Transparente Mode: Haben wir nichts mehr zu verbergen?
Intime Einblicke auf der Straße: Handtaschen, Socken, Hüte und sogar Stiefel sind jetzt durchsichtig. Was es mit dem Plastik-Look auf sich hat.
Ziemlich durchschaubar, was das Modelabel „Topshop“ da abzieht: Es verkauft eine Hose komplett aus Plastik, 100 Prozent Polyurethan, gerader Beinschnitt, Empfehlung für drunter: Hotpants oder Bikinihöschen. „Geh nach Hause, Topshop, du bist besoffen“, kommentierte jemand im Internet, andere fragten, wie man für zwei Plastikflaschen an den Beinen 76 Euro verlangen könne.
Die „Jeans mit Folieneinsatz“ ist nicht nur für einen dieser Tage gedacht, an denen man sich mal wieder schwer entscheiden kann, ob man heute Bein zeigen will oder eher nicht. Sie ist der Gipfel eines Modetrends – Transparenz.
Auf den Prêt-à-porter-Schauen der letzten Jahre präsentierten Chanel, Valentino und Isabel Marant bereits durchlässige Materialien, ihre Models wirkten wie Science-Fiction-Romanen entstiegen, trugen Stilettos mit transparenten Blockabsätzen, Handschuhe und Hüte zum Hindurchschauen. Nun hocken auch in der U-Bahn Girls in Leggings, die von durchsichtigen Flächen durchbrochen werden, im Kino hat die Sitznachbarin dann doch keine Bärchen auf die Knöchel tätowiert, es sind nur ihre transparenten Socken mit Aufdruck.
Ganz Berlin-Mitte ist ein einziger Plexiglas-Brillenladen (in Puder- und Pastelltönen, mit garantiert viel Durchblick). Die Schauspielerin Aylin Tezel trug vergangene Woche auf dem roten Teppich eine blassschwarze Trussardi-Bluse, die die Blicke vor allem auf ihren kräftig durchscheinenden schwarzen BH lenkte, und neulich auf der Party glänzte eine Frau in transparenten Overknee-Stiefeln. Die Pediküre kam hervorragend zur Geltung, die Schweißperlen und vom Tanzen geröteten Druckstellen nach ein paar Stunden allerdings auch. Was soll das?
Verhüllung ist aufregend
These eins: Der Winter dauerte mal wieder zu lang (ein Satz, den Berliner jedes Jahr gebrauchen können). In welchem Farbton die eigene Haut schimmert, und wo am Knie sich das Muttermal genau befindet, hat man vor lauter Funktionswäsche, Wollsocken und Daunenjacken vergessen. Die Sonne zeigt sich nicht, vielleicht lässt sie sich von ein wenig Haut anlocken. Es ist noch zu windig fürs Sommerkleid, aber mit dem Regencape im Twiggy-Look drüber fühlt es sich fast nach Eisschlecken und Barfußlaufen an. Eigentlich gar nicht sehr anders als die Idee der Seidenstrumpfhose, die den Lieblingsrock wintertauglich macht. Blickfrei statt blickdicht wurde irgendwann so schick, dass sich die Frauen nach dem Krieg in Ermangelung von Nylon schwarze Nähte hinten auf die Beine malten.
Denn, zweite These, Verhüllung ist aufregend, Christo hat das längst erkannt. Weiß doch jeder, dass verpackt viel erotischer ist als plumpes, nacktes Fleisch. Was nur angedeutet wird, stimuliert die Fantasie. Ist da womöglich viel mehr Busen? Blitzt da eventuell ein Nippel unter der Spitze hervor? Man sieht es kaum, die Bluse schimmert so. Nach dem passenden BH für jedes Oberteil müssen die Trägerinnen jedenfalls nicht mehr suchen.
Parallel zum Transparenz-Look sind derzeit auch wieder zerrissene Jeans zu beobachten. Allerdings nicht zufällig zerstört, wie beim Punk üblich, sondern akkurat destroyed, und drunter Netzstrumpfhosen mit extragroßen Maschen. Röcke haben wieder Schlitze, das bauchfreie 90er-Top ist zurück – ein Ausschnitt von Haut, der ganz unschuldig den Nabel freilegt. Und Knöchel zwischen Hosenbein und Sneakers haben ohnehin längst das Dekolleté ersetzt.
Alles ist gläsern, wir selbst auch
Natürlich war diese Dessouisierung des Alltags bereits mal genauso da, ist nur ein Revival, wie jeder Modetrend. Mit durchsichtigen Organzablusen hat Yves Saint Laurent schon in den 60er Jahren Laufstege bewegt. Ein wenig erinnern die neuen Plastikmäntel an die Loveparade: Techno, Drogen, gute Laune. Und angenehm abwaschbar. Die neuen Klamotten sind die Umkehr des „Jute statt Plastik“-Slogans. Plastik statt Leder, garantiert vegan. Aber auch umweltfreundlich und recycelbar?
Dritte These: Alles ist gläsern, warum nicht auch wir selbst? Staaten errichten gläserne Parlamentsgebäude oder Polizeipräsidien, um zu unterstreichen, wie demokratisch, offen und durchlässig sie sind. Das Label Helmut Lang zeigt auf dem Laufsteg eine komplett durchsichtige Aktentasche.
Man kann diese Mode auch als Entgegnung auf den Vorwurf sehen, die junge Generation würde ihr Leben leichtsinnig im Netz ausbreiten. Die neuen Sichtfenster am Körper werden nicht nur geometrisch, sondern auch kontrolliert eingesetzt: Ich entscheide, was du siehst und wie nah du mir kommst. Ich kuratiere deinen Einblick. Ich habe nichts zu verbergen, und das können alle sehen.
In den USA wurden Schüler unfreiwillig Teil dieser Bewegung: Um leichter überprüfen zu können, ob sie Waffen ins Gebäude schmuggeln, wurden See-through-Rucksäcke mancherorts Pflicht. Man kennt das aus der Bibliothek, wo sie mit Plastiktüten Bücherklau verhindern wollen.
Das Private ist vor allem fotogen
Längst hat sich der Fashiontrend ausgeweitet. Die französische Firma Woodoo hat kürzlich lichtdurchlässiges Holz vorgestellt, das in der Baubranche eingesetzt werden soll. Ein Glashaus aus Holz ist in Planung. Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Bauhaus-Künstler Wilhelm Wagenfeld eine feuerfeste Teekanne entwarf, verband man transparente Materialien mit Fortschritt, Zeitersparnis und Hygiene. Später sollten Möbel aus Acrylglas Leichtigkeit vermitteln und waren die Abkehr vom Gelsenkirchener Barock des Elternwohnzimmers.
Die Plastikumhüllung, These vier, adelt noch das schnödeste Outfit. Wie auch ein Bild, kaum packt man es hinter Glas, gleich nach Kunst aussieht, wirkt das H&M-Shirt unterm Plastikcape besonders. Denn in den sozialen Netzwerken wird das Private nicht nur öffentlich, sondern vor allem fotogen. Die Handtasche (in der nun alles aufgeräumt ist, keine Krümel mehr, keine Tabakflusen) wird zum Schaukasten wie im Museum: dahinter das wertvolle iPhone X, der neue M.A.C.-Eyeliner und die Brieftasche von Michael Kors. Die Bloggerin Leandra Medine postete Fotos ihrer transparenten Tasche, inklusive Orbit-Kaugummis, wie zum Beweis ihrer Bodenständigkeit.
Und dann lässt sich das alles auch noch ganz positiv verstehen, als Metapher: Leute, es geht um die inneren Werte. Schaut unter die Oberfläche! Unsere Kleidung ist nur eine Hülle, die wir ausfüllen. Unser Regenmantel nur ein Schatten von uns, sichtbar erst, wenn wir ihn wahrnehmen möchten.
Bleibt die wichtigste Frage, die das Label Topshop unbeantwortet ließ. Nämlich, ob seine Kreation in die Wasch- oder doch besser in die Spülmaschine zwischen Töpfe und Gabeln gehört.