Granny-Look: Ihr graut’s
Wenn die Pigmente schwinden, muss gefärbt werden. Das galt jahrzehntelang. Jetzt sind weiße Haare plötzlich schick. Richtig so!
Die Welt sieht grau, und das liegt nicht an der Jahreszeit. Man muss sich nur umschauen. Junge Frauen färben sich den Scheitel „Granny Grey“, die Schauspielerin Lena Dunham macht Omafarben zum neuen Blond, und Sängerin Rihanna tönt ihre Locken Anthrazit. Sehr erwachsene Frauen tragen ihr graues Haar inzwischen mit souveräner Attitüde.
Man könnte darüber hinwegsehen und es für eine Bagatelle halten. Oder auch nicht.
Dann geht man zu Therese Vahlberg, einer jungen Friseurin in Berlin. Die nimmt die Sache durchaus ernst. Obwohl, wie sie sagt, der Graufärbetrend der Prominenten und Jungen schon wieder im Abschiednehmen begriffen sei. Sie sei froh, wie sich der Blick verändert habe. Bis vor Kurzem sei graues Haar noch ein Tabu gewesen, ein Grund, sich zu schämen.
Zum Haarefärben gehört mehr als Paste und Wasserstoffperoxid
Seit gut zwei Jahren arbeitet Therese Vahlberg bei dem international renommierten Koloristen Andreas Kurkowitz, der zwischen Berlin und seinem Londoner Studio pendelt. Das Friseurhandwerk hat sie in Stockholm gelernt. Im vergangenen Herbst ist sie 30 geworden, und niemand würde denken, dass sie etwas „gemacht“ hat mit ihrem mittelblonden Haar. „Doch, doch“, sagt sie. Etwas, das unter dem technischen Titel „Highlights“ läuft. Und das auf eine Therese Vahlbergs Ansprüchen genügende, also subtile und unaufdringliche Weise anzuwenden weit mehr verlangt als ein bisschen Paste und Wasserstoffperoxid.
In Stockholm ist Vahlberg durch ihr Talent für Farbe und Licht aufgefallen. Sie kann sich genau vorstellen, was geschehen wird, wenn sie diesen oder jenen Farbtupfer auf dieser oder jener Strähne platziert. Was also würde sie in diesem Fall vorschlagen? Nur mal angenommen, eine Ärztin der Berliner Charité hätte einem nicht geraten, aus Rücksicht auf die Gesundheit der eigenen Nieren das Färben und Tönen lieber vollständig sein zu lassen. Nicht, dass man gleich tot umfallen würde, doch harmlos sind die in Färbemitteln enthaltenen aromatischen Amine eben auch nicht. Also wie wäre es, wenn diese Moleküle im eigenen Leben keine Rolle mehr spielten?
Therese Vahlberg ist viel zu höflich, um es direkt zu sagen. Die Haare seien schön, formuliert sie, nicht allzu „ashy“, und sie selbst würde höchstens ein paar warme Töne dazugeben. Es klingt, als wolle sie nicht, dass man wehmütig werden muss über die verpasste Gelegenheit von ein bisschen Farbe.
Grau bedeutet das Verschwinden von Weiblichkeit
Nichts tun. Es zulassen, dass die Farbpigmente zur Neige gehen. Für Frauen gibt es wenig, das unmissverständlicher als Zeichen des Niedergangs gedeutet wird als das Haar, das ergraut.
Die Lektüre von Soziologen, Psychologen und Anthropologen beseitigt jeden Zweifel. Grau bedeutet dort das Verschwinden von und den Mangel an Weiblichkeit. Erotische Deklassierung. Symbolisch gesprochen haben die brünetten, die schwarzen, die blonden und roten Haare die komplette Schönheit für sich.
Diese Ausschließlichkeit wirkt manchmal fast schon komisch, beim französischen Sozialpsychologen Nicolas Guéguen etwa, der offenkundig von der manipulativen Kraft blonder Haare besessen ist. Zwischen 2009 und 2012 hat er mehrere Studien zum Komplex veröffentlicht. Untersucht wurde dabei der Einfluss der Haarfarbe auf Trinkgeldhöhen, Dating-Frequenz und die Bereitschaft der Männer, heruntergefallene Handschuhe aufzuheben.
Blond gewinnt, schreibt Guéguen, wobei er vorausschickt, dass frühere Studien gelegentlich zu anderen Einschätzungen kamen. Graue Haare jedoch tauchen in dieser wie in allen anderen Versuchsanordnungen überhaupt nicht auf. Selbst eine 2009 als Dissertation vorgelegte Kulturgeschichte der Haarfarbe verzichtet auf eine nähere Betrachtung.
Entschuldigen könnte man das höchstens damit, dass graue Haare tatsächlich keine Farbpigmente besitzen. Dass sie also streng genommen keine Farbe haben. In Wirklichkeit zählen sie einfach nicht auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, haben nichts, was den Herren der Kulturgeschichte plausibel machte, eine Frau jenseits der Kolorierung könnte an einem Freitagabend zuerst zum Abendessen und anschließend in ein Schlafzimmer eingeladen sein.
Färbestopp: eine Geste des Ungehorsams
Mit der größtmöglichen Schärfe hat einst Susan Sontag über diese Abwehr geschrieben. Über den doppelten Standard des Alterns, so der Name ihres Essays, der willkürlich Unterschiede zwischen Frauen und Männern macht. Frauen werden fürs Altern bestraft. Die Dame in Grau erfährt den Widerwillen, ja den „Ekel“ ihrer Zeitgenossen, und die Frage „Wie alt sind Sie eigentlich?“ provoziert Demütigung.
Sontag riet deshalb dringend, über die Zahl der Jahre nicht (!) zu lügen. Sich nicht zu verstecken, die eigenen Stärken nicht klein zu reden. Sie riet außerdem, Kleider zu tragen, die Taschen haben. Man ist beweglicher und schneller, ohne eine Last auf den Schultern. Ihre Haare färbte Sontag dunkel, ließ jedoch eine flammende weiße Strähne frei. „Wie Djagilew“, hat die Essayistin Joan Acocella einst bemerkt. Also wie jener legendäre Gründer und Impresario des Ballets Russes, der seinen Freunden schrieb, die Leute hätten sich am Rande eines Boulevard in Paris auf Stühle gestellt, um ihn Arm in Arm mit Oscar Wilde flanieren zu sehen.
Grau kann sich also zur exzentrischen Geste des Ungehorsams wandeln. Zu einer feinen Spur des Eigensinns gegen den Deal des Patriarchats.
Soll sie – die Frau als solche – ihr Alter ruhig noch ein paar Jahre mit Kolorierungen zuklecksen. Irgendwann wird sie sich auch diese Mühe sparen können. Das war die Maßgabe. So war es abgesprochen mit dem Patriarchat. Kaum zu glauben. Wie weit das mittlerweile weg ist! Wie absurd es heute aussieht, sich dieser Depression und Platzanweisung noch zu fügen.
Machen graue Haare Frauen unsichtbar?
Ein stilgebendes Beispiel bietet Sophie Fontanel, eine in Frankreich und auf Instagram berühmte Stimme der Mode, die niemals ein Geheimnis aus ihrem Alter gemacht hat. Sie ist heute 54 und könnte Gefahr laufen, dass Leute sie im Vorübergehen auf 70 schätzen. „Sollen sie!“ In einem Interview auf Youtube zuckt die Journalistin und Schriftstellerin lachend mit den Schultern. Was ändert die Fehleinschätzung schon am eigenen Leben? In Wahrheit nichts.
2015 hat sie aufgehört zu färben. Seitdem hat das Silbergrau Zentimeter für Zentimeter von ihrem Schopf Besitz ergriffen. Ironischerweise liegt darin eine Rückkehr, denn die Geschichte ihrer Haare begann mit einer weißen Strähne.
12, 13 sei sie gewesen, und sie habe diese Strähne geliebt, sagt Fontanel in die Kamera. Später, mit 26, hat sie die Strähne koloriert. Sie sah damit jünger aus. Mit 26 ist das ein unwiderstehliches Angebot. Heute, mit 54, ist es das nicht mehr. Jedenfalls nicht unbedingt. Mögen die Sozialpsychologen sich noch so sehr darüber wundern.
Die Anzahl ihrer Follower, die Frequenz der Interviewwünsche steige seit dem Färbestopp, sagt Fontanel. Eine Freundin nehme es ihr jedoch übel und komme über die fehlende Kolorierung nicht hinweg. So, als habe sie aufgehört, sich täglich zu duschen und sei im Begriff, die Selbstachtung sinken zu lassen. Die Männer, befürchtet die Freundin, könnten durch sie hindurchsehen. Graue Haare machten unsichtbar. Ihr selbst fehle der Mut zu einem solchen Schritt.
Grau ist nicht länger ein Nichts, sondern eine Farbe
Das Wort Mut könnte man für maßlos übersteigert halten, wäre nicht klar, wie mächtig das Signal der Haare ist, wie eng mit dem Thema Weiblichkeit verflochten. Therese Vahlberg, die junge Koloristin in Berlin, bedauert, wie verzweifelt Frauen sich noch allzu oft gegen den an sich beiläufigen Vorgang des Ergrauens wehren. Welch schweren, traurig einheitlichen und dem individuellen Hauttyp völlig zuwiderlaufenden Anstrich sie sich zumuten.
Vahlberg würde diesen Frauen sagen, dass es nicht genügt, das Grau einfach los zu werden. Es sei das falsche Motiv, weil es am eigenen Körper nichts als Verarmung erkennt. Nicht selten schlägt sie vor, noch mehr Grau in die Haare zu tun, das eigene Grau durch geschickte Nuancierungen erstrahlen zu lassen.
Es ist der Blick, der in einem grauen Scheitel etwas anderes sehen kann als Abschied und Verlust, gegen den Therese Vahlberg anarbeitet. Ähnlich wie Sophie Fontanel, die sagt, dass „die Schönheit oft weit entfernt von den Bildern auftaucht, mit denen wir gelernt haben, sie zu identifizieren. Sie ist reicher, sehr viel komplexer, als wir glauben.“
Grau ist nicht länger ein Nichts, sondern eine Farbe. Ein mögliches Abenteuer. Es muss sich nicht verbergen und unterordnen. Muss sich nicht mehr an alte Absprachen halten. Grau passt zu weißen T-Shirts und schwarzem Samt, zu Jeansjacken und einem Kleid von Valentino.
Im Grunde zu allem. Nur nicht zur Angst vor dem eigenen Leben.
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