wir heute wissen?
Vielleicht kennt der Mann, der gerade vor der Wand mit den ungewollten Büchern steht, die Antwort. Jan Apel, 38, ist Sprecher von Wikimedia. Dem Verein hinter dem größten Mitmachprojekt des Internets, ja der Menschheitsgeschichte. Apel sagt, im Grunde dürfte es die Wikipedia gar nicht geben. Zu unwahrscheinlich klingt sie in der Theorie. Eine Datenbank, in der Menschen freiwillig und ohne Vergütung ihr Wissen preisgeben. In der jeder herumpfuschen darf, ohne Nachweis irgendeiner Qualifikation, wenn gewünscht sogar anonym. Warum sollten Menschen für so etwas Energie verschwenden? Und was sollte dabei anderes herauskommen als ein Haufen unbrauchbarer, fehlerhafter Informationen?
Sein Antrieb sei die Neugier
In dem Kreuzberger Altbau am Halleschen Ufer hat Wikimedia inzwischen zwei Etagen angemietet. Hohe Decken, Sitzsäcke, lilafarbene Tretroller stehen bereit, um schneller durch die Flure zu kommen. 100 Menschen sind hier angestellt. Doch Jan Apel sagt
Sie sind bloß für die Rahmenbedingungen zuständig. Klären Urheberrechtsfragen, setzen Förderprogramme auf, werben um Spenden. „Keiner hier schreibt selbst in der Wikipedia, jedenfalls nicht während der Arbeit.“ Wo also findet man die Menschen, die entscheiden, was heute gilt und was nicht?
Donnerstagabend in Mitte, ein Ladenbüro im Parterre eines Mietshauses, zwei Minuten Fußweg vom Nordbahnhof. In diesen Räumen treffen sich Wikipedia-Autoren zum gemeinsamen Editieren. Georg Hilt versucht sich auf seinen nächsten Eintrag zu konzentrieren. Die stille Mutation. Diese verändere, sagt er, DNA-Abfolgen, ohne dass sie sich auf Aminosäure-Abfolgen im Protein auswirke. Klingt schrecklich dröge im Vergleich zu dem, womit sich sein Nebenmann gerade beschäftigt. Der verbessert Textstellen über die Analdrüse des Wiedehopfs. Kenny McFly ist auch hier und Julius1990 und DerHexer natürlich auch. DerHexer ist eigentlich immer da. Sie hocken mit ihren Laptops nebeneinander auf der Couch, es gibt Cola und Schokoriegel, nachher wird Pizza bestellt.
Georg Hilt ist 40 Jahre alt, promovierter Biochemiker, seine Mitstreiter kennen ihn unter dem Nutzernamen Ghilt. Schlägt man in der deutschsprachigen Wikipedia ein Stichwort aus dem Bereich Biochemie nach, ist die Chance groß, dass Hilt daran mitgewirkt hat. Der Artikel über die stille Mutation wird der 823. sein, den er selbst angelegt hat. Warum machen Sie das, Herr Hilt?
Er sagt, sein Antrieb sei die Neugier. Der Wunsch, Sachverhalte vollständig zu erfassen. Hinzu kämen bei ihm allerdings noch zwei weitere hilfreiche Charaktereigenschaften. Die eine sei Altruismus. Die andere sei ausgeprägte Besserwisserei.
Diskutiert wird in der Wikipedia ständig
16 Jahre nach Gründung existiert die Wikipedia mittlerweile in 199 Sprachen. Die deutsche ist, nach der englischen, die umfangreichste. Pro Minute werden in ihr durchschnittlich 22 Artikel verändert. Und 6250 gelesen. Weil jede Information, die man in der Wikipedia findet, dort theoretisch vom schlimmsten Laien eingestellt worden sein kann, hält sich bis heute die Vorstellung, man könne der Seite weniger vertrauen als einer herkömmlichen, von bezahlten Experten verfassten Enzyklopädie. Dabei haben Studien, erzählt Georg Hilt, schon vor Jahren das Gegenteil bewiesen.
Seine Mitstreiter erklären sich das so: Im klassischen Lexikonverlag wurden die Einträge von Fachautoren geschrieben. Jeder Texthappen wurde von einem Redakteur gegengelesen, ein Rechtschreibkorrektor guckte drauf, zum Schluss der Setzer. Das Acht-Augen-Prinzip. Wenn jemand in der Wikipedia einen Fehler einbaut und die Stelle anschließend 100 000 Nutzer lesen, dann reicht es völlig, wenn 1000 von ihnen den Fehler bemerken, 100 denken, das sollte man korrigieren, und einer es am Ende tatsächlich tut.
Normalerweise loggt sich Georg Hilt mit dem Laptop zu Hause in seiner Dachgeschosswohnung in Berlin-Mitte auf Wikipedia ein. Bevorzugt spätabends. Das helfe beim Müdewerden. Hilt ist hyperaktiv, und er sagt, dies gelte für einige Wikipedianer. Die gemeinsamen Treffen im Büro am Nordbahnhof, einmal die Woche, gibt es erst seit vergangenem Jahr. Kenneth Wehr, 18, Nutzername Kenny McFly, Asperger-Syndrom, sagt, der persönliche Umgang sei hier angenehmer als im Netz. Der Diskussionston weniger schroff, wenn man sich dabei ins Gesicht schaue. Und diskutiert wird in der Wikipedia ständig. Denn im Hintergrund wirkt, vom gewöhnlichen Leser unbemerkt, ein ausgeklügeltes System aus Sperrprüfungen, Löschanträgen und Verhaltenskodizes. Das freiwillige Verschenken von Wissen, sagt Kenneth Wehr, sei für viele in Wahrheit ein Kampf um Deutungshoheit.
Die meisten Wikipedianer fühlen sich für gleich mehrere Themenbereiche verantwortlich. Bei Kenneth Wehr sind das unter anderem: die Übersetzung kyrillischer Schriftzeichen ins Deutsche, Grönland und der Eurovision Song Contest. Das Betreuen sei ein bisschen wie digitales Briefmarkensammeln. „Wenn da plötzlich einer kommt und am eigenen Artikel rumwerkelt, also damit behauptet, zumindest in einem Detail besser Bescheid zu wissen als man selbst“, dann sei das zwar legitim, fühle sich aber an, als wolle der Fremde einem eine Briefmarke aus der Sammlung klauen.
Die Gemeinschaft legt großen Wert auf Anonymität
Wer selbst nie versucht hat, eine Änderung in der Wikipedia durchzuführen, hat die beiden Knöpfe in der oberen Leiste der Seite bisher womöglich übersehen. Zu jedem Artikel gibt es eine eigene Seite namens „Diskussion“, auf der sich Nutzer darüber austauschen können, was beim entsprechenden Eintrag ergänzt oder korrigiert werden soll. Über die „Versionsgeschichte“ lässt sich jede einzelne Änderung noch Jahre später nachvollziehen, auch wenn es nur ein gesetztes Komma war. Und jede Änderung lässt sich rückgängig machen. Über diese beiden Hilfsseiten werden in der Wikipedia Schlachten geschlagen. Wird um Inhalt und Form gerungen, sich gegenseitig bloßgestellt, denunziert, einander böse Absicht unterstellt.
Sogar um Detailfragen, die auf Außenstehende lächerlich wirken, können zähe Konflikte entbrennen. Etwa die Frage, ob es sich bei dem in Wien stehenden Donauturm lediglich um einen Aussichtsturm oder um einen Aussichts- und Fernsehturm handelt. Die Diskussion darüber zog sich über Monate, es fielen die Schimpfwörter „Nichtsnutz“ und „Größenwahnsinniger“. Der Donauturm-Streit gilt als einer der übelsten Exzesse der deutschsprachigen Wikipedia. Inzwischen ist er beigelegt, die Fernsehturm-Gegner setzten sich durch. Seitdem wird diskutiert, ob der Streit so legendär war, dass er Teil lexikalischen Wissens ist und somit einen eigenen Absatz im Donauturm-Artikel der Wikipedia verdient hat.
Sprecher Jan Apel kann nicht sagen, wie der typische Nutzer aussieht. Das liegt daran, dass die Gemeinschaft großen Wert auf Anonymität legt. Oder besser: auf die Möglichkeit dazu. In Deutschland sei das vielleicht weniger entscheidend, sagt Apel. Dafür in Ländern, in denen Menschen für ihre Einstellungen verfolgt werden, umso mehr. Wer auf Wikipedia, zum Beispiel in einem Streit, einen Hinweis auf die Identität eines anderen gibt, begeht einen schweren Regelverstoß und wird gesperrt.
Seiten über Homöopathie sind häufigen Attacken ausgesetzt
Immerhin existieren Umfragen, an denen sich Nutzer freiwillig beteiligen konnten, die Angaben wurden nicht überprüft. Demnach liegt das Durchschnittsalter deutscher Autoren bei 34 Jahren, 88 Prozent sind männlich. Das wirkt sich zwangsläufig auf das angebotene Wissen aus. Mehrere Kampagnen wurden gestartet, um die Wikipedia mit weiblichen Inhalten zu füllen. Gerade läuft die Aktion „Frauen in Rot“, für die Zehntausende Namen weiblicher Prominenter aufgelistet und rot eingefärbt wurden, die nach den Relevanzkriterien einen Eintrag verdient hätten. Schriftstellerinnen, Politikerinnen, Unternehmerinnen. Sobald einer dieser Namen eine Seite erhält, wird er blau.
Jan Apel erklärt, die Wikipedia habe immer wieder mit Vandalen zu kämpfen. Mit Menschen, die Sätze, Passagen oder gleich ganze Seiten löschen, weil sie unangenehme Wahrheiten aus der Welt haben möchten. Zumindest aber aus dem Internet. Die Seite über den Nahostkonflikt ist häufigen Attacken ausgesetzt. Oder die über Homöopathie. Natürlich die über Hitler.
Dazu kommt Vandalismus ohne Hintergedanken. Von Menschen, die schlicht schaden oder lustig sein wollen. Sie toben sich auf Seiten zu sexuellen Themen und solchen über Politiker aus. Es kann auch den Eintrag über einen wenig bekannten deutschen Physiologen aus dem 19. Jahrhundert treffen, wenn der denn Adolf Fick heißt.
Jan Apel sagt, eine Zeit lang hätten solche Angriffe gehäuft vormittags stattgefunden. Genau zu den Zeiten der Schulpausen. Als vandalismusintensiv gelten auch Feiertage, besonders Weihnachten. Wahrscheinlichste Gründe: erhöhte Frustration und zu viel Zeit.
Ein Kalifornier korrigiert ständig einen einzigen Fehler
Anders als Hilt sehen manche Nutzer ihre Aufgabe in der Wikipedia nicht im Vervollständigen von Texten, sondern darin, Vandalen in Schach zu halten. Sie machen Veränderungen rückgängig und sperren die Accounts der Störer. Für sechs Stunden. Für ein paar Tage. Jahrelang. Auf einer dieser Seiten, die theoretisch jeder einsehen kann, aber tatsächlich nur von Eingeweihten aufgerufen werden, zählt eine Statistik die häufigsten Sperrbegründungen auf: „Unsinnige Bearbeitungen“, „Erstellen unerwünschter Einträge“, „Kein Wille zur enzyklopädischen Mitarbeit erkennbar“, „Geh bitte draußen spielen“.
Andere Nutzer haben sich auf das Korrigieren von Rechtschreibfehlern spezialisiert. In der englischsprachigen Wikipedia gilt der Kalifornier Bryan Henderson, Software-Ingenieur bei IBM, als Berühmtheit. Seine Mission ist die Ausbesserung eines einzigen wiederkehrenden Fehlers. Henderson sucht Artikel, in denen die Redewendung „comprised of“, zu Deutsch: bestehend aus, verwendet wird. Er argumentiert, dies sei eine illegitime Mischform aus den Verben to comprise und to be composed. Innerhalb von neun Jahren verbesserte er den Fehler 64 000-mal. Dabei haben sich längst Linguisten gemeldet und glaubhaft argumentiert, man könne „comprised of“ sehr wohl verwenden. Zwischenzeitlich hatte Henderson eine Gegenspielerin, die jede seiner Änderungen beobachtete und rückgängig machte. Sie gab irgendwann auf.
Der aktivste deutsche Wikipedia-Autor nennt sich Aka und lebt in Zwickau. Durchschnittlich schafft er 250 Einträge pro Tag. Um dieses Pensum zu erfüllen, lässt er auf seinem Rechner ein Programm mitlaufen, das sämtliche getätigten Änderungen Dritter mitliest und Alarm schlägt, sobald es einen Rechtschreibfehler findet. Ein Interview möchte Aka nicht geben. Vielleicht hat er keine Zeit.
Ein Scherzeintrag wurde von etlichen Medien ungeprüft verbreitet
Immer wieder versuchen Wikipedia-Kritiker, Lügen in Texte zu schmuggeln, um diese dann, bleiben sie unbemerkt, als Beleg für die Untauglichkeit des Systems zu nehmen. Einer fügte in den Artikel „Frauenfußball“ die Behauptung ein, nach dem Gewinn der Europameisterschaft 1989 habe jede deutsche Spielerin ein Bügelbrett als Siegprämie geschenkt bekommen. Journalisten übernahmen die Anekdote ungeprüft, sie schaffte es in etliche Medien, auch den Tagesspiegel. Selbst Bundespräsident Horst Köhler amüsierte sich in einer Ansprache über die Bügelbretter. Es blieb unklar, ob sein Redenschreiber davon in der Wikipedia oder über den Umweg einer Zeitung gelesen hatte.
Solche Fälle, sagt Georg Hilt, taugten allerdings nicht als Beleg für die Unseriosität der Enzyklopädie. Sondern eher als Beispiel für schlampigen Journalismus.
Inzwischen suchen zunehmend öffentliche Institutionen den Kontakt zur Wikipedia. Als einen Weg, ihre Archive und ihr Wissen zugänglich zu machen.
An einem Wochenende Ende November treffen sich 20 Wikipedianer in Berlin-Dahlem, das Museum Europäischer Kulturen hat sie eingeladen, seine Bestände zu sichten und einzelne Exponate in das Nachschlagewerk aufzunehmen. Achim Raschka ist extra aus Köln angereist. 47 Jahre alt, langer Pferdeschwanz, Wikipedia-Veteran. Er gilt als Deutschlands Experte für Eichhörnchen und Gesellschaftsspiele. Wenn einer heute dabei sein muss, dann er. In einem Nebengebäude im zweiten Stock haben Mitarbeiter diverse Kartons auf einem Tisch ausgebreitet. Ein Verschiebepuzzle von 1915, auf dem Deckel das Eiserne Kreuz plus Hinweis: „Geduldsspiel für den Schützengraben“. Daneben „Schwarzer Peter“, etwa aus der gleichen Zeit, mit einem dicklippigen afrikanischen Jungen als wichtigster Karte. Achim Raschka zieht sich weiße Baumwollhandschuhe über, öffnet sachte den ersten Pappdeckel. Als sichere er die Spuren eines Tatorts. Raschke zählt Spielsteine, misst Felder aus, liest die Gebrauchsanweisung. Ein Kollege im Nebenraum hat einen hochauflösenden Scanner mitgebracht. Für die spätere Bebilderung des Artikels. Den Eintrag wird Raschka schreiben, wenn er zurück in Köln ist.
Recht haben, mehr wissen, einander belehren
Georg Hilt und er lernten sich vor drei Jahren in der Wikipedia durch einen Streit kennen. Raschka hatte in einem Artikel über nachwachsende Rohstoffe von sogenannten Superkurzfasern geschrieben. Hilt schritt ein und gab zu bedenken, die existierten überhaupt nicht. Raschka reagierte patzig: „Ich denke mir im Regelfall eigentlich keine Begriffe aus.“ So schaukelten sie sich hoch. Es folgte ein langer Dialog. Heute mögen sich die beiden. Hilt ist trotzdem davon überzeugt, dass er damals recht hatte.
Recht haben. Mehr wissen. Einander belehren. Das sind Disziplinen, die keinem Nutzer fremd sind, und sie geben es zu. Im Wikipedia-Universum kann sich selbst eine Plauderei beim Warten auf die Pizza zu einer Kaskade gegenseitiger Übertrumpfungsversuche steigern. Da sagt dann Martin Rulsch alias „DerHexer“ unvermittelt: „Wie schade, dass du Georg Hilt heißt und nicht Georg Bauer.“ Weil Georg schließlich vom griechischen Georgós komme, was ja Landwirt bedeute. „So würdest du Bauer Bauer heißen.“
Hilt grinst, dann kontert er. Georg sei bekanntlich auch einer von zwei katholischen Heiligen, denen die Heiligkeit abgesprochen wurde. „Der andere war Christopherus, der Riese, der das Jesuskind über den Fluss getragen hat.“
Martin Rulsch winkt ab. Na, das besage ja der Name schon. Christopherus bedeute Christus-Träger.
Am nächsten Tag schreibt Hilt eine Mail. Er habe nachgeschaut, Georg wie Christoph seien immer noch Heilige, man habe sie bloß 1969 aus dem römischen Generalkalender entfernt. Den Fehler vom Vortag könne er nicht so stehenlassen.
Eigentlich darf jeder Wikipedianer unter höchstens einem Benutzernamen schreiben. Nicht alle halten sich dran, haben heimlich Zweit-, Dritt- und Viert-Identitäten. Die nennt man „Sockenpuppen“. Sie werden benutzt, um Diskussionen zu beeinflussen, indem sich die Tarnidentitäten gegenseitig zustimmen und so die Meinung eines Einzelnen letztlich zur Mehrheitsmeinung machen. In Großbritannien flog ein ganzes Netzwerk auf: 381 Sockenpuppen, alle zentral gesteuert.
Hatte er einen Nutzer umgebracht?
Die meisten Betrugsversuche findet Georg Hilt amüsant. Einer raubte ihm jedoch den Schlaf. Vor zwei Jahren fiel Wikipedianern auf, dass ein Nutzer namens Andreas Parker versteckte Werbung für Bücher des Darmstädter Autorenkollektivs „Psychologie aktuell“ machte. Dafür entfernte er Literaturhinweise auf Standardwerke, etwa die Sigmund Freuds, und verwies stattdessen auf Bücher von „Psychologie aktuell“. Dann stellte sich heraus, dass manche Bände des Kollektivs bloß aus gesammelten Wikipedia-Artikeln bestanden, ohne Quellenangabe. Es folgte eine hitzige Diskussion, bis die Herausgeberin von „Psychologie aktuell“ öffentlich erklärte, Andreas Parker habe wegen „Cyber-Mobbings“ gegen ihn einen Herzinfarkt erlitten, der Familienvater liege nun in der Klinik. Später wurde sogar sein Tod verkündet, Traueranzeigen wurden geschaltet.
Georg Hilt fühlte sich schuldig. Er hatte mit Parker gestritten. Hatte er ihn auch umgebracht?
Am Ende kam heraus, dass es nie einen Andreas Parker gab. Er war eine fiktive Identität, geschaffen, um das Autorenkollektiv zu bewerben. Sein fingierter Tod sollte offenbar die peinliche Diskussion beenden. Das Kollektiv bestreitet, hinter der Sockenpuppe Andreas Parker zu stecken.
Wer anonym schreibt, wird aufmerksamer kontrolliert
Wer möchte, kann ganz ohne Benutzerkonto in die Wikipedia schreiben. Dann speichert die Seite nur die IP-Adresse, also die Zahlenkombination, mit deren Hilfe sich jede Aktivität im Netz einem konkreten Anschluss zuordnen lässt. Für Privatpersonen, die sich über einen Internetanbieter einwählen, ist das meist unverfänglich, weil die Adressen jedes Mal neu vergeben werden. Für Behörden, Unternehmen und Institutionen kann es aber unangenehm werden – wenn sie versuchen, im vermeintlichen Schutz der Anonymität ihre eigenen Wikipedia-Seiten zu beschönigen. Der Satz „Biblis hat wieder einmal bewiesen, dass das Kraftwerk sehr sicher ist und hervorragend arbeitet“ stammte aus der Verwaltung des damaligen Betreibers RWE. Und Löschungen im Artikel über den Bundesnachrichtendienst kamen vom BND selbst. Über eine IP-Adresse, die zuvor schon diverse Artikel über James-Bond-Filme vervollständigt hatte.
Wer anonym schreibt, dessen Veränderungen werden aus Erfahrung aufmerksamer kontrolliert, sagt Hilt. Seit acht Jahren müssen sie sogar von einem registrierten Nutzer freigeschaltet, also genehmigt werden, bevor jeder sie sieht. Bevor sie Teil des Wissenskanons werden.
Das ist einer der wesentlichen Mechanismen der Riesenmaschine Wikipedia. Offiziell hat jeder Autor die gleichen Rechte, wird gleich ernst genommen. Tatsächlich gibt es Hierarchien und unausgesprochene Hackordnungen, gesteuert durch die Reputation der Teilnehmer. Ähnlich wie bei Facebook kann sich jeder Nutzer eine eigene Seite erstellen, auf der er die von ihm verfassten Artikel, seine Fähigkeiten und Leistungen dokumentiert. Ein Schaufenster zum Herzeigen seiner Trophäen. Auf der Seite von Kenneth Wehr, dem Grönland-Experten, steht, dass er das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) beherrscht. Dass er „die meisten europäischen Sprachen korrekt aussprechen kann“. Dass er am Treffen der Jungwikipedianer in Hannover teilgenommen und am Projekt „Wikifizierung von Grönland“ mitgewirkt hat. Dass er im September 2017 zum Administrator gewählt wurde. Jetzt kann er andere Nutzer sperren.
Mancher Streit endet vor dem Schiedsgericht
Die besten Leistungen zeichnet Wikimedia jährlich mit einem eigenen Preis aus, der Wiki-Eule. Georg Hilt bekam dieses Jahr eine „Ehren-Eule“. Die Verleihung fand in Leipzig vor mehreren hundert Gästen statt. Der Laudator nannte Hilt eine wesentliche Stütze im Bereich Chemie.
Sein liebster Artikel, sagt Georg Hilt, ist der über die Crispr/Cas-Methode. „Weil die Wissenschaftler, die sie entdeckt haben, als Anwärter auf den Nobelpreis gelten.“ Sobald das passiert, werden viele Menschen diesen Artikel anklicken, um zu verstehen, was die Crispr/Cas-Methode überhaupt sein soll, und Georg Hilt wird ihn geschrieben haben. Die Sichtbarkeit des eigenen Schaffens ist eine zentrale Währung unter Wikipedianern. Genau wie bei kommerziellen Internetseiten, nur dass es hier nicht um Werbeeinnahmen geht.
So wichtig Respekt und innerwikipedianischer Ruhm sind, so gefährdet ist die eigene Reputation. Ein einziger kritischer Eintrag, eine unfair geschlagene Schlacht kann sie zerstören. Um das zu verhindern, sind Nutzer bereit, durch alle Instanzen zu gehen. Dann landen sie beim Schiedsgericht. Es besteht aus zehn Mitgliedern, die sich von der Community in das Gremium wählen lassen. Georg Hilt ist eines von ihnen. Sie beraten sich per Mail und in einer wöchentlichen Skypekonferenz. Neulich hatten sie einen mutmaßlichen Beleidigungsfall zu verhandeln. Nutzer Zietz hatte sich beschwert, weil er für einen Tag gesperrt worden war, nachdem er Nutzer Stepro als „unfähig“ bezeichnet hatte. Der wiederum hatte andere Mitstreiter zuvor „verhaltensauffällig“ genannt und war dafür nicht bestraft worden. Die Beratungen zogen sich über sechs Wochen, am Ende entschied die Runde, die Sperre sei rechtens. Zietz hatte gegen die Regel „KPA“ verstoßen: keine persönlichen Angriffe.
Wird Wikipedia von rechts unterwandert?
Ende vorigen Jahres war das Schiedsgericht vorübergehend lahmgelegt. Die Mitglieder hatten sich heillos zerstritten. Eines hatte verkündet, es sei AfD-Funktionär. Die meisten anderen erklärten daraufhin ihren Rücktritt, wodurch das Gremium beschlussunfähig wurde. Bei der Neuwahl im Mai trat der AfD-Mann nicht wieder an.
Seit diesem Vorfall wird in der Wikipedia darüber spekuliert, ob sie von rechts unterwandert wird. Georg Hilt sagt: Das Projekt steht schon länger unter Beschuss. Eigentlich permanent. Es sind nicht nur die Rechtspopulisten. Es sind die Heilpraktiker, die behaupten, die Wirksamkeit von Globuli sei wissenschaftlich bewiesen. Esoteriker, die in der Wikipedia festschreiben wollen, dass Aliens existieren, Wünschelruten funktionieren. Hobby-Historiker, die Deutschlands Schuld am Zweiten Weltkrieg relativieren wollen.
Wie kann die Wikipedia-Gemeinschaft garantieren, dass solche Meinungen außen vor bleiben?
„Die Wahrheit ist: Eine solche Garantie gibt es nicht“, sagt Georg Hilt. Was in der Wikipedia als Fakt ausgegeben werde, entscheide die Gesellschaft, die Summe der Individuen. Und wenn in dieser Gesellschaft die Unvernünftigen die Oberhand gewinnen und die Vernünftigen nicht mehr gegenhalten, wird dasselbe in der Wikipedia geschehen. „Der einzige tröstliche Gedanke ist, dass es jetzt 16 Jahre lang ziemlich gut geklappt hat.“
"Wir bilden nur das etablierte Wissen ab"
An einem Samstag Ende November lädt der Dachverband Wikimedia zu seiner Mitgliederversammlung. Neue Kassenwarte werden gewählt, und oben im zweiten Stock gibt es einen Workshop für Neueinsteiger. Im schlauchförmigen Konferenzraum sitzen 15 Interessierte um einen Tisch herum. Ein älterer Mann hat seinen Laptop mitgebracht und bittet um Rat, er weiß nicht, wie er sich einloggen soll. Er hat sein Passwort vergessen. Niemand kann helfen. Vorn am Beamer steht Gereon Kalkuhl im Anzug. Seit zehn Jahren dabei, seine Spezialgebiete sind Schachspieler, Insekten und Asteroiden. Kalkuhl fragt in die Runde, wer schon mal selbst in die Wikipedia geschrieben habe. Eine Frau sagt, sie habe nicht gewusst, dass das jeder dürfe. Ein anderer sagt, er habe sich bisher nicht getraut, aus Angst, bestraft zu werden. Der Mann, der das Passwort für seinen Laptop nicht kennt, sagt, er wolle unbedingt damit anfangen. Er sei Autor und habe Bücher geschrieben über Volkskunde und Archäologie, dabei habe er „Sachen entdeckt, die sonst keiner weiß“.
Gereon Kalkuhl wendet ein: „Na, dann kann das aber auch nicht in der Wikipedia stehen. Wir bilden schließlich nur das etablierte Wissen ab.“ Doch der Mann lässt sich nicht beirren, berichtet von Steinen mit Runen und eingemeißelten Fußsohlen, die noch keiner erforscht habe – außer ihm. Von geheimem Wissen, das verschollen sei, und von Christen, die Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte verfälscht hätten. Er sagt: „Ich habe das alles über Sprachforschung herausgefunden. Nur glaubt mir keiner.“
Kalkuhl atmet tief durch. Er weiß, dass die Frage, was davon seinen Weg in die Wikipedia findet, nicht hier in diesem Konferenzraum entschieden wird.