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Das Niemandsland des Grenzgebiets wird von vielen Iren als Müllhalde benutzt. Manchmal trifft man den ganzen Tag keine Menschenseele.
© Garrett Carr

Nordirland: Grüne Grenze: Warum die Iren wieder Angst haben

Eine unsichtbare Linie trennt Nordirland von der Republik. Nach dem Brexit endet hier Europa. Schriftsteller Garrett Carr hat sie durchdrungen.

Für die meisten Iren ist die Grenze zwischen der Republik und dem Norden ein abstrakter Ort – kein Ziel, an das man fährt. Die Bedeutung besteht eher in ihrer Rolle als Symbol, als großes Fragezeichen, erst recht jetzt mit dem Brexit: Was wird mit ihr passieren? Wird sie bleiben, wird sie verstärkt? Darauf kann einem derzeit niemand eine Antwort geben, schon gar keine einfache.

Daher habe ich beschlossen, mir die Grenze mal genau anzugucken – als Realität. Was gar nicht so leicht ist, man sieht sie ja nicht. Außer auf der Landkarte. Es gibt keine Mauern und Zäune, keine Kontrollpunkte und Wachtürme mehr, der letzte wurde 2007 abgerissen.

In den vergangenen 20 Jahren, dank des Karfreitagsabkommens (zwischen der Republik Irland, den nordirischen Parteien und Großbritannien, das die gewalttätige Phase des Nordirlandkonflikts beendete) sowie der Mitgliedschaft in der EU, haben wir ein prima Arrangement gefunden. Die vorher harte, bewaffnete Grenze ist so weich geworden, dass jene, die sie ablehnen, sie einfach ignorieren können, während sie für die anderen, die sie haben wollen, immer noch da ist. Im Moment ist es eine Grenze wie viele andere in Europa. Pendler fahren aus Nordirland in den Süden zum Arbeiten – oder umgekehrt –, schicken ihre Kinder auf der anderen Seite zur Schule.

Sie reißt nicht nur auseinander, sie verbindet auch

Die Grenze schlängelt sich in vielen Bögen durch die Landschaft, beim Laufen oder Fahren überschreitet man sie ständig, ohne es zu merken. Es gibt höchstens Indizien, um zu erkennen, in welchem Land man sich gerade befindet. Dazu gehören die Verkehrszeichen, im Norden weiß, im Süden gelb. Im Grenzgebiet sind viele Straßen allerdings so schmal, dass es gar keine Schilder gibt. Wobei sie das Tempolimit in der Republik Irland sehr ernst nehmen, selbst auf kleinen Wegen stehen entsprechende Schilder, und die Höchstgeschwindigkeit wird dort in Kilometern angegeben. Im Norden in Meilen. Oder das Handy macht Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich in einer anderen Gebührenzone befinden.

Auf meinen Wanderungen – zwei Monate war ich insgesamt unterwegs – habe ich das Grenzgebiet als etwas ganz Eigenes erlebt, nicht Nord, nicht Süd, etwas Drittes. Die Grenze ist etwas, was die Menschen verbindet. Die Bewohner auf beiden Seiten haben mehr miteinander gemeinsam als mit Leuten in Dublin oder Belfast. Eine Grenze trennt ja nicht nur, sie ist auch eine Art Treffpunkt.

Der Schriftsteller Garrett Carr, 42, in der Republik Irland aufgewachsen, lebt seit zwölf Jahren in Belfast.
Der Schriftsteller Garrett Carr, 42, in der Republik Irland aufgewachsen, lebt seit zwölf Jahren in Belfast.
© privat

Das erkennt man an all den informellen Verbindungen, das sind starke Symbole. Stufen, die über Hecken führen, Trittsteine, die Kinder in den Bach legen, um auf dem schnellsten Weg zu ihren Freunden zu kommen. Das Gefühl der Erleichterung ist hier sehr ausgeprägt, dass die Zeit der „Troubles“, wie die heiße Zeit des Nordirlandkonflikts genannt wird, vorbei ist. So wie nun die Angst, dass der Brexit den Frieden wieder bedrohen könnte.

Die Irlandfrage ist ja ein zentraler Knackpunkt bei den Verhandlungen mit der EU. Vor dem Referendum haben die britischen Medien uns einfach ignoriert, so getan, als ob der Ärmelkanal nach dem Austritt die einzige Grenze zwischen Großbritannien und der EU wäre. Das ist Quatsch, die einzige Landes-Außengrenze liegt hier, mitten in Irland. Das hatten die Leute nicht bedacht. Und wenn, wurden ihnen Geschichten aufgetischt, wie: Ach, wir brauchen keine harte Grenze, das können wir mithilfe von Kameras regeln. „Digitale Lösungen“ hieß das Schlagwort, von dem niemand wusste, was es bedeutet. Erst jetzt fragen die Leute nach. Wie funktioniert das denn genau? Und es stellt sich heraus, dass es nicht funktioniert.

Ich wollte andere Geschichten finden, über die Troubles hinaus

Ich bin die ganze Strecke, 300 Meilen (483 Kilometer), abgelaufen; nicht am Stück, sondern in kleineren Etappen, immer drei, vier Tage. Dann habe ich ein Buch darüber geschrieben. Der Schriftsteller Colm Tóibín hat das mal in den 80er Jahren gemacht, mitten in den Troubles. Aber Tóibín ist von Stadt zu Stadt gelaufen oder gefahren, um mit Menschen zu reden. So wie Journalisten, die Zeugen brauchen, Zitate. Es gibt eine besonders ausgelatschte Strecke in South Armagh, im Osten Nordirlands, wo die IRA extrem aktiv war. Da landeten die Reporter immer im selben Dorf, im selben Pub. Kaum saßen sie auf ihrem Hocker, schon kamen die immer selben zwielichtigen Gestalten mit Verbindungen zur IRA auf sie zu und fütterten sie mit ihrer Version der Geschichte.

Ich wollte aufs Land gehen und andere Geschichten finden, andere Perspektiven, einen anderen historischen Horizont, über die Troubles hinaus. Viele der britischen Wachtürme zum Beispiel wurden Mitte der 1980er Jahre auf den Ruinen alter Forts, auf Hügeln gebaut. Von dort oben kann man sehen, was in der Umgebung passiert. Und wird gesehen. Ein Statement der Macht – hier sind wir, und wir haben das Sagen –, das über Hunderte von Jahren eigentlich gleich geblieben ist. Das ist etwas, was mich besonders fasziniert hat. Wie erhebt man Anspruch auf eine Landschaft? Man kann ja nicht auf jeden Quadratzentimeter einen Soldaten stellen. Wie können 1000 Menschen 1000 Meilen kontrollieren? Durch die Wahrzeichen der Macht.

Weil die Berichterstattung sich so auf die Städte konzentriert, war ich überrascht, wie dünn besiedelt, wie einsam das Gebiet in weiten Teilen ist. Manchmal bin ich einen ganzen Tag gelaufen ohne jemandem zu begegnen. Wobei die Bauern eh nicht sonderlich gesprächig sind. Die Grenze ist ja nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich sehr abgelegen. Es gibt keine große Landwirtschaft, keine Industrie. Viele Menschen sind in den 1970er, 1980er Jahren weggezogen, haben Häuser und Höfe zurückgelassen, die jetzt leer herumstehen.

Viele fahren hin, um ihren Schrott loszuwerden

Trittsteine durch Flüsse findet man immer wieder.
Trittsteine durch Flüsse findet man immer wieder.
© Garrett Carr

Was es allerdings in großem Stil gibt, auf beiden Seiten der Grenze, das sind riesige, sterile Kiefernplantagen. Verschiedene Countys pflanzen die für Baumaterial oder die Papierproduktion. Die Bäume werden in akkuraten Reihen so nah aneinandergesetzt, dass es kaum Unterholz gibt, und dadurch auch kein Tierleben. Das Ganze hat mehr was von einer industrialisierten Landschaft, so wie ein riesiges Weizenfeld.

In einer der vielen einsamen Ecken habe ich ein Liebespaar im Auto erwischt. Wo die beiden parkten, steht ein Denkmal für einen Mann, der dort von Soldaten erschossen wurde. Das Grenzgebiet ist ein guter Ort, wenn du bei etwas nicht beobachtet werden willst. Viele fahren hin, um ihren Schrott loszuwerden. Psychologisch sehr passend, dass die Leute da ihren ungewollten Mist abladen, zum Teil ganze Lastwagen voll. An einem Fluss wurde vor Kurzem Irlands größte illegale Müllhalde entdeckt.

Die politische Grenze folgt oft der natürlichen, den Flüssen, Gräben, Hecken. Ein Großteil des Gebiets ist ja Farmland, und das Gehölz markiert das Ende eines Feldes. Nur sehen die Büsche zwischen den Staaten nicht anders aus als die zwischen zwei Höfen. Obwohl ich eine sehr detaillierte Karte dabeihatte, habe ich mich immer wieder verlaufen, bin einer falschen Einfriedung gefolgt.

Die Grenze wurde vor knapp 100 Jahren gezogen, 1920. Sechs der insgesamt 32 irischen Countys wurden damals einfach abgetrennt und bilden seitdem Nordirland. Ausschlaggebend waren die Mehrheiten für eine Union mit Großbritannien. Eigentlich hätte man die Linie nicht um die Landkreise herumziehen müssen, sondern durch sie hindurch. Im nordirischen County Down zum Beispiel ist der Süden eher katholisch, der Norden mehr protestantisch. Es war der Versuch, eine klare Linie zu ziehen, ohne es zu können. Ein Grund für die späteren Konflikte.

Die Landschaft hat etwas Trostloses

Im Westen der Republik Irland trifft man selbst in den abgelegensten Gegenden immer noch Rucksackreisende. Aber kaum jemand fährt als Tourist an die Grenze im Landesinneren. Dabei gibt es echt erstaunliche Ecken, die den Besuch wert sind. Zum Beispiel eindrucksvolle Gräber, Tausende von Jahren alt. Anderswo in Irland gäb’s da ein Infozentrum, kämen Busladungen voller Besucher. Allein die Lage, alle zusammengepackt auf einem Plateau – wunderschön! Jetzt fangen sie an, das zu entwickeln, Wanderwege anzulegen.

Losgelaufen bin ich am östlichen Ende, an der Bucht von Warrenpoint, gen Westen. Um dem Ganzen eine optimistische Richtung zu geben. Im Osten haben die Troubles besonders heftig gewütet, gerade mit dem Süden des Countys Armagh verbindet man viel Gewalt. Heute übrigens mit Schmuggelei; nun wird Heizöl über die Grenze geschafft, auf das man im Norden keine Steuern zahlt, im Süden dagegen 23 Prozent.

Die Grenze wurde vor knapp 100 Jahren gezogen. Sechs der insgesamt 32 irischen Countys bilden seitdem Nordirland.
Die Grenze wurde vor knapp 100 Jahren gezogen. Sechs der insgesamt 32 irischen Countys bilden seitdem Nordirland.
© Clodagh Kilcoyne/Reuters

Der Osten ist ziemlich hügelig, die Grenze verläuft meist durchs Tal, man ist beim Laufen abgeschnitten von der Umgebung. Die Landschaft hat für mich etwas ziemlich Bedrückendes, auch Trostloses, weil dort ganz besonders wenige Menschen leben. Diese kleinen, engen Täler wurden dazu genutzt, Leute in den Hinterhalt zu locken, sie zu überfallen. Nicht erst im 20., sondern schon im 16. Jahrhundert.

Im Osten bin ich abends zum Zelten immer aus den Tälern raus und auf einen Hügel gestiegen. Um am Ende des Tages irgendwo oben anzukommen und plötzlich meilenweit sehen zu können. Das hat meine Stimmung gehoben.

Richtung Westen liegt die Grenze höher, man durchquert offenes Land, es ist flach und der Himmel ganz weit. Die Felder dehnen sich aus, man bekommt mehr Luft, ja, ein größeres Freiheitsgefühl. Und genau das wollte ich vermitteln: diesen Übergang von einer bedrückenden Landschaft zu einer offenen. Der Westen Irlands ist traditionell eine Urlaubsgegend, viele haben dort Ferien gemacht, haben schöne Assoziationen. Die letzte Strecke, durch Loch Foyle, bin ich gepaddelt. Das Wetter war sehr gut, das Wasser glatt wie Glas. Perfekt. Man konnte das Ufer kaum vom See unterscheiden, ich sah überall Blau. Das hatte was sehr Magisches.

Eine bewaffnete Grenze stellt deine Identität infrage

Aufgewachsen bin ich in Donegal, im nordwestlichsten Zipfel der Republik, gleich an der Grenze zu Nordirland. Wir lebten auf demselben Breitengrad wie Belfast, dadurch erschien mir die nordirische Hauptstadt, in der ich seit zwölf Jahren lebe, schon immer als Alternative zu Dublin. Es gibt viele Dubliner, die in ihrem Leben nie in Donegal waren – während die Belfaster alle schon mal dort gewesen sind, es richtig romantisieren. Zur Zeit der Troubles sind die Menschen dorthin in die Ferien gefahren, die Gegend wird mit Frieden assoziiert. Donegal war der Fleck, an dem man für eine Weile entspannen konnte.

Als Kind bin ich mit meinem Vater oft über die Grenze gefahren. Das fand ich total aufregend und spannend. Der Checkpoint, die Soldaten – für mich hatte es was von einem Spiel. Für meinen Vater natürlich nicht, der war sehr angespannt, empfand die Grenzkontrolle als aggressiven Akt. Sobald wir uns dem Übergang näherten, verstummte er und packte das Lenkrad ganz fest. Er hat oft was geschmuggelt, Haushaltswaren, die im Norden weniger kosteten. Aber das war es nicht allein. So eine bewaffnete Grenze stellt ja deine Identität infrage. Du fragst dich, wer du bist, wohin du gehörst, musst dich entscheiden. Verdrängen geht nicht, weil da Leute mit Gewehren vor dir stehen.

Im Moment herrscht dort ein Gefühl der Angst, was die Zukunft angeht. Aber die Menschen haben schon so viele Krisen erlebt, dass sie nicht gleich in Panik geraten. Es ist natürlich auch eine Generationsfrage. Die Jüngeren haben viel mehr Zutrauen, dass es nicht so schlimm wird, es Checkpoints geben wird für Lastwagen, um deren Ladung zu prüfen, aber nicht für normale Autofahrer. Die Älteren fürchten sich mehr, weil sie die Zeit der Troubles erlebt haben. Sie wissen, wie schnell eine Situation außer Kontrolle geraten kann.

Der Schriftsteller Garrett Carr unterrichtet an der Queen’s University unterrichtet. 2017 erschien sein Buch „The Rule of the Land: Walking Ireland’s Border“.

- Protokolliert von Susanne Kippenberger.

Garret Carr

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