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Teilhabe und Herrschaft: Wikipedia wird zehn Jahre alt

Das Online-Lexikon stößt an die Grenzen der Schwarmintelligenz. Ein Besuch bei Mitarbeitern.

Gesucht wird HaSee. „Eine übertriebene Admin-Aktion hat wieder einen langjährigen Autor vertrieben“, steht in seiner Vermisstenanzeige. HaSee selbst hinterlässt ein paar Zeilen: „Nach mehr als 63 000 Bearbeitungen in 6½ Jahren verabschiedet sich Benutzer No. 10046. Spielt schön weiter.“ Er glaube, fügt HaSee hinzu, nicht mehr „an einen dauerhaften Erfolg“.

Es ist kein untypischer Abschiedsbrief. Viele ehrenamtlichen Mitarbeiter verlassen das Mitmachlexikon Wikipedia enttäuscht. Dabei war die Euphorie anfangs hysterisch. Mehr als 100 000 Hobby-Lexikalisten haben sich weltweit an dem Onlineportal beteiligt, seit es 2001 ans Netz ging. Sie schufen 270 Sprachversionen, verfassten mehrere Millionen Beiträge. Gegründet wurde Wikipedia von Jimmy Wales, der Vorsitzender der Wikimedia Stiftung ist, dem Betreiber. Im März 2001 formierte sich der deutsche Ableger.

Was sich unter der Oberfläche verbirgt, lässt sich als brodelndes, dreidimensionales Universum beschreiben, als Labyrinth aus Foren, Nischen, Aufgaben, Baustellen. Es gibt Statistiker, Programmierer und Rubrikenschieber, Pinnwände und Textbausteine, es gibt sogar analoge Stammtische und Grillabende.

Vor allem aber gibt es Streit. Denn anders als in autoritär geführten Netzwerken wie Facebook ist jeder Satz und jede Satzung bei Wikipedia ein Gemeinschaftsprodukt. Im Laufe der Jahre hat sich die community Benimm-, Beleg- und Zitierregeln auferlegt, hat sich auf Gliederungsmuster und Layout-Vorgaben geeinigt, hat festgelegt, was erlaubt, was neutral, was korrekt ist. Kurz: Sie hat einen gigantischen Diskussions- und Abstimmungsmarathon hinter sich. Damit ist Wikipedia wahrscheinlich das größte soziale Experiment im Netz überhaupt. Ein anstrengender Endlosversuch in Sachen Konsensbildung – über dem die immer gleiche Frage schwebt: Befruchtet sich der Schwarm? Oder frisst er sich auf?

Zumindest beißt er sich gerne an Kleinigkeiten fest. So wie bei einer der jüngsten Auseinandersetzungen über die Frage, ob es in der deutschen Wikipedia erlaubt sein soll, Todesdaten mit dem Kreuzsymbol zu versehen? In den Foren wurde gezankt, die anschließende Abstimmung ergab: Das Kreuz bleibt. Gegangen sind dafür wieder ein paar Autoren.

Noch tut das dem Gesamtprojekt keinen spürbaren Abbruch. 7000 aktive Mitstreiter vermeldet der Förderverein Wikimedia Deutschland aktuell, knapp tausend davon bezeichnet der Verein als „sehr aktiv“. Der Artikelbestand wächst immer noch kontinuierlich, allein in der deutschen Wikipedia-Version kommen zu den vorhandenen 1,1 Millionen Artikeln täglich rund 400 neue hinzu.

Vor Konkurrenz muss sich das Projekt ebenfalls nicht fürchten. Binnen weniger Jahre haben Traditionsmarken wie der Brockhaus oder die Encyclopaedia Britannica den Anschluss ans digitale Zeitalter verpasst. Deren Printausgaben kämpfen ums Überleben, frei zugängliche Onlineportale haben beide Redaktionen nicht. Wikipedia gehört derweil zu den zehn meistgeklickten Websites weltweit, neben Google, Youtube oder Amazon.

Trotzdem ist das Projekt hybrider und gefährdeter, als es von außen erscheint. Martin Rulsch kann ein langes Lied davon singen. Seine Tage verbringt der Student aus Kaulsdorf hauptsächlich mit Saubermachen. Hunderte Verwüstungsversuche finden täglich in dem Lexikon statt, alle müssen mit einem Klick wieder „zurückgesetzt“ werden. Zwei Bildschirme stehen dazu auf Rulschs Schreibtisch, einer davon fungiert nur als Wikipedia-Ticker. Gerade hat jemand das Wort „muschipilz“ in den Artikel „Elternzeit“ eingefügt, und da blinkt es schon in einer anderen Liste: Ein Nutzer hat sich unter dem Namen „Max Schmidt ist ein Schwein“ angemeldet. Auch das ist inakzeptabel.

Rund hundert Vandalismusjäger gibt es aktuell in der deutschen Wikipedia, etwa zehn davon säubern quasi in Vollzeit. „Natürlich ist ein Suchtfaktor dabei“, gibt der 23-Jährige unumwunden zu, etliche Wikipedianer würden an der „Edit-countitis“ leiden, also dem Bestreben, möglichst viele Bearbeitungen zu schaffen. „Monoton“ findet er sein Hobby trotzdem manchmal, auch wenn es sinnvoll ist, „den Unsinn rauszuhalten“.

Der Unsinn ist nicht das einzige Problem. Den nimmermüden Zerstörern steht eine ebenso aktive Horde Selbstdarsteller gegenüber. Zum Beispiel Feuerwehrleute: Als gemeinnützige Vereine seien sie lexikalisch relevant, befanden die Freiwilligen Feuerwehren – und ihre selbstgeschriebenen Artikel zu Geschichte, Ausstattung und dem Fuhrpark einzelner Dorffeuerwehren wurden länger und länger.

Wikipedia will aber weder eine Bühne für Lokalpatrioten noch für tendenziöse Firmenprofile oder anzügliche Promigerüchte sein. Deshalb haben die Wikipedianer einen mittlerweile 28-seitigen Katalog mit Relevanzkriterien erarbeitet. Er dient dem Zweck, einen Zaun der Bedeutsamkeit um das gemeinsame Werk zu ziehen. Haarklein ist hier aufgelistet, wer alles rein darf. Die Freiwilligen Feuerwehren gehören nicht mehr dazu, genauso wenig wie book-on-demand-Autoren oder Köche ohne Stern.

Dass diese Einschränkungen einige bereits von „Zensur!“ sprechen lassen, nimmt Sebastian Moleski, seit 2008 Vorsitzender von Wikimedia Deutschland, gelassen. Lexikalischer Eifer beginnt meistens „vor der eigenen Haustür“, bei der eigenen Person, der eigenen Gemeinde, dem Hobby, dem Studienfach. Für Wikipedia heißt das: Was vielen nah ist, ist auch lexikalisch gut abgedeckt. An den Rändern werden die Wissensbestände merklich dünner. So bringt es die „Geschichte Berlins“ auf einen 22 Seiten langen Eintrag. Die „Chinesische Geschichte“ ist genauso lang.

Ein weiteres Merkmal: „Rund dreißig Prozent aller Einträge sind biografische Artikel.“ Faktisch jeder, der in Deutschland mal auf einem Bildschirm auftauchte oder ein Bürgermeisteramt bekleidete, steht drin. Der eigene Wikipedia-Eintrag gehört in vielen Berufszweigen längst zum festen Marketing-Tool.

Für die community heißt das umgekehrt: Sie muss mehrere hundert Löschverfahren am Tag bewältigen. Herren über die Löschtaste und die Sperrung von Störern sind die etwa 300 von treuen Nutzern gewählten Administratoren. Über ihnen rangieren noch eine Handvoll „Stewarts“. Am unteren Ende der Leiter befinden sich die „IPs“, die unangemeldeten Nutzer. Sie dürfen zwar mitschreiben, kommentieren und ändern. Aber ihre Bearbeitungen werden seit 2008 gegengeprüft – und erst dann freigeschaltet.

So sind die Befugnisse des Schwarms durch die zunehmende Hierarchisierung bereits deutlich eingeschränkt. Im „Kompass 2020“, dem Wikipedia-Credo von Wikimedia Deutschland heißt es zwar „Die Community steht jedem offen, der daran teilhaben kann und möchte“, doch das stimmt nur noch teilweise. Mit Wettbewerben und Stipendien fischt der Förderverein längst gezielt nach geeignetem Nachwuchs. Aktuell sind Fördergelder von bis zu 5000 Euro ausgeschrieben. Auch langjährige Mitarbeiter wie Martin Rulsch erhalten schon mal ein Literaturstipendium. Das verschaffte dem Altphilologiestudenten kürzlich die Möglichkeit, an seinem Forschungsprojekt, dem Artikel zur griechischen Mythenfigur „Laokoon“, weiterzuarbeiten.

Solche Bemühungen werden allein nicht genügen, um Wikipedia langfristig zu dem zu machen, was Visionären wie Sebastian Moleski vorschwebt: „Wir wollen jedem Menschen Zugang zum gesammelten Wissen der Menschheit ermöglichen“, sagt der 29-jährige Volkswirt. Dazu gehören die Breite des Themenspektrums, die Qualität der Einträge und vor allem die Tiefe. Der Nutzer soll in den Ozean des Weltwissens hinabtauchen können. Den Weg weisen Links, Bilder, Literaturlisten und Originaldokumente.

Das ist der Traum. Er führt nur über die Kooperation mit Wissensinstitutionen. Eine Zusammenarbeit mit Professoren, zum Beispiel im Rahmen eines Review-Programms, kann sich Moleski gut vorstellen. Andere Allianzen hat Wikimedia bereits geschmiedet: 2008 übergab das Bundesarchiv 100 000 Bildmotive an den Verein, 2009 kamen 250 000 Bilddateien aus der Fotothek der Sächsischen Landesbibliothek hinzu. Erst kürzlich endete eine Kooperation mit einem Forscherteam, das 557 Stichworte zum Thema Erneuerbare Energien überarbeitete. Das Geld kam vom Verbraucherschutzministerium. Bei seinen Finanzierungsstrategien muss Wikipedia mehrgleisig fahren. Da die Inhalte gratis zur Verfügung stehen und nicht von Werbung flankiert werden, die Server in Florida und Amsterdam aber dennoch bezahlt werden müssen, ist das Projekt auf Spenden angewiesen.

Einer der großzügigsten Geldgeber dieses Jahres war Google. Zwei Millionen Dollar nahm Wikipedia-Gründer Jimmy Wales im Januar dankend in Empfang. Die community verfolgt solche Transaktionen verhalten. Groß, sagt Rulsch, sei die Angst vor „Kuhhandel“, also Geld gegen Mitbestimmung. Wikipedia, so die Basis, muss um jeden Preis unabhängig und unbestechlich bleiben.

Unerbittlich natürlich auch. Wie der vorbildliche Mitstreiter „Leider“: Er korrigierte mal in einer Gewaltaktion alle ‚nahe des’. Jetzt wird auch „Leider“ vermisst. Und der falsche Genitiv ist wieder auf dem Vormarsch. Und weit und breit keiner, der Wikipedia von ihm säubert.

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