Hitlers Tag der Arbeit: Die Mai-Ergreifung
Ein raffinierter Coup: Für Jahrzehnte war der 1. Mai Kampftag der Arbeiter – 1933 wird er zum Nazi-Feiertag. Tags darauf beginnt die Zerschlagung der Gewerkschaften. Aus unserem Archiv.
Montag, der 1. Mai 1933 versprach für Berlin ein schöner Tag zu werden. Joseph Goebbels notierte zufrieden in seinem Tagebuch: „Gestern drohte noch Regen, heute strahlt die Sonne. Richtiges Hitlerwetter! Nun wird alles zum Besten verlaufen.“ Goebbels stand seit wenigen Wochen an der Spitze des neu geschaffenen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und war zuständig für die Inszenierung von Großereignissen.
Das galt für die Reichsparteitage, aber auch für Erntedankfeste, den jährlichen Gedenkmarsch am 9. November und andere Massenaufmärsche, ganz besonders aber für den 1. Mai, der in der Vergangenheit der „Kampftag der Arbeiterklasse“ gewesen war. Wollten die Nationalsozialisten den nunmehr von ihnen beherrschten Staat als Volksgemeinschaft erscheinen lassen, in der Klassengegensätze angeblich der Vergangenheit angehörten, dann kam den Arbeitern eine zentrale Bedeutung zu.
Bis zuletzt hatte die NSDAP in der Arbeiterschaft, die nach wie vor die größte Bevölkerungsgruppe stellte, nur unterdurchschnittliche Zustimmung gefunden. Noch bei den letzten halbwegs freien Reichstagswahlen am 5. März 1933, als Hitler bereits Reichskanzler war, erreichte die NSDAP in Berlin 31,3 Prozent der Stimmen, während die SPD auf 22,5 und die KPD auf 30,1 Prozent kam, so dass die beiden Arbeiterparteien elf Abgeordnete in den Reichstag entsandten, die Nationalsozialisten dagegen nur sechs.
Wer am 1. Mai mit einer roten Krawatte erschien, riskierte seinen Job
Der 1. Mai hatte eine lange Tradition. Als am 14. Juli 1889 die Vertreter der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften aus zahlreichen Ländern in Paris zusammenkamen, um den 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille zu feiern, übernahmen sie eine Idee des amerikanischen Arbeiterbundes. Der hatte im Kampf um den Achtstundentag am 1. Mai 1886 erstmals einen großen Streik organisiert. In Deutschland war gerade erst das gegen die SPD gerichtete Sozialistengesetz ausgelaufen und die Unternehmer drohten Arbeitern, die der Arbeit fernblieben, mit Aussperrung, Entlassung und schwarzen Listen. Um die Obrigkeit nicht zu provozieren, wurden deshalb die Maifeiern zum Teil auf den ersten Sonntag im Mai verlegt. Auch in folgenden Jahren blieb das Datum umkämpft. Selbst wer am 1. Mai mit einer roten Krawatte zur Arbeit erschien, musste mit Entlassung rechnen.
In Deutschland wurde der 1. Mai 1919 zum ersten und vorerst letzten Mal Feiertag. Arbeiter, die dem Aufruf zu den Kundgebungen folgen wollten, mussten auch in der Weimarer Republik entweder freinehmen oder auf ihren Lohn für diesen Tag verzichten. In den letzten Jahren der ersten deutschen Demokratie wurden die Demonstrationen am 1. Mai zusätzlich von der politischen Feindschaft der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD überschattet. Einen traurigen Höhepunkt erreichten diese Auseinandersetzungen 1929 in Berlin beim sogenannten „Blutmai“, als bei Konfrontationen mit der sozialdemokratisch geführten Polizei mehr als 30 kommunistische Demonstranten starben. In den letzten Jahren der Weimarer Republik riefen SPD und KPD zu getrennten Demonstrationen am 1. Mai auf.
Adolf Hitler hatte den Deutschen jahrelang eingehämmert, ihre soziale Not sei ein Resultat ihrer politischen Zerrissenheit. Hier sah er eine ideale Gelegenheit, in der Rolle desjenigen aufzutreten, der als Kanzler einer „nationalen Regierung“ das Land zu einen versprach. Am 10. April 1933 wurde ein Gesetz verabschiedet, das den 1. Mai zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ machte. Das war sehr geschickt: Was Sozialdemokraten und Gewerkschaften jahrzehntelang nicht gelungen war, setzte Hitler mit einem Federstrich um und entwand der Arbeiterbewegung zugleich ihren Tag, indem er ihm einen völlig anderen Sinn gab.
1933 führten nicht die Gewerkschaften Regie, sondern Joseph Goebbel
Immerhin war 1933 noch von Arbeit in Zusammenhang mit dem neuen Feiertag die Rede. Nur ein Jahr später legte ein neues „Gesetz über die Feiertage“ in Paragraf 1 fest: „Der nationale Feiertag des deutschen Volkes ist der 1. Mai.“ Nunmehr war die Deutungshoheit über den „Kampftag der Arbeiterklasse“ endgültig auf den nationalsozialistischen Staat übergegangen.
Am 1. Mai 1933 führten nicht die Gewerkschaften Regie, sondern Joseph Goebbels. Lange Zeit, so hieß es im Festtagsprogramm des Propagandaministeriums, habe der Marxismus den Tag für „volkszerstörende Klassenkampfhetze“ missbraucht. Jetzt gehe es darum, „die Millionenarmee der Soldaten der Arbeit so zu ehren, wie sie und ihr schweres Werk es verdienen“. Die Arbeiter waren nicht länger Subjekte sozialpolitischer Forderungen, sie wurden vielmehr von der Nation als Soldaten der Arbeit in die Pflicht genommen.
Ganz Berlin wurde mit Fahnen, Girlanden und Transparenten geschmückt. „Wir wollen gemeinsam arbeiten und aufbauen“, hieß es auf einem Transparent über der Friedrichstraße. Schon früh am Morgen marschierten Formationen von Jugendlichen aus allen Bezirken zum Lustgarten im Zentrum. Dort begann um 9 Uhr die „gewaltigste Jugendkundgebung, die Berlin je gesehen hat“, wie es in einer zeitgenössischen Darstellung hieß. 1200 Sänger wurden aufgeboten, um „Deutschland, du mein Vaterland“ zu singen. Goebbels sprach zu hunderttausenden Jugendlichen.
Währenddessen erreichte der Wagen mit Hitler und Hindenburg die Kundgebung. Der Reichskanzler wollte dem Reichspräsidenten die Begeisterung der Jugend für den neuen deutschen Staat vor Augen führen. Hindenburg war der Repräsentant einer vergangenen Epoche, dessen großes Ansehen sich Hitler erneut zunutze machen wollte.
Albert Speer inszenierte großes Spektakel
Doch die Veranstaltung im Lustgarten war nur das Vorspiel zum eigentlichen Spektakel: der nächtlichen Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld. Gegen Mittag trafen nach und nach Delegationen aus allen deutschen Ländern in Tempelhof ein. Die Berliner Arbeiter hatten am Morgen in ihren Betrieben antreten müssen. Danach marschierten sie in zehn riesigen Marschsäulen, die aus Kolonnen von je 50 000 Mann bestanden, in einem Sternmarsch zum Flughafengelände. Mehr als eine Million „Arbeiter der Stirn und der Faust“ nahmen dort in zehn großen Blöcken Aufstellung. Individuelle Besucher waren zugelassen, mussten aber zwei Mark Eintritt bezahlen, was bei einem Monatslohn von 100 oder 150 Mark nicht gerade wenig war. Am Nachmittag traten Arbeiterdichter auf. Anschließend gab es eine Flugschau, bei der auch das Luftschiff „Graf Zeppelin“, ein „Wahrzeichen deutscher Arbeit“, zu sehen war.
Eine große Tribüne mit vorgeschobener Kanzel für den Redner war aufgebaut worden, darüber sechs gigantische Hakenkreuzfahnen, aber auch drei schwarz-weiß-rote Fahnen. Sie standen für die Tradition des deutschen Kaiserreiches und zugleich für die Ablehnung der Weimarer Demokratie. Deren Fahne war schwarz-rot-gold gewesen. Der ganze Platz war gesäumt von einem Meer Flaggen und Standarten, starke Scheinwerfer tauchten sie bei Einbruch der Dunkelheit ins Licht.
Die Inszenierung ging auf einen Entwurf von Albert Speer zurück. Der hielt sich damals in Berlin auf, weil er von Goebbels den Auftrag bekommen hatte, das Leopold-Palais am Wilhelmplatz zum Propagandaministerium umzubauen. Als Speer die vorliegenden Entwürfe der Berliner Stadtverwaltung für die Maikundgebung zu sehen bekam, erklärte er: „Das sieht aus wie die Dekoration zu einem Schützenfest.“ Speer erdachte etwas ganz Neues. Dabei ging er auch ein Risiko ein, denn bei starkem Wind hätten die überdimensionalen Hakenkreuzfahnen, die größten waren 20 Meter hoch, sich wie Segel aufgebläht und die Masten wären womöglich abgebrochen. Die Sache ging gut aus, Hitler und Goebbels waren begeistert. Speer hatte einen ersten Karriereschritt auf dem Weg zum Stararchitekten der nationalsozialistischen Monumentalarchitektur geschafft.
Die Nationalsozialisten versprachen, das Volk zu einen
Der Höhepunkt der Maifeier kam am Abend. Adolf Hitler hielt seine Rede vor den versammelten Massen: „Das Symbol des Klassenkampfes, des ewigen Streites und Haders wandelt sich nun wieder zum Symbol der großen Einigung und Erhebung der Nation.“ Hitlers zentrale Botschaft lautete: „Deutsches Volk, du bist stark, wenn du eins wirst.“ Damit sprach er auch viele an, die der nationalsozialistischen Bewegung skeptisch gegenüberstanden. Der erste Versuch einer Demokratie auf deutschem Boden, unter den ungünstigen Bedingungen eines verlorenen Krieges gestartet, war kein strahlender Erfolg gewesen. Eine Vielzahl von politischen Parteien hatte sich erbittert, oft genug blutig bekämpft. Die Nationalsozialisten versprachen, diese inneren Gegensätze zu überwinden und das Volk zu einen. Ihr „nationaler Sozialismus“ sollte das Völkische mit dem Sozialen versöhnen.
Auf dem Tempelhofer Feld rief Hitler den angetretenen Arbeitern zu, man könne den schönsten Frühlingstag des Jahres nicht als Symbol des Kampfes wählen, „sondern nur zu dem einer aufbauenden Arbeit, nicht zum Zeichen der Zersetzung und damit des Verfalls, sondern nur zu dem der völkischen Verbundenheit und damit des Emporstiegs“. Es war dies die Ideologie einer Volksgemeinschaft nationalsozialistischer Couleur: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Der Einzelne und seine Bedürfnisse zählten nicht, seine Bedeutung bestand darin, Glied einer großen Gemeinschaft zu sein.
Diese Volksgemeinschaft war exklusiv. Wer zu ihr gehörte und wer nicht, wurde vom Nationalsozialismus nach rassistischen Prinzipien definiert. Deshalb kämpfte man einerseits um die „Heimholung“ von Saarländern und Österreichern, grenzte andererseits brutal die jüdischen Mitbürger als „Schädlinge am deutschen Volkskörper“ aus.
In seiner Rede verkündete Hitler ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm
Der Nationalsozialismus war ein äußerst aggressiver völkischer Nationalismus, der sich zugleich einer sozialen Rhetorik bediente, die eine der Erklärungen für seine Massenwirksamkeit war. Die Übernahme des 1. Mai ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Bratwürste, Bier, Flugschau und Feuerwerk sollten den Arbeitern demonstrieren, dass die neue Regierung ein Herz für die kleinen Leute hatte. Nicht was einer tue, sei wichtig, sondern wie er es tue.
Dieser Egalitarismus der Pflicht, dem 18. Jahrhundert entwachsen, war Ausdruck jener antiliberalen und antiwestlichen deutschen Tradition, die im Nationalsozialismus ihren radikalsten Ausdruck fand. Im zweiten Teil seiner Rede verkündete Hitler ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm. Der noch heute populärste Teil dieses Programms war der Bau der Reichsautobahnen, wobei häufig übersehen wird, dass dafür ein gewaltiger Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Die Arbeiter wurden gezwungen, dort zu arbeiten, die Arbeitslöhne, die für den Autobahnbau bezahlt wurden, lagen weit unter den Sozialhilfesätzen. Viele konnten nun ihre Familien nicht mehr ernähren. Wer sich weigerte, wurde ins KZ gesteckt.
Die zentrale Berliner Maifeier endete kurz vor Mitternacht mit einem Feuerwerk und dem Abspielen der Nationalhymne. Die „Berliner Morgenpost“ meldete anderntags stolz, dies sei die „größte Kundgebung aller Zeiten“ gewesen. Der französische Botschafter André François-Poncet notierte: „Ja, es ist wirklich ein schönes, ein wundervolles Fest!“
"Lass das Hakenkreuz mit Gewalt auf die Dächer setzen"
Am nächsten Morgen lernten die Deutschen die andere Seite der Medaille kennen. Am 2. Mai fuhren gegen 10 Uhr Rollkommandos der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation und der SA im ganzen Land vor den Gewerkschaftshäusern vor. Zuvor hatte die Führung des sozialdemokratisch orientierten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) noch ihr Heil in einer opportunistischen Wendung gesucht. Theodor Leipart, seit 1921 Vorsitzender des ADGB, hatte schon im Oktober 1932 erklärt, die Gewerkschaften seien nicht länger bereit, „Parteifesseln zu tragen“. Im Frühjahr 1933 wollte man sich „in den Dienst des neuen Staates stellen“.
Zunächst überließ der ADGB es seinen Mitgliedern, ob sie an der nationalsozialistischen Maifeier teilnehmen wollten, doch am 19. April entschied sich der Bundesausschuss für die Teilnahmepflicht aller Gewerkschaftsmitglieder. Der SPD-Vorsitzende Otto Wels hatte Leipart aufgefordert: „Lass doch lieber das Hakenkreuz mit Gewalt auf die Dächer setzen, ehe du freiwillig die schwarz-weiß-rote Fahne hisst.“ Leipart aber war ein gebrochener Mann, der für Widerstand keine Kraft mehr hatte. An Generalstreik war angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen nicht zu denken.
Die Funktionäre des ADGB kamen in sogenannte Schutzhaft, ebenso die Direktoren der Gewerkschaftsbank und die Redakteure der Gewerkschaftspresse. Die Millionen einfachen Mitglieder wurden zwangsweise eingegliedert in die am 10. Mai gegründete Deutsche Arbeitsfront (DAF). Die DAF vereinigte alle schaffenden Deutschen, Arbeiter, Angestellte und Unternehmer, und erreichte 1941 eine Mitgliederzahl von 25 Millionen.
Am 1. Mai 1934 feierten nur noch „Volksgenossen“
Entsprechend der Ideologie von der Volksgemeinschaft führte die DAF keine Tarifverhandlungen. Die Löhne wurden vielmehr von „Treuhändern der Arbeit“ festgesetzt. Die Unternehmer waren nun „Betriebsführer“, Arbeiter und Angestellte wurden zur „Gefolgschaft“. Gemeinsam sollten sie eine „Betriebsgemeinschaft“ bilden, für die das angeblich auf germanischer Tradition fußende Verhältnis zwischen Führer und Gefolgschaft gelten sollte: „Ein deutschrechtliches Treueverhältnis ersetzt den jüdischen materialistischen Kampf um den Profitanteil.“
Im zweiten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft war dann am 1. Mai von Arbeitern gar nicht mehr die Rede, nur noch von „Volksgenossen“. Und so blieb es bis zum bitteren Ende. Am 1. Mai 1945 verbreitete der Rundfunk: „Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist.“ Tatsächlich hatte Hitler sich schon am Vortag das Leben genommen.
Ernst Piper